Sind die fetten Jahre vorbei? Der Zeitgeist suhlt sich geradezu
in der affirmativen Vermarktung dieses Satzes. Nicht nur,
dass nun endlich der entsprechende Film in die Kinos gekommen
ist, auch in Berlins Saturn-Märkten hat man wuchtige
Pappaufsteller platziert, die frei unter dem Motto "Geiler
Geizposten" einen properen Grinsemann zeigen, in der
einen Hand 'nen Klumpen Steak, die andere in Richtung des
beworbenen Gerätes, einer mobilen Saftbratmaschine, der
"Lean Mean Fat Reducing Grilling Machine". Über
dem ganzen thront die satte Headline: "Die fetten Jahre
sind vorbei."
Dieser Satz war, sinngemäß, auch einer der meistgehörten
dieser Tage auf dem Filmfestival Mannheim-Heidelberg. Meistgehört
nicht nur, weil ihn einige Besucher auf das Festival bezogen,
was ich nicht beurteilen kann, weil ich das erste Mal dort
war. Meistgehört eher deswegen, weil ihn die verschiedensten
Festivalteilnehmer an verschiedenen Orten artikulierten: beim
die Screenings beschließenden Filmtalk, beispielsweise
wenn Ivan Fila betrauerte, dass sein KÖNIG DER DIEBE,
ein surrealer Erwachsenenfilm mit Kindern in den Hauptrollen,
wohl nie einen deutschen Verleiher finden würde. Bei
der Versammlung des Verbands der Deutschen Filmkritik fiel
dieser Satz, als über den schmalen Grat zwischen Filmkritik
und Pressearbeit diskutiert wurde: wer kann schon heute noch
allein von seinen Kritiken leben. Edgar Reitz erzählte
von fetteren Zeiten und seiner Zusammenarbeit mit öffentlich-rechtlichen
Sendeanstalten, davon, wie heute den Anfang 20-jährigen
Assistenten der über 50-jährigen Redakteure glauben
gemacht würde, sie seien die pappige Zukunft der Branche.
Doch wehe der Halbwertszeit!
"Sie sind vorbei, die fetten Jahre." Selbst auf
den abendlichen Party-Talks konnte man sich diesem geknirschten
Eingeständnis nicht entziehen. "Wer sich bis 30
keinen Namen gemacht hat, kann es in der Branche ohnehin vergessen!"
tönt es selbstgerecht aus dem Mund der Grumpy Old Men.
Ja, die Älteren. Die Eltern. Machen wir es halt anders!
Bei den Bonzen Möbel verrücken, freie Liebe, Filme
machen ohne Geld! Vielleicht kann man sich auch an dem munter-zotigen
Sprüchlein eines anderen Techik-Traders orientieren,
der Mediamarkt heißt - "Lasst Euch nicht verarschen,
vor allem nicht beim Preis!" Was auch immer der Preis
ist: ein voller Kühlschrank, ein vergoldeter Kühlschrank,
die Lola auf dem Kühlschrank oder jede Menge gute Ideen
im Eisfach.
Für Wajdi Mouawad, den kanadisch-libanesischen Regisseur
des diesjährigen Eröffnungsfilms, ist der Preis
im Sinne einer Entlohnung, dass seine Seele ein Gramm leichter
ist. Zu großen Teilen sein eigenes Trauma, was in dem
atemberaubenden LITTORAL (DAS MEER UND DIE ZEITEN) durchscheint,
der auch noch sein Erstlingswerk ist - doch dazu später
mehr.
Kunstwerke wie LITTORAL wird es Gott sei dank immer geben,
weil dieses eine bisschen Seele so viel wiegt ("How much
is gained?" / 21 GRAMS). Und auch weniger kunstvolle
Hervorbringungen, nennen wir sie ruhig Produkte, im Metier
des Films und der Filmkritik gleichermaßen, sind erst
tot zu kriegen, wenn auch der letzte Quasselkopf verstummt,
was sehr unwahrscheinlich ist. Also quasseln was das Zeug
hält, den resignierten Grumpy Old Men zum Trotz?
Der Tenor der Festivalbeiträge spricht paradoxerweise
eine entgegengesetzte Sprache. Wie ein roter Faden zieht sich
das Leitthema durch die Mehrzahl der Wettbewerbsfilme: nämlich
die Sinnsuche im Rückblick auf die ältere Generation,
auf der Suche nach Wurzeln und Eltern, nach den Wurzeln der
Eltern und nach einer Heimat, die irgendwo dort liegt, wo
man die Asche der Ahnen hinterlassen könnte. Das Begrabenwerden
hallt gleich einem Echo durch die Produktionen aus der Slowakei,
Serbien, Bulgarien, Osteuropa im Allgemeinen. Erinnerung und
Vergessenwollen tragen miteinander schwere Kämpfe aus.
Weil ich längst nicht alle Filme des Wettbewerbs gesehen
habe, will ich von einem erzählen, den wahrscheinlich
nicht so viele angeschaut haben: Den Sonderreihen-Beitrag
KÖNIG DER DIEBE, eine deutsch-slowakische Koproduktion.
Die Geschichte beginnt in einem kleinen Dorf in der Slowakei,
als ein Vater seine beiden Kinder an den "Großen
Caruso" verkauft. Einen "König der Manege"
will dieser aus dem ambitionierten Barbu machen. Doch im fernen
Berlin angekommen, sieht die Realität ganz anders aus:
Auf einem abgewrackten Zirkusgelände betreibt Caruso
eine "Schule", in der er kleine Jungen vorrangig
aus Osteuropa zu professionellen Dieben ausbildet.
