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Fillmfest München 2004 28.06.2004
 
 
Tagebuch, 3. Tag
 

Neue Wellen

Über Newcomer und Altmeister
 

Kriegserinnerungen in Schwarzweiß und Farbe

PAS SUR LA BOUCHE
Alain Resnais' PAS SUR LA BOUCHE
 
 
 
 

Neue Wellen
Über Newcomer und Altmeister (PAS SUR LA BOUCHE und NOTRE MUSIQUE)

In meinem letzten Beitrag zum Filmfest kündigte ich an, an dieser Stelle über die Preview-Nebenrolle des Filmfestes nachzudenken zu wollen. Der Gedanke hat sich erübrigt, muss ich heute feststellen. Denn dies ist nun mal immer auch die Funktion eines Festivals, und es ist ja allen (guten) Filmen zu wünschen, dass sie ins Kino kommen. So sollte jedes Festival, zumindest retrospektiv, ein Fest der Previews gewesen sein.

Ein ganz anderes Nachdenken drängt sich mittlerweile auf, über das Verhältnis von Newcomern und Altmeistern. Der britische Newcomer Peter Webber ist mit dem MÄDCHEN MIT DEM PERLENOHRRING gut angekommen, Christophe Honoré überraschte mit seiner atmosphärischen Bataille-Verfilmung MA MÈRE, der Amerikaner Jonathan Caoutte hypnotisierte mit seiner verstörenden Autobiographie TARNATION, einem Low-Budget-Projekt, das in Cannes lief. Spürbar wird da der unbedingte Wille, Filme zu machen, den Kinoraum zu erproben, das Extreme zu suchen.

Und dann die Altmeister: Der Italiener Marco Bellochio, bekannt für seine Politfilme der 60er Jahre, inszenierte mit BUONGIORNO, NOTTE ein intensives Rote-Brigade-Kammerspiel. Sehr nett ist es, dass die französischen Altmeister immer noch als "neu" gelten und für dass "Nouveau Cinéma Français" abonniert sind. Sie sind alte Hasen, perfekt in dem, was sie machen, ihre Handschrift ist bekannt, aber dennoch schaffen sie es, sich und das Kino mit jedem Film zu erneuern und zu verjüngen. Nicht das französische Genrekino wie der etwas bemühte Thriller LE CONVOYEUR von Nicolas Boukhrief, das sich neuerdings in den Kinosälen breit macht, ist nämlich das spannende am französischen Kino, auch nicht die banalen Blümchenkleider-Filme, in denen es jetzt nicht mehr heißt "boy meets girl", sondern "girl drops boy" wie in NE FAIS PAS ÇA des Theaterregisseurs Luc Bondy, bei dem man sich tatsächlich fragt, weshalb so ein Film überhaupt gemacht wird. Spannend ist dagegen immer noch das Nouvelle Vague-Kino mit seinen mittlerweile sehr alten Regisseuren. Godard ist da mit seinen 74 Jahren neben dem 76jährigen Rivette und dem 82jährigen Resnais noch der Jüngste.

Man sagt ja gerne, dass Menschen in hohem Alter wie Kinder werden, und auf Alain Resnais scheint dies besonders zuzutreffen: Er zeigt sich mit PAS SUR LA BOUCHE temporeich, leicht, mit einer glucksenden Witzigkeit. Die Schauspieler performieren eine Lust am Spiel, ein pures Vergnügen, zuzusehen, wenn Sabine Azéma, die in ihrer Aufgedrehtheit in anderen Filmen Resnais auch schon nerven konnte, im Paillettenkleid mit Arditi in der Küche mit Langusten hantiert, oder wenn sich mit der Musik ankündigt, dass die Schauspieler wieder singen werden. Denn gesungen wird viel in PAS SUR LA BOUCHE, Resnais griff für seinen Film zurück auf die 20er-Jahre-Operette von Alain Barde um Liebe und Verwechslung, bei der ein prüder Amerikaner wegen des drohenden Mikrobenaustausches nicht auf den Mund geküsst werden will - eine Hygieneversessenheit, die zum Ende seiner Ehe mit Mlle Valandray führte, und am Ende der Operettenhandlung zu einem saftigen Kuss auf seinen Mund.

