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Mannheim-Heidelberg '04 02.12.2004
 
 
Die guten Ideen überleben
Lauren Bacall
DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI
 
 
 
 

Sind die fetten Jahre vorbei? Der Zeitgeist suhlt sich geradezu in der affirmativen Vermarktung dieses Satzes. Nicht nur, dass nun endlich der entsprechende Film in die Kinos gekommen ist, auch in Berlins Saturn-Märkten hat man wuchtige Pappaufsteller platziert, die frei unter dem Motto "Geiler Geizposten" einen properen Grinsemann zeigen, in der einen Hand 'nen Klumpen Steak, die andere in Richtung des beworbenen Gerätes, einer mobilen Saftbratmaschine, der "Lean Mean Fat Reducing Grilling Machine". Über dem ganzen thront die satte Headline: "Die fetten Jahre sind vorbei."

Dieser Satz war, sinngemäß, auch einer der meistgehörten dieser Tage auf dem Filmfestival Mannheim-Heidelberg. Meistgehört nicht nur, weil ihn einige Besucher auf das Festival bezogen, was ich nicht beurteilen kann, weil ich das erste Mal dort war. Meistgehört eher deswegen, weil ihn die verschiedensten Festivalteilnehmer an verschiedenen Orten artikulierten: beim die Screenings beschließenden Filmtalk, beispielsweise wenn Ivan Fila betrauerte, dass sein KÖNIG DER DIEBE, ein surrealer Erwachsenenfilm mit Kindern in den Hauptrollen, wohl nie einen deutschen Verleiher finden würde. Bei der Versammlung des Verbands der Deutschen Filmkritik fiel dieser Satz, als über den schmalen Grat zwischen Filmkritik und Pressearbeit diskutiert wurde: wer kann schon heute noch allein von seinen Kritiken leben. Edgar Reitz erzählte von fetteren Zeiten und seiner Zusammenarbeit mit öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten, davon, wie heute den Anfang 20-jährigen Assistenten der über 50-jährigen Redakteure glauben gemacht würde, sie seien die pappige Zukunft der Branche. Doch wehe der Halbwertszeit!
"Sie sind vorbei, die fetten Jahre." Selbst auf den abendlichen Party-Talks konnte man sich diesem geknirschten Eingeständnis nicht entziehen. "Wer sich bis 30 keinen Namen gemacht hat, kann es in der Branche ohnehin vergessen!" tönt es selbstgerecht aus dem Mund der Grumpy Old Men.

Ja, die Älteren. Die Eltern. Machen wir es halt anders! Bei den Bonzen Möbel verrücken, freie Liebe, Filme machen ohne Geld! Vielleicht kann man sich auch an dem munter-zotigen Sprüchlein eines anderen Techik-Traders orientieren, der Mediamarkt heißt - "Lasst Euch nicht verarschen, vor allem nicht beim Preis!" Was auch immer der Preis ist: ein voller Kühlschrank, ein vergoldeter Kühlschrank, die Lola auf dem Kühlschrank oder jede Menge gute Ideen im Eisfach.

Für Wajdi Mouawad, den kanadisch-libanesischen Regisseur des diesjährigen Eröffnungsfilms, ist der Preis im Sinne einer Entlohnung, dass seine Seele ein Gramm leichter ist. Zu großen Teilen sein eigenes Trauma, was in dem atemberaubenden LITTORAL (DAS MEER UND DIE ZEITEN) durchscheint, der auch noch sein Erstlingswerk ist - doch dazu später mehr.

Kunstwerke wie LITTORAL wird es Gott sei dank immer geben, weil dieses eine bisschen Seele so viel wiegt ("How much is gained?" / 21 GRAMS). Und auch weniger kunstvolle Hervorbringungen, nennen wir sie ruhig Produkte, im Metier des Films und der Filmkritik gleichermaßen, sind erst tot zu kriegen, wenn auch der letzte Quasselkopf verstummt, was sehr unwahrscheinlich ist. Also quasseln was das Zeug hält, den resignierten Grumpy Old Men zum Trotz?

Der Tenor der Festivalbeiträge spricht paradoxerweise eine entgegengesetzte Sprache. Wie ein roter Faden zieht sich das Leitthema durch die Mehrzahl der Wettbewerbsfilme: nämlich die Sinnsuche im Rückblick auf die ältere Generation, auf der Suche nach Wurzeln und Eltern, nach den Wurzeln der Eltern und nach einer Heimat, die irgendwo dort liegt, wo man die Asche der Ahnen hinterlassen könnte. Das Begrabenwerden hallt gleich einem Echo durch die Produktionen aus der Slowakei, Serbien, Bulgarien, Osteuropa im Allgemeinen. Erinnerung und Vergessenwollen tragen miteinander schwere Kämpfe aus.

