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Schon der Festivaltrailer von Cannes führt die Zuschauer
in den - siebten? - Himmel: Stufe für Stufe schwebt durch
blauen Raum, führt, mit rotem Teppich bedeckt, den
Zuschauer in die Höhe, bis man plötzlich - platsch - begreift,
dass man gerade eine Wasseroberfläche - vielleicht das Ufer
am Strand der Croisette - durchdringt, und dann, imaginär
nach Luft schnappend, eine sternennachtblaue Höhe erreicht
hat - wer das interpretieren will, bitte. Manchmal kann dieser
Himmel allerdings auch die Hölle sein - die der Kunst natürlich.
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Die Moral hat über die Kunst gesiegt, das Eindeutige,
Grelle, über Mehrdeutigkeit und Sensibilität, Pamphlet über
Atmosphäre, das Sendungsbewußtsein über die Skepsis: Michael
Moore heißt der große Sieger an der Croisette, Wong
Kar-wai der Verlierer. Und dennoch ist der größte Sieger
von allen das asiatische Kino.
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Mit der Goldenen Palme für Michael Moores FAHRENHEIT
9/11 hat die Jury um Quentin Tarantino bei den
Filmfestspielen von Cannes einen politischen, keinen künstlerischen
Preis vergeben. Das Kino der Welt stellt sich damit offen
gegen George W. Bush. Moore zeigt in seiner beklemmenden
Innenansicht der USA ein Land, das von einer Clique von Reichen
regiert wird, die über Leichen gehen, nicht zuletzt die ihrer
eigenen Landsleute, jener Soldaten aus den Armenvierteln der
US-Metropolen, die als Kanonenfutter für Bushs Pläne dienen
müssen. Und um ihre Position zu sichern unterhält die Familie
Bush sogar mit dem saudischen Königshaus excellente Beziehungen,
wohl wissend, dass diese Hauptfinanciers des islamischen Terrorismus
sind. Die meisten der vielen Fakten seines Films kann der
Regisseur, der vor zwei Jahren mit BOWLING FOR COLUMBINE bekannt
und mit seiner berühmten Oscarpreisrede - "Shame on you, Mr.
Bush!" - zum Star und zum Heiligen aller Bush-Gegner wurde,
auch gut belegen. Insofern blieb selbst vielen Bush-Anhängern
unter den US-Journalisten nach der Vorführung seines Films
in Cannes nur betroffen-verschämtes Schweigen.
Trotzdem lebt Moores Film bei aller Klarheit der Aussage,
weniger von seinen großen Thesen, als von genauer Beobachtung
und kleinen Einsichten. Sie fügen sich zu einem Mosaik der
Schande. Zugleich ist FAHRENHEIT 9/11, dessen Titel von Truffauts
Orwellscher Vision FAHRENHEIT 451 inspiriert ist, aber in
seinen besten Momenten eine filmisch elegante Totalitarismusstudie.
Über den Tag hinaus wird der Film freilich kaum Bestand haben
- zu sehr bleibt alles eine Momentaufnahme mit schneller
Halbwertszeit. Zudem muss man sich fragen, ob die Auszeichnung
vom Samstag Moores Anliegen nicht eher schadet. Wer ausgerechnet
in Frankreich Preise gewinnt, steht im Land der "Homeland-Security"
schnell unter Verdacht des fehlenden Patriotismus.
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FAHRENHEIT 9/11 war eher nicht repräsentativ für einen überaus
starken Wettbewerb, der das genaue Gegenteil jenes pausbäckigen
politisch-kulturellen Kompromisskinos bot, das zuletzt
erst die diesjährige Berlinale dominierte. Darum war
die Jury auch nur zu beglückwünschen für den Mut, jenes biedere,
pseudopolitische Konsenskino völlig zu ignorieren,
das auf Festivals schon viel zu viele Erfolge feiert, und
für das diesmal Emir Kusturica (LIFE IS A MIRACLE)
und Walter Salles (MOTORCYCLE DIARIES) standen. Dann
lieber ein solches Pamphlet auszeichnen, als die Gesinnung
des sozialdemokratischen Salons zu belohnen.
