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Gestern abend auf dem Indie-Fest, so muss konstatiert werden, war kein einziger
Independent-Regisseur zu sichten - die nach München gekommen waren, waren schon abgereist,
die anderen sollen heute erst eintreffen. Dafür sah man ein paar deutsche Größen, Robert
Stadlober, Hannelore Elsner, man konnte Alexander Kluge beobachten, wie er ziemlich verlassen
im Stadtcafé eine Sendung abdrehte. Very Important People, und deshalb reinigte auch eine
Klofrau vor jedem Gang auf die Toilette die Klobrille.
Noch mehr solcher neuer Trends, wie Madame Pipi im Stadtcafé, konnten festgehalten
werden: Sich mit einer Hand am Bier, mit der anderen am Gaderobenständer festhalten,
und cool zwischen den beiden Haltepunkte hin- und herwippen, so wie Robert Stadlober,
dessen Frisur unentschieden zwischen Robert Redfort und David Bowie stylte. Nicht
minder spektakulär als der Auftritt von Stadlober war das Erscheinen von Fritz Göttler
in dem Gedränge. Den durfte man dann auch mit Küsschen begrüßen. Neuer Trend!
Nachdem sich ein Stehplatz gefunden hatte, konnte entspannt geredet werden, so mit
Job Schnelle aus Köln. Ein Nachdenken ergab sich da über das Raubkopien-Gesetz, ob
nicht eigentlich auch die neue Handy-Generation mit Bild- und Tonmitschneidemöglichkeit
bei den Filmvorführungen eingesammelt werden müssen. Nostalgische Erinnerung stieg da auf
an die Zeit, als man noch Filmtagebuch führen konnte, in dem man kurze Szenen im Kinosaal
per Videokamera mitfilmte, wobei entscheidend war, einen erkennbaren Blickwinkel zu haben,
das Bild sich also drehen und kippen durfte, abgeschnitten oder ins Bild hineingezoomt wurde
(Dietmar Brehm nennt das das Eindringen in das Bild). Es ging also bei diesen Filmtagebücher
nicht darum, den Film mitzuschneiden, sondern ihn auszuschneiden, so wie man sich ein Foto
aus der Zeitung ausschneidet, um es aufzuheben. Den Film als bildlichen Erinnerungsmoment
festhalten, noch einmal mithilfe des Mitschnitts in den Film eintauchen können. Aber all
das Schöne ist jetzt verboten.
Nur das Wort bleibt heute als Medium der Filmerinnerung, was eine Arbeit der Wiederbelebung
des Films, seiner Wiederauferstehung im Gedächtnis gleichkommt. In Worte fassen, was gesehen
wurde: Das verlangt nach einer Filmbeschreibung ähnlich der Bildbeschreibung bei den
Kunsthistorikern. Die Besonderheit des Films einfangen, seine Sprachlichkeit zu beschreiben,
seine Kameraführung, Montageart, den Rhythmus, sein Tempo, die Farblichkeit, Lichtgestaltung
etc. Die beschreibenden Worte werden zum Raum, in dem der Film imaginiert werden kann,
sie "schmiegen" sich an den Film an, wie es Job Schnelle auf dem Festival in Mannheim
letztes Jahr im Gespräch über Filmkritik formulierte.
Wie sich das Wort zum Bild fügt, ist aber auch eine Herausforderung, mit der es die
Filme selbst zu tun haben. In den Spielfilmen cachiert es sich meist in möglichst
naturalistischen Dialogen, macht sich unfühlbar. Oder es verdichtet sich, wie bei
Godard, wird literarisch und erhält eine eigene Bedeutungsebene, die jenseits des
Dargestellten liegt. Der Film wird mit einemal "schwierig", man muss ihn mehrmals
sehen, bis man ihn lesen kann wie ein Buch, in dem das Gedächtnis hin- und herblättert.
Wichtig ist das Wort-Bild-Verhältnis auch im dokumentarischen Kino, entscheidend
wichtig wenn es dem Wort darum geht, Informationen zu übermitteln, ein Dokumentarfilm
aber Bildlichkeit und Form finden muss. (Ein Anspruch im Unterschied zu den Fernseh-Dokus
und bitte nur hierfür die häßliche Abkürzung benutzen.)
Es gibt zwei Dokumentarfilme des Festivals, die sich unbedingt lohnen, unter diesem
Aspekt betrachtet zu werden. Der eine ist LA PELOTA VASCA: LA PIEL CONTRA LA PIEDRA
von Julio Medem. An die 70 Interviewpartner hat Medem zum baskischen Problem befragt,
Intellektuelle, Künstler, Politiker der madrilenischen und baskischen Parteien,
Überlebende von ETA-Anschlägen und Angehörige der Opfer, auch Aktivisten der ETA
und ihre Aussteiger. Die Antworten der "Talking Heads" schnitt er verdichtend zusammen,
oft wechselt von einem Satz auf den nächsten der Gesprächspartner, bisweilen sogar nach
einem Halbsatz. Dadurch gibt sich eine rasante Schnelligkeit der Äußerungen, ein
kraftvoller Schlagabtausch zwischen den verschiedenen Gruppierungen.