Der Film macht aber auch deshalb besonders großen Spaß, weil Resnais das Komische der Operette in einen filmischen Witz überträgt. Die ganze Handlung spielt bis auf ein paar Ausnahmen in einem einzigen Raum, der Empfangshalle in einem Haus der höheren Gesellschaft, die durchaus an amerikanische Sitcoms erinnern kann, auch wenn sich Resnais ausdrücklich von amerikanischer Tradition abgrenzt und seinen Film als französische comédie musicale sieht. Sitcom deshalb auch, weil allein schon das Wort "Theaterraum" schwerfällige Langsamkeit, Ernst und Strenge assoziiert, der Film aber, so wie er mit der Theatersprache filmisch experimentiert, verspielt ist und leicht. Für den "Bühnen"-Abgang lässt er Figuren durch einen einfachen Überblendungstrick aus dem Bild verschwinden. An anderer Stelle inszeniert er einen originär filmischen Witz: Er persifliert die Kontinuitätsmontage, wenn er Sabine Azéma in der Küche niederfallen lässt, ihr Kopf aber in der nächsten Einstellung auf ein Sofakissen sinkt. Wenn die Schauspieler vom Sprechen auf das Singen übergehen, werden die Szenen in langen Plansequenzen gefilmt. Hier verzichtet Resnais bewusst auf die Montage als technischem "Filmtrick" der Kontinuität, macht dadurch das Nebeneinander von Singen und Sprechen innerhalb der Szene real, und formuliert filmisch das Performative der Bühnen-Operette. Resnais hat in PAS SUR LA BOUCHE seinen Hang zum Theater, zu Inszenierung und Künstlichkeit auf den Höhepunkt getrieben und dabei ein Meisterwerk geschaffen.

Nur eine Bemerkung zu Godards NOTRE MUSIQUE. Wenn meist Bild- und Tonspur in seinen Filmen äußerst dichte Räume bilden, die schwer zu rezipieren sind, überlappen sich hier die Stimmen nicht, die Musik legt sich nicht über das Gesprochene. Hier setzt Godard die Bilder des Geschehens kontinuierlich, fast lässt sich eine Geschichte erfassen. Sie steigt von der Hölle über das Fegefeuer ins Paradies auf, in drei "Kreisen", abstrakte Zustände der politischen Geschichte umschreibend. Ein fast leichter Godard, ungewöhnlich zugänglich, vielleicht ein wenig leer. Aber er muss leer sein, denn nur so ist Platz für das, was die Menschen den Krieg überleben lässt: unsere Musik.

Dunja Bialas

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Kriegserinnerungen in Schwarzweiß und Farbe

In CONTROL ROOM wird die Formel für den Weltfrieden verraten: Sobald alle Menschen einen US-Pass haben, wird es ruhig auf der Erde. Pax Americana.

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Eine genauere Analyse über die Natur von Kriegen bietet der oscarprämierte Dokumentarfilm THE FOG OF WAR. Robert McNamara erteilt "11 Lektionen" in moderner Kriegsführung und -vermeidung, die er im Laufe seines Lebens gelernt hat. Errol Morris hat aus einem 20-stündigen Interview und Archivaufnahmen 107 Minuten Film montiert, die fesseln ohne auf vordergründige Showeffekte zu setzen. Dabei hätte er wohl keinen besseren Gesprächspartner als McNamara finden können: Den 2. Weltkrieg hat der junge Harvard-Absolvent als kleiner Statistiker und Analyst bei der US Air Force verbracht. Hier galt es die Effizienz des Tötens und Zerstörens zu steigern. Unter Kennedy wird er dann Verteidungungsminister. Gemeinsam durchstehen sie die Kubakrise, als die Menschheit viel näher am Rand der atomaren Selbstvernichtung vorbeischlittert, als alle Beteiligten vermuten. Doch dann führt er die USA in den Vietnamkrieg. Beide Kriegsparteien hatten die Ziele und Aktionen der anderen Seite falsch verstanden, wie McNamara später lernen mußte.

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Wenig über Kriegsgründe und das Töten auf dem Schlachtfeld, aber umso mehr über den Krieg auf dem Fernsehbildschirm erfährt man in CONTROL ROOM. Jehane Noujaim und Hani Salama haben während der heißen Phase des Irakkrieges mit ihren Kameras das Treiben hinter den Kulissen des alliierten Pressezentrums am persischen Golf und in der Schaltzentrale des arabischen Nachrichtensenders Al-Jazeera beobachtet. Es ist ein Krieg um Bilder. Wir nehmen vom Krieg nur wahr, was wir im TV sehen. Und das Fernsehen bringt nur Nachrichten, die es mit Bildern oder zumindest hübschen Grafiken unterlegen kann.

Die stärksten Momente hat der Film aber immer dann wenn Reporter und die Medienbetreuer aus dem Pentagon abseits der Tagesberichterstattung über ihr Handwerk nachdenken und streiten. Noujaim und Salama - beide in einer Mischung aus westlicher und arabischer Kultur aufgewachsen - interessieren dabei besonders die unterschiedliche Wirkung von Bildern auf westliche und arabische Zuschauer.

Als die Amerikaner die letzten verbliebenen arabischen Fernsehteams in Bagdad durch Bombenangriffe ausgeschaltet haben, haben ihre "embedded journalists" die uneingeschränkte Bildhoheit. So wird die Welt den Sturz Saddam Husseins nur so sehen, wie das US Militär ihn für die Weltpresse inszeniert hat.