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Was wohl passiert wäre, wenn Wong Kar-wais Film früher gelaufen
wäre im Wettbewerb von Cannes? Man nahm es Wong Kar-wai
übel, dass der Film sehr spät fertig wurde. Manche vermuteten
Eitelkeit, andere, er wollen den Hype künstlich anheizen,
es besonders spannend machen. Alles Unsinn.
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Keine Frage: 2046 braucht Zeit, um im Kopf weiterzuarbeiten,
er war, ganz offensichtlich, zu kompliziert, um auf
Anhieb alle Herzen zu gewinnen - er wird trotzdem Bestand
haben, und das meiste, was es in Cannes sonst zu sehen gab,
überdauern.
Wer bis Sonntag blieb, konnte das am eigenen Leib überprüfen.
Noch einmal gab es da 2046 zu sehen, als Nachspielvorstellung.
Viele waren sogar zum zweiten Mal ins Kino gekommen, man war
sich bewusst, dass der Film in dieser Form nie wieder zu sehen
sein dürfte - oder vielleicht in einigen Jahren als "Cannes
Cut" auf DVD. Schon vor dem Festival war zu hören gewesen,
Wong Kar-wai wolle an dem Film noch mindestens zwei Monate
weiterschneiden. Der Starttermin ist, jedenfalls in
Deutschland für Januar 2005 vorgesehen. Nur eine Goldene
Palme hätte dies vielleicht beschleunigen können. Dabei ist
der gezeigte Film ganz wunderbar, das bestätigte die zweite
Sichtung. Wenn man weiß, was auf einen zukommt, die falschen
Erwartungen zerstoben sind, und man sich gelassen auf den
Film, so wie er ist, einlassen kann, dann wirkt er noch mehr
und, vor allem: emotionaler. Ganz klar erscheint auf einmal,
was beim ersten Mal kompliziert schien. Umgekehrt erscheint
die Struktur verschlungener. Dass Anfang und Ende zusammenfallen,
dass die Sätze des Off-Erzählers sich wiederholen, hatte man
beim ersten Mal nicht bemerkt. So ähnelt der Film strukturell
einem Möbiusband, was auch ein neues Licht auf die
zentrale Liebesgeschichte im Zentrum wirft: Ob diese nun wirklich
'real' ist, und nicht vielleicht selbst nur eine weitere Story,
die der Schriftsteller Chow erfindet, ist nun nicht mehr so
klar. Er ist ein Mann, der in jeder Zukunft nur seiner Vergangenheit
begegnet, in jeder Frau nur die eine wiedererkennt, die ihn
einst verließ.
METROPOLIS ohne Expressionismus, BLADE RUNNER ohne Punk
hatten wir vor vier Tagen hier geschrieben. Nicht falsch,
aber oberflächlich, gültig nur für einen Teil der Bilder und
fast gar nicht für die Geschichte. Strukturell erscheint das
alles nun eher als eine Wong-Kar-wai-Version von Hitchcocks
VERTIGO und Lynchs MULLHOLLAND DRIVE.
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Preise sind im Prinzip wirklich nicht wichtig.
Dafür muss man nicht einmal daran erinnern, welche Filme in
Cannes alle nicht gewonnen haben, daran, dass Antonioni
und Godard hier ausgebuht wurden, und alle möglichen
noch. Trotzdem: wer elf Tage Filme guckt, hätte dann schon
gern, dass eine Entscheidung gefunden wird, die irgendeinen
künstlerischen Sinn ergibt.
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Man sollte meinen, dass zumindest professionelle Kritiker
genug Sensibilität besitzen, um zu erkennen, was Wong Kar-wai
da gelungen ist. Aber nein - oberflächliche Eindrücke
wurden auch in diesem Fall zu unumstößlichen Einsichten; und
manche Kritiker waren dem Film auch einfach nicht gewachsen.
