"Man muss alles verändern, damit alles so bleibt,
wie es ist." Der berühmte Satz aus Lampedusas "Der
Leopard", selbst Vorlage einer der schönsten Filme
der italienischen Filmgeschichte, fällt einem schnell
ein, wenn man an die Filmfestspiele von Venedig denkt. Wieder
einmal ist alles anders - und wieder ist alles wie immer.
Zum dritten Mal in vier Jahren hat das Festival einen neuen
Leiter: Marco Müller, aus der italienischen Schweiz stammend,
mit schwedischer Mutter, war lange Jahre erfolgreicher Leiter
des Festivals von Locarno - da hatte er mit Leoparden schon
seine eigenen Erfahrungen sammeln können - war danach
eine Weile Produzent, als Student Maoist, der während
der Kulturrevolution einige Jahre im "Reich der Mitte"
verbrachte, ein China-Kenner ersten Ranges - es wird kolportiert,
er spräche 13 verschiedene Mandarin-Dialekte -, heute
ist er als Kandidat der rechtsextremen Berlusconi-Koalition
gegen den Willen der römischen Kulturszene als Ersaatz
des unbeliebten Moritz de Hadeln durchgedrückt worden
- mit Vier-Jahres-Vertrag, was hier nichts heißen muss,
wenn im Herbst eine neue Regierung gewählt wird. Lange
war hier keiner mehr vier Jahre in dem Amt des Festspielleiters.
+++
Müller ist jedenfalls eine schillernde Figur, wie ein
Irrlicht überall aktiv, und um diese Aktivität zu
demonstrieren, hat er nicht nur die Programmhefte umdesigned
und 61 geflügelte venezianische Löwen in Gold (und
aus Pappe) am Lido aufgestellt, sondern auch Substantielleres
verändert. Radikal wurde das Programm verschlankt: Nur
71 Filme laufen beim noch immer drittwichtigsten A-Festival
der Welt - in Berlin und Cannes sind es viele hundert. Abgeschafft
wurde kurzerhand die zweite Hauptreihe für Jungfilmer,
die mit ihren jungen, frischen, innovativen Filmen dem Wettbewerb
zuletzt ernsthafte Konkurrenz machte - etwa LOST IN TRANSLATION
gewann hier im Vorjahr den Preis -, und damit geht dem Festival
auch ein lukrativer Preis verloren. Dafür gibt es gleich
mehrere neue, noch etwas unklare Sektionen mit verwirrenden
Titeln: "Giornate degli Autori", "Cinema digitale",
"Mezzanotte". Die wichtigste sind die "Orizzonti",
wo immerhin unter anderem am Montag Oskar Roehlers neuer Film
AGNES UND SEINE BRÜDER Premiere hat.
+++
Mit den "Mezzanotte" hat Müller immerhin jene
wunderbare, von de Hadeln blöderweise abgeschaffte Institution
der Mitternachtsfilme wieder eingeführt, die einen ganz
besonderen Reiz des Festivals ausmacht. Wer will, kann hier
nämlich wirklich acht oder neun Filme am Tag sehen, darf
auch um Mitternacht ins Kino gehen, und stattdessen mal in
der Septembersonne mittags eine Siesta halten. Kein Festival
ist so tolerant wie Venedig, das hat sich auch unter Müller
nicht geändert: Viele Wiederholungen, man kann immer
und muss nie ins Kino - außer weil die Filme gut sind.
Und sogar "Mezzanotte" ist ein relativer Begriff:
Wiederholt werden diese Filme nämlich um 8.30 morgens.
Also tatsächlich mitten in der Nacht.
+++
Ein menschliches Drama gab es als Eröffnungsfilm zu
sehen: Tom Hanks, Catherine Zeta-Jones und Steven Spielberg
- das war die attraktive Kombination von TERMINAL. Für
Spielberg selbst gewiss ein Nebenwerk: Fast wie ein Kammerspiel
wirkt diese Geschichte von dem Mann osteuropäischer Herkunft,
der durch eine Laune des Schicksals auf dem New Yorker-Airport
eingeschlossen bleibt - rein darf er nicht, weg will er nicht.
