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"Hab' ich ein Herz aus Stein?" Nein nein, die Kollegin
einer Berliner Zeitung, die sich gleich am frühen Morgen
vor dem Kino dieser entsetzten Selbstprüfung unterzieht,
war einfach nur in VERA DRAKE, dem neuen Film von Mike Leigh.
Wie immer geht es um die Erniedrigten und Beleidigten in England,
diesmal dreht sich die Handlung um eine selbstlose Frau in
den 50er-Jahren - aber im Grunde ist es der immergleiche Film,
den Leigh seit 30 Jahren dreht: Soz-Päd-Kino für
die besseren Stände, die sich hier einmal so richtig
im Dreck suhlen und schlecht fühlen dürfen. Wenn
sie das nicht tun, sind sie wohl irgendwie böse. Währenddessen
werden ein paar salonlinke Klischees wiedergekäut: Zum
Beispiel, dass gute Menschen aus Prinzip häßlich
sind. Und was kommt dann dabei heraus? Man sitzt im Kino und
kann es kaum erwarten, endlich reich und böse zu sein.
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"So'n richtigen Knaller hab ich noch nicht erlebt."
Sagt die gleiche Kollegin, als sie sich von Leigh Depressionskino
ein bißchen erholt hat. Stimmt: Kaum Reinfälle
gab es zwar im Wettbewerb, allerdings auch nur wenige wirkliche
Überraschungen und stilistisch Neues. Und auch am fünften
Tag läßt in Venedig noch das auf sich warten, weswegen
man auf Filmfestivals fährt: Eine wirkliche Überraschung,
ein Film, der einem für einen Augenblick das Herz stillstehen
läßt. Der einen Schauer über den Rücken
jagt, über den man auch beim dritten Bier noch nicht
aufgehört hat zu reden, und auch nicht am dritten Tag.
Am nächsten kommt dieser Erfahrung tatsächlich Michael
Manns COLLATERAL - die meisten Festival-Besucher sind sich
einig, wie wunderbar dieses L.A.-Nachtstück ist, dass
dies ein Preiskandidat wäre, liefe er nicht leider außer
Konkurrenz, weil selbst Preise in Amerika wohl eher verdächtig
sind.
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Liebe und Leben in Zeiten der Bush-Ära: Da geht es nicht
zuletzt um viel Geld. Folgerichtig lässt Spike Lee schon
die Titel seines neuen Films über leinwandgroße
Dollarnoten laufen; die Köpfe der Präsidenten sind
zu sehen - Anlass für eine erste Spitze gegen George
Dabbelju, denn der kommt auch vor, auf einer 3-Dollar-Note
-, sowie der Satz, der auf allen Scheinen steht: "In
God we trust". Manchmal hilft wirklich nur noch Gottvertrauen.
Zum Beispiel Jack Armstrong. Zuerst bringt sich ein Kollege
um (ein deutscher Wissenschaftler, gespielt von David "Blechtrommel"
Bennent). Dann fliegt er aus seinem Top-Job im Hochhausbüro
einer New Yorker Pharma-Firma, weil man ihm vorwirft, schmutzige
Geschäftsgeheimnisse verraten zu haben. Jetzt bekämpft
ihn seine Ex-Firma nach allen Regeln der juristischen Kunst.
Zugleich hat sich ihm seine Ex-Freundin wieder angenähert,
und bald kommt er zu einem merkwürdigen Zweitjob, als
Samenspender für lesbische Top-Managerinnen...
Schicksale aus dem Alltag der New Economy: SHE HATE ME von
Spike Lee - im Wettbewerb außer Konkurrenz, denn Lee
ist Jury-Mitglied - ist eine Satire auf das Leben der Schönen
und Wohlhabenden unserer Zeit, eine Geschichte von scheiternden
Karrieren und Neuanfängen, virtuos und sehr humorvoll
erzählt, dabei voller sarkastischer Spitzen auf Bushs-Politik.
Der Film schließt an Lees letzte Werke seit SUMMER OF
SAM an, kein schwarzes Agitprop-Kino mehr, sondern ein Panorama,
wie man es von italoamerikanischen Regisseuren kennt, oder
von Woody Allen. Dabei im politischen Standpunkt denkbar klar.
Nur dass hier eben eine Haltung zum Ausdruck kommt, nicht