Lazar Ristovski als Caruso, den man von Kusturicas UNDERGROUND
kennt, verleiht dem Film seine sehr spezielle Färbung,
genauso wie die beiden Nebenfiguren: Katharina Thalbach hängt
als verbitterte Ex-Partnerin des einstigen Zirkusstars Caruso
an der Nadel und Birol Ünel (GEGEN DIE WAND) mimt den
finsteren Gehilfen, der den kleinen Oliver Twists als peitschenschwingender
Dompteur die Spielregeln einimpft.
Lange Zeit durchschaut Barbu die Machenschaften von Ersatzvater
Caruso nicht und hält dem Alkoholiker hingebungsvoll
die Treue. Der große Bruch kommt erst, als Barbu erkennt,
dass seine Schwester Mimma gar nicht "nachkommen"
wird, sondern Caruso die 12-Jährige längst beim
Pokern an einen fiesen Zuhälter verscherbelt hat.
KÖNIG DER DIEBE ist ein surreales, brutales und dabei
magisches Märchen. Es entlässt Barbu und Mimma in
ein Happy End, wie es sich für ein Märchen gehört,
außerdem wäre alles andere nach den gewaltigen
zwei Stunden pure Folter: Die beiden Kinder finden den Weg
zurück in ihr slowakisches Heimatdorf. Natürlich
ahnt der Zuschauer, dass die Realität fast immer anders
aussieht. Wer über 14 ist, muss entweder professionell
ins Geschäft einsteigen, oder wird von den Menschenhändlern
"entsorgt".
Der Wettbewerbsfilm FOLGE DER FEDER ist ein Abschlussfilm
der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin. Die Sinnsuche
der Protagonistin hat auch hier etwas mit der Elterngeneration
zu tun: Die junge Türkin Hêlin kommt aus Anatolien
nach Berlin, weil sie dort einen wesentlich älteren deutschen
Türken heiraten soll. Sie nutzt die erstbeste Gelegenheit,
um Reißaus zu nehmen - denn eigentlich will sie vor
allem ihre Mutter finden, die vor über zehn Jahren mit
der älteren Schwester ausgewandert ist und Hêlin
mit dem Vater zurückgelassen hat. Auf poetische und bisweilen
pathetische Weise erzählt die Regisseurin Nuray Sahin
in ihrem Film von den Schwierigkeiten, mit denen Hêlin
und ihre Mutter nach so langer Zeit zueinander finden. Und
natürlich sucht Hêlin nach ihrer ganz persönlichen
Version vom Glück. "Folge der Feder" ist der
Schlüsselsatz des verstorbenen Vaters, den Hêlin
aus ihren Träumen mit ins reale Leben nimmt, und der
auch immer wieder an eine Versöhnung von progressiver
und traditioneller türkischer Werte gemahnt. Dafür
gab es immerhin den Publikumspreis.
Ein fast durchgängiges Thema im diesjährigen Wettbewerb,
ganz abgesehen von der Edgar-Reitz-Sonderreihe, war der rückgewandte
Blick auf das, was als "Heimat" bezeichnet werden
könnte, auf die Wurzeln der Helden. Ganz konkret erzählt
der Eröffnungsfilm LITTORAL diese Geschichte. Ein Film,
der zu großen Teilen autobiographisch ist und den der
bisherige Theaterregisseur Wajdi Mouawad machen musste, komme
was wolle. Sein Erstlingswerk ist ein großer visueller
Film, nuanciert, drastisch, grotesk vor allem sehr filmisch.
Er erzählt die Geschichte des kanadischen Libanesen Wahab,
der seinem Vater zum ersten Mal gegenübertritt, als er
ihn in der Pathologie identifizieren soll. Denn der Tod von
Wahabs Mutter bei seiner Geburt hatte den Vater so aus dem
Gleichgewicht gebracht, dass er dem Sohn Zeit seines Lebens
nicht begegnen konnte.
Die Verwandten legen ihr Veto ein, als Wahab seinen Vater
neben der Mutter begraben will, und so reist der Elternlose
mit Sarg in den Libanon, um das Heimatdorf des Vaters zu finden.
Doch auch dort will man den Exilgänger nicht. Zumal die
Gräber ohnehin von Leichenfledderern der syrischen Armee
ausgeraubt werden.
Eine wilde Jagd beginnt - auf der Suche nach den libanesischen
Zulieferern, die Sarg und Leichenwagen gestohlen haben, über
verminte Felder und die libanesisch-syrische Grenze. Wir sehen
eine Lost Generation, diese jungen Männer und Frauen
um die 30, die nicht wissen, warum ihre Eltern überhaupt
in den Krieg gezogen sind, weil die Vergangenheit totgeschwiegen
wird.
Heimat ist etwas, erzählt Edgar Reitz, dem man nicht
entkommen kann. Im Positiven wie im Negativen. Auch wenn die
Heimat - durch Krieg und Emigration - nicht mehr vorhanden
ist, kann man sich doch nie der Suche nach ihr entwinden.
Die Heimat will erhört werden. Und wenn man LITTORAL
gesehen hat, kann man den Grumpy Old Men nur eines entgegnen:
"Die guten Ideen überleben, egal wie fett die Jahre
sind."
Anja Marquardt
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