Das gilt zumindest für jene, die plötzlich Wong vorwerfen,
sich selbst zu parodieren, und den allergrößten Selbstparodisten,
Kusturica für authentisch halten. Oder seine Brüder im Geiste,
die Salonauthentiker Salles und Gatlif. Und OLD BOY
gilt den gleichen dann als ein böser, bestenfalls belangloser
Film. Oder besser noch: Als "Genre", ein Lieblingsschimpfwort
der alten Zuschauer-Garde, die am gleichen Ort schon Anfang
der 90er auch Lynch und Greenaway nicht verstanden
hat.
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Richtiges Genre und großes Kino war, ich habe das schon geschrieben,
Zhang Yimous HOUSE OF FLYING DAGGERS. Ein Bekannter
erzählte, er habe in der Vorstellung schräg hinter Tarantino
gesessen, und Tarantino habe dauernd vor Begeisterung im Kino
hin und her gehüpft. Was Tarantino in FAHRENHEIT 9/11
gemacht hat, wissen wir leider nicht.
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Lust, Peter-Sellers-Filme zu sehen, bekam man im letzten
Wettbewerbsfilm, THE LIFE AND DEATH OF PETER SELLERS
von Stephen Hopkins. Die Filmbiographie des großen
britischen Komikers und ein ausgezeichneter Film. Herrlich
entspannt, schnell und gutgelaunt, eigentlich der perfekte
Abschlussfilm, aber dafür eben zu geistreich. Für den schillernden
Auftritt in der Titelrolle hätte Geoffrey Rush locker
eine Goldene Palme verdient. Ein böser, liebenswerter, unangenehmer,
faszinierender Mensch. Als der wahre Dämon entpuppt sich die
Mutter...
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Viele Filme in Cannes waren diesmal originelle, aber gleichwohl
pädagogische Lektionen, ebenso viele waren Horrorfilme. Einer
der besten lief im "Certain Regard", HOTEL von der
Österreicherin Jessica Haussner. Ein rätselhafter Film,
der außer durch seinen Witz gerade durch seine Offenheit besticht,
dadurch, dass er Leerstellen und Offenheiten hinterlässt,
die im Betrachter nachwirken. Weitab vom Lärm der Großstadt
liegt das "Hotel Waldhaus". Iréne, die neue Empfangsdame in
dem noblen Berghotel, begreift allmählich, daß ihre Vorgängerin
kürzlich unter mysteriösen Umständen verschwunden ist. Die
Polizei ermittelt ohne greifbare Ergebnisse, manche erzählen
ihr von einer alten Legende: 1591 wurde hier eine Frau als
Hexe verbrannt... Als Iréne Näheres herauszufinden versucht,
stößt sie bei den übrigen Hotelangestellten zunächst auf Gleichgültigkeit
und dann zunehmend auf Feindseligkeit. Iréne spürt, daß etwas
Ungreifbares sie bedroht. Wo sind ihre Beobachtungen real,
wo beginnt ihr ihre Einbildungskraft einen Streich zu spielen?
Stilistisch sehr genau und streng gezeichnet, lässt HOTEL
Erinnerungen an Kubricks SHINING und Lynchs
LOST HIGHWAY wach werden, ein ebenso ausgeklügelter, dabei
stiller Horrorfilm, der grelle Effekte nicht nötig hat. Mag
manches auch schon von den genannten Vorbildern her vertraut
sein, wirkt es doch ungebrochen. Dabei stammt HOTEL immer
aus der Mitte unserer europäischen Wirklichkeit, verbindet
diese Alltäglichkeit mit der geheimnisvollen Atmosphäre eines
Grimmschen Märchens . Und "der Wald steht still und schweiget..."
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Über die Tage ist es immer wärmer geworden, man schwitzt
noch Spätabends und auch drinnen ist es nicht viel
kühler. Wem es nachts zum Schlafen zu früh ist, und wer keine
Einladung für eine Party hat, der trifft sich im "Petit
Majestic" einer Bar zwei Straßen hinter der Croisette.
Genauer gesagt: davor. Denn drinnen herrschen Saunatemperaturen,
die man nur zum Gang auf die Toilette auf sich nimmt. Draußen
aber bilden sich Trauben von Menschen, bestimmt 200 um ca.