Formengebend für den schnellen Schnitt und den Wechsel der Gesprächspartner war für
Medem die pelota vasca, ein Ballspiel zwischen Squash und Tennis, gespielt mit einem
gekrümmten Korbschläger, der den Ball in Höchstgeschwindigkeit dem Gegner zuschleudert.
Medem fügt immer wieder Momente in seinen Film, in denen nur das Pfeifen des geschleuderten
Balls zu vernehmen ist, die konzentrierten Pelota-Spieler in den Turnhallen zu sehen sind,
weiße Spieler im dunklen Grün der Turnhalle, weiße Pfeile an den Wänden, ein Raum der
Kontraste und des Konträren. Die Pelota ist die Verweislinie auf den schnellen Schnitt
der Interviews und die übergeordnete Metapher des Films, zugleich auch Anhaltspunkt, wie
der Film gesehen werden sollte. Versucht man nämlich im einzelnen auseinanderzuhalten,
was die Interviewten sagen, die Schnelligkeit des Leinwand-Aufschlags aufzuhalten, indem
man das Gesagte für sich reflektieren möchte, stellt sich bald Frustration ein. Man muss
sich in das Spiel des Films hineinbegeben, ihm zusehen, zuhören, bereit sein, durch die
Äußerungen hin- und hergeschleudert zu werden wie der baskische Ball.
Über die Metapher des baskischen Ballspiels werden die Worte der Talking Heads aber auch
kommentiert: Sie sind energetisch aufgeladen, und der Ball, der zurückgespielt wird, ist
nicht anders als der, der zugespielt wurde. In dem schlagkräftigen Spiel der Interviewten
werden die Positionen einander gleicher, Opfer und Politiker, Täter und Favorisierer der
baskischen Unabhängigkeit rücken auf ein Niveau zusammen. Der Film läßt die einzelnen
Äußerungen für sich stehen, weder favorisiert noch moralisiert er eine Position, was dazu
beigetragen hat, dass PELOTA VASCA in Spanien heftig umkämpft wurde. Jeder Ball muss selbst
beurteilt werden in diesem Film. Es kann übrigens nicht schaden, sich in der Basken-Thematik
ein wenig auszukennen.
Ein anderes Beispiel, wo das Bild dem Wort insofern den Rang abläuft, als es der Schlüssel
für die Bedeutsamkeit des Films ist, ist Z-CHANNEL von Xan Cassavetes. Ihr Film ist die
Rekonstruktion der Geschichte des Pay-TV-Kanals Z-Channel, der von 1974 bis 1989 ungeschnitten
und ohne Werbeunterbrechung Filmraritäten ausstrahlte. Jerry Harvey, der Channel-Gründer,
zeigte Filme des europäischen Kinos, die in den USA nicht zu sehen waren, oder er ermöglichte
Filmen, die im amerikanischen Kino nur in verstümmelter Fassung liefen, sich vor der Kritik
im Director's Cut zu behaupten. Er rettete unter anderem HEAVEN'S GATE von Michael Cimino
vor der Verdammnis und schrieb so mit seinem Kanal tatsächlich Filmgeschichte. Von der
Bedeutung, die der Kanal für sie und ihr Schaffen hatte, erzählen u.a. Quentin Tarantino,
Robert Altman, James B. Harris. Eine Fülle von Filmausschnitten sind zu sehen, so aus Filmen
von Kurosawa, Sam Peckinpah, Mate Hellman, Nicholas Ray, aus Faßbinders 14stündigem
BERLIN ALEXANDERPLATZ, Truffaut mit 400 COUPS, aus Jacques Demys gesungenem PEAU D'ANE…
Ein Querschnitt durch die Filmgeschichte, erzählt von Menschen, die selbst Filmgeschichte
machen.
Die Menschen erscheinen als bildfüllende Talking Heads vor der Kamera, Talking Heads und
Filmausschnitte, das sind die Worte und die Bilder, und was den Film so sehenswert macht
ist die Art, wie die Ausschnitte aus den Filmen in das Gesprochene gefügt werden. Xan
Cassavetes schneidet in die Interviews die bildlichen Erinnerungsmomente ihrer
Gesprächspartner, also genau die Szenen, auf die sich die Sprechenden gerade beziehen.
Keine willkürliche Ansammlung von Filmausschnitten also, die sie für den Film
zusammengetragen hat, sondern echte Filmzitate, die sich in die Syntax des gesprochenen
Worts einbetten.
Aber das geht nur im Film. Und im Film zu machen, was nur filmisch geht, und dabei über
Filme zu sprechen - das ist der wahre filmische Diskurs.
Dunja Bialas
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