Weil ich längst nicht alle Filme des Wettbewerbs gesehen habe, will ich von einem erzählen, den wahrscheinlich nicht so viele angeschaut haben: Den Sonderreihen-Beitrag KÖNIG DER DIEBE, eine deutsch-slowakische Koproduktion. Die Geschichte beginnt in einem kleinen Dorf in der Slowakei, als ein Vater seine beiden Kinder an den "Großen Caruso" verkauft. Einen "König der Manege" will dieser aus dem ambitionierten Barbu machen. Doch im fernen Berlin angekommen, sieht die Realität ganz anders aus: Auf einem abgewrackten Zirkusgelände betreibt Caruso eine "Schule", in der er kleine Jungen vorrangig aus Osteuropa zu professionellen Dieben ausbildet.
Lazar Ristovski als Caruso, den man von Kusturicas UNDERGROUND kennt, verleiht dem Film seine sehr spezielle Färbung, genauso wie die beiden Nebenfiguren: Katharina Thalbach hängt als verbitterte Ex-Partnerin des einstigen Zirkusstars Caruso an der Nadel und Birol Ünel (GEGEN DIE WAND) mimt den finsteren Gehilfen, der den kleinen Oliver Twists als peitschenschwingender Dompteur die Spielregeln einimpft.

Lange Zeit durchschaut Barbu die Machenschaften von Ersatzvater Caruso nicht und hält dem Alkoholiker hingebungsvoll die Treue. Der große Bruch kommt erst, als Barbu erkennt, dass seine Schwester Mimma gar nicht "nachkommen" wird, sondern Caruso die 12-Jährige längst beim Pokern an einen fiesen Zuhälter verscherbelt hat.
KÖNIG DER DIEBE ist ein surreales, brutales und dabei magisches Märchen. Es entlässt Barbu und Mimma in ein Happy End, wie es sich für ein Märchen gehört, außerdem wäre alles andere nach den gewaltigen zwei Stunden pure Folter: Die beiden Kinder finden den Weg zurück in ihr slowakisches Heimatdorf. Natürlich ahnt der Zuschauer, dass die Realität fast immer anders aussieht. Wer über 14 ist, muss entweder professionell ins Geschäft einsteigen, oder wird von den Menschenhändlern "entsorgt".

Der Wettbewerbsfilm FOLGE DER FEDER ist ein Abschlussfilm der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin. Die Sinnsuche der Protagonistin hat auch hier etwas mit der Elterngeneration zu tun: Die junge Türkin Hêlin kommt aus Anatolien nach Berlin, weil sie dort einen wesentlich älteren deutschen Türken heiraten soll. Sie nutzt die erstbeste Gelegenheit, um Reißaus zu nehmen - denn eigentlich will sie vor allem ihre Mutter finden, die vor über zehn Jahren mit der älteren Schwester ausgewandert ist und Hêlin mit dem Vater zurückgelassen hat. Auf poetische und bisweilen pathetische Weise erzählt die Regisseurin Nuray Sahin in ihrem Film von den Schwierigkeiten, mit denen Hêlin und ihre Mutter nach so langer Zeit zueinander finden. Und natürlich sucht Hêlin nach ihrer ganz persönlichen Version vom Glück. "Folge der Feder" ist der Schlüsselsatz des verstorbenen Vaters, den Hêlin aus ihren Träumen mit ins reale Leben nimmt, und der auch immer wieder an eine Versöhnung von progressiver und traditioneller türkischer Werte gemahnt. Dafür gab es immerhin den Publikumspreis.

Ein fast durchgängiges Thema im diesjährigen Wettbewerb, ganz abgesehen von der Edgar-Reitz-Sonderreihe, war der rückgewandte Blick auf das, was als "Heimat" bezeichnet werden könnte, auf die Wurzeln der Helden. Ganz konkret erzählt der Eröffnungsfilm LITTORAL diese Geschichte. Ein Film, der zu großen Teilen autobiographisch ist und den der bisherige Theaterregisseur Wajdi Mouawad machen musste, komme was wolle. Sein Erstlingswerk ist ein großer visueller Film, nuanciert, drastisch, grotesk vor allem sehr filmisch.
Er erzählt die Geschichte des kanadischen Libanesen Wahab, der seinem Vater zum ersten Mal gegenübertritt, als er ihn in der Pathologie identifizieren soll. Denn der Tod von Wahabs Mutter bei seiner Geburt hatte den Vater so aus dem Gleichgewicht gebracht, dass er dem Sohn Zeit seines Lebens nicht begegnen konnte.
Die Verwandten legen ihr Veto ein, als Wahab seinen Vater neben der Mutter begraben will, und so reist der Elternlose mit Sarg in den Libanon, um das Heimatdorf des Vaters zu finden. Doch auch dort will man den Exilgänger nicht. Zumal die Gräber ohnehin von Leichenfledderern der syrischen Armee ausgeraubt werden.
Eine wilde Jagd beginnt - auf der Suche nach den libanesischen Zulieferern, die Sarg und Leichenwagen gestohlen haben, über verminte Felder und die libanesisch-syrische Grenze. Wir sehen eine Lost Generation, diese jungen Männer und Frauen um die 30, die nicht wissen, warum ihre Eltern überhaupt in den Krieg gezogen sind, weil die Vergangenheit totgeschwiegen wird.

Heimat ist etwas, erzählt Edgar Reitz, dem man nicht entkommen kann. Im Positiven wie im Negativen. Auch wenn die Heimat - durch Krieg und Emigration - nicht mehr vorhanden ist, kann man sich doch nie der Suche nach ihr entwinden. Die Heimat will erhört werden. Und wenn man LITTORAL gesehen hat, kann man den Grumpy Old Men nur eines entgegnen: "Die guten Ideen überleben, egal wie fett die Jahre sind."

Anja Marquardt

 

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