2 Uhr nachts, vorzugsweise aus England und Deutschland. Man
trinkt Bier aus Belgien, 3 Euro für 0,3cl - für Cannes
ein durchaus fairer Preis. Früher erzählt einer, der es wissen
muss, hatten die Briten ihre "eigene" Stammkneipe,
die machte aber zu, daher kam es zu dieser merkwürdigen Entente
Cordiale. Früher, als der deutsche Film noch mehr gelitten
war an der Croisette, tranken hier auch Herzog und
Wenders, Fassbinder und Schlöndorff.
Früher war alles besser, oder?
Heute trifft man keine Regisseure, nur seinesgleichen, Produzenten
und misstrauische Festivalleiter, die nach dem neuesten Gerücht
fahnden, sowie einen Herren vom Auswärtigen Amt, der meint,
als deutscher Filmjournalist solle man doch ein wenig patriotisch
sein. Und wenn man einen deutschen Film eher schlecht findet,
"dann über die Dinge schreiben, die man daran gut findet."
Aber das tun noch nicht einmal die Sportreporter - und wenn
die nicht patriotisch sind, wer dann?
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Am letzten Abend ist klar, dass von Weingartners Auftritt,
dem ersten Film aus Deutschland 11 Jahren Abwesenheit, auch
nicht mehr geblieben ist, als von jedem anderen durchschnittlichen
Wettbewerbsfilm. "Wie ein Hype entsteht..." schrieb
Tobias Kniebe in der Süddeutschen Zeitung. Aber - es
ist doch überhaupt kein Hype entstanden, es sei denn in den
Köpfen einiger deutscher Filmkritiker, die sich aus unbekannten
Gründen vor Begeisterung gar nicht mehr einbekommen haben.
Warum wird immer davon geredet, der Film sei in Cannes besonders
gut aufgenommen worden? Vielleicht muss man eine Sache nur
lang genug behaupten, damit sie einer auch glaubt. Vielleicht
war auch schon so lange kein deutscher Film mehr in Cannes,
dass manchen einfach die Erfahrungswerte fehlen. Hier ist
nämlich prinzipiell bei einer Premiere noch etwas mehr los
als in Hof.
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Aber noch mal: Der Film hat keinen besonders interessiert,
außer die Deutschen selber. Die französischen Kritiken waren
schlecht, die anderen gleichgültig, die Amerikaner
haben über den Film gleich gar nicht geschrieben. Außer Variety,
vorher. Und dort nannten sie den Film den österreichischen
Wettbewerbsbeitrag - weil der Regisseur Österreicher ist.
Der Beifall war freundlich, ja, eine Viertelstunde
- ich habe nicht mitgestoppt. Aber klar, dass es für manche
schwere Kost weniger Beifall gibt als für einen flockig-leichten,
etwas dünnen Film, der Humor hat und keinen stört. Und auch
für den Hongkong-Film BREAKING NEWS gab es bestimmt
zehn Minuten Applaus - um halb drei Uhr nachts.
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Das Gegenargument: Man muss sich doch mal freuen. Aber warum
eigentlich? Warum muss ich, nur weil ich in München wohne,
zum FC Bayern halten?
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Letzter Abend, letzter Gang nach Hause, eine erfreuliche
Überraschung. Auf dem Gehweg kommt einem Park Chun-wook
entgegen, der koreanische Regisseur von OLD BOY. Der
hat mal Philosophie studiert, und man würde jetzt gern
mit ihm darüber plaudern, warum ihn Rache so fasziniert, und
was das mit seinem Lieblingsschriftsteller Stendhal
zu tun hat. Aber Park hat drei Frauen im Schlepptau. Wer das
wohl sein mag? Mutter, Schwester, Gattin? Oder drei Produzentinnen?
Pressefrauen? Edelnutten? Vielleicht seine Bodyguards. Jedenfalls
angenehmer, als die von Michael Moore. In Cannes ist alles
möglich. Außer dass wir beide jetzt wirklich plaudern. Also
sage ich Hallo!, "Congratulations", er lächelt nett und überlegt,
ob er mich kennen muss. Immerhin ein guter Abschluß. Wir sind,
wie schon bemerkt, gern patriotisch. Aber fürs Kino.
Rüdiger Suchsland
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