So wird er zunächst zum guten Mensch des Flughafens,
hilft allen und jedem, und erlebt dann wie zur Belohnung seinen
höchstpersönlichen amerikanischen Traum, mit Catherine
Zeta-Jones als Sahnehäubchen. Mit TERMINAL erweist sich
Spielberg wieder einmal als der große Linksliberale
des Mainstreamkinos und hat ein sympathisches Rührstück
gedreht, das das US-Publikum daran erinnert, dass Fremde meistens
keine Terroristen sind, sondern Menschen wie Du und ich, weswegen
man dem Film seine simplen Mittel gern verzeiht. Freilich
ist der Fremde hier einer, der - passenderweise aus Sicht
aller Einwanderungsfeinde - am Ende wieder geht. Ein Spielbergscher
Heimatfilm und eine Art irdische Version von E.T., passend
zu den Verhältnissen der Globalisierung. Kein künstlerischer
Glanzpunkt, aber eine gute Eröffnung - falls man sich
nicht von Tom Hanks nerven läßt, der einmal mehr
den Forrest Gump gibt, mit allen Manierismen seines osteuropäischen
Dialekts und am Schluß fast wie E.T. stammelt: "I
want to go home".
+++
Der eigentliche Wettbewerb begann mit 5x2, dem neuen Film
von François Ozon. Gleich ein Höhepunkt! Wie immer bei
dem Regisseur von SOUS LE SABLE und SWIMMING POOL ein völlig
unerwarteter Film, voller Überraschungen, experimentell,
genau und vor allem einfach gut. Von der ersten Minute an
zieht 5x2 einen in Bann: Man sieht ein Paar, dass sich scheiden
läßt - und gleich anschließend erst mal miteinander
schläft. Was da im Hotelzimmer geschieht, verrät
alles - warum sich das Paar trennen will und warum es voneinander
nicht loskommt. In der Intensität, in der Aufmerksamkeit
für kleinste Schwingungen zwischen den Figuren, in der
Präzision der Inszenierung, fühlt man sich an Ingmar
Bergman und besonders seine SZENEN EINER EHE erinnert. Ozon
erzählt sie rückwärts: Die letzte der fünf
Szenen schildert den Beginn der Liebe. Aber indem der Zuschauer
mehr weiß, als die Figuren, sieht er alles sozusagen
mit zweitem, weiseren und abgeklärten Blick - Ozon macht
einen zum gütigen und melancholischen Allwissenden, der
doch nichts ändern kann, sondern im Drama der Figuren
auch sein je eigenes Drama gespiegelt findet.
+++
"Man muss alles verändern, damit alles so bleibt,
wie es ist." - Das gilt auch für Edgar Reitz, dessen
HEIMAT 3 - CHRONIK EINER ZEITENWENDE, insgesamt über
12 Stunden Film, nach jahrelanger Vorbereitung in Venedig
endlich läuft. Reitz erzählt die Geschichte seiner
Figuren aus DIE ZWEITE HEIMAT in der Jetztzeit weiter. Hauptfigur
und Reitz-Alter-Ego Hermann gerät in den Strudel der
Wiedervereinigung 1989 und kehrt selbst in die alte Heimat
im linksrheinischen Schabbach zurück. Im Unterschied
zu den beiden ersten Werken gibt es hier zumindest zum Aufftakt
weder einen einheitlichen Ort, noch ein klar umrissenes Milieu.
Als gehe Reitz selbst, je näher sein Epos der Gegenwart
rückt, der feste Halt seiner Geschichte verloren. Doch
schnell war auch wieder der alte HEIMAT-Sog zu spüren,
so klar ist Reitz' Vision und erkennbar, dass sich hier einer
mehr vorgenommen hat als viele andere: Aus "Geschichten"
soll repräsentative Geschichte werden.
Rüdiger
Suchsland
|