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Bei Filmen wie CONTROL ROOM und THE FOG OF WAR bemerkt man einen großen Vorteil, den Dokumentarfilme im Kino gegenüber dem Fernsehen haben. Sie sind der Tagesaktualität entrückt. Es dauert ohnehin mehrere Monate wenn nicht Jahre, bis sie auf Festivals oder gar im normalen Kinoprogramm gezeigt werden. Die Gedanken können reifen und die Bilder des Tages müssen den Test der Zeit bestanden haben, bevor sie die Kinoleinwand erreichen. Das fördert fundierte Informationen und gründliche Analysen.

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Wenn Jean-Luc Godard am Anfang seines Films NOTRE MUSIQUE die Hölle auf Erden zeigen will, kompiliert er Schlachtszenen aus diversen Kriegen. Wir stellen fest: Was in unserem kollektiven Bewußtsein als Kriegsgreuel hängen bleibt, ist nicht das, was auf dem Schlachtfeld passiert ist, sondern das, was über Leinwände und Fernsehbildschirme flimmert. Szenen aus Dokumentar- und Spielfilmen sind dabei bunt gemischt.

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Zwei europäische Regisseure integrieren diese Art kollektive Kriegserinnerung in Spielfilme. In SOLDADOS DE SALAMINA erfährt eine junge Schriftstellerin durch Zufall von einem Vorfall aus der Endphase des spanischen Bürgerkriegs. Ein hochrangiger Falangist kann bei einer Massenexekution entkommen. Dank der Hilfe einiger feindlicher Soldaten überlebt er. Für ihr Buchprojekt versucht sie alle verfügbaren Quellen auszuwerten und noch lebende Zeitzeugen aufzuspüren. Die Szenen aus dem Bürgerkrieg stellt sie sich selbstverständlich in Schwarzweiß vor, so wie wir es aus Dokumentarfilmen kennen.

In BUONGIORNO, NOTTE erzählt Marco Bellocchio von den Gewissenskonflikten einer jungen Terroristin, die die als kleines Rädchen an der Entführung des italienischen Ministerpräsidenten Aldo Moro beteiligt ist. Heimlich belauscht sie die "Verhöre" Moros durch die Roten Brigaden und liest dessen Briefe an seine Familie. Diese wecken Erinnerungen an die Partisanen des 2. Weltkriegs. Nachts träumt sie von den Erinnerungen ihrer Eltern und Onkel, die von den ehemaligen Partisanen auf Familienfesten hochgehalten werden. Je verzweifelter die Lage von Moro wird, desto dramatischer werden die Träume. Irgendwann taucht auch Moro darin auf. schließlich wechseln auch die Träume von Schwarzweiß zu Farbe, so daß sie Imagination und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden kann.

Bellocchio zeigt vorallem die unspektakuläre Seite des Terrorismus: Zuerst eine Wohnung besorgen und als Versteck herrichten, der Nachbarin die heile Familie vorspielen und verhindern, daß Fremde die Wohnung betreten. Dann die Hybris des "revolutionären Volksgerichts" mit ihren abgestandenen, sinnentleerten ideologischen Floskeln. Der Lagerkoller durch das tagelange Zusammenhocken auf engstem Raum. Der Realitätsverlust. Weil sie keinen Kontakt mit normalen Menschen mehr haben, wundern sich die Terroristen tatsächlich, warum ihre Entführung von den "proletarischen Volksmassen" nicht als Auftaktsignal für den allgemeinen Aufstand nutzen. Leider kann man dem Film ohne detailierte Geschichtskenntnisse nicht entnehmen, in wieweit das Innenleben und die Gedanken der Entführer den historischen Tatsachen entsprechen und was der Phantasie der Autoren entspringt.

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Gute Kenntnisse in Politik- und Geschichte können auch beim Dokumentarfilm LA PELOTA VASCA: LA PIEL CONTRA LA PIEDRA von Julio Medem helfen, das Gesehene und Gehörte einzuordnen, denn der Regisseur erschlägt den Zuschauer mit einer wahren Informationsflut in Sachen ETA-Terrorismus und baskische Geschichte. Zunächst werden direkt hintereinander die Köpfe von 5-6 Gesprächspartnern mit Angaben zur Person vor baskischen Landschaften gezeigt. Dann kommt ein schnell geschnittenes Interviewstakkato. Oft sprechen die Leute nur einen Satz, der dann nach einem Schnitt von einem anderen erwidert wird. Manchmal reicht es sogar nur zu Halbsätzen, die dann vom nächsten komplettiert werden. Das Ganze ist sehr kunstvoll geschnitten, aber dem Zuschauer, der mit der Materie nicht vertraut ist, gelingt es nicht, die vielen Gesprächspartner auseinader zuhalten und sich zu merken, wer nun für welche der zahlreichen politischen Gruppen spricht. Danach folgt meist ohne Ruhepause der nächste Interviewblock zu einer anderen Frage oder ein ebenso schnell geschnittener historischer Abriss, der mit Bildern aus Dokumentar- und Spielfilmen hinterlegt wird.

Über den titelgebenden baskischen Nationalsport erfährt man leider nur zwei Sätze - und die ausgrechnet aus dem Mund von Orson Welles.

Claus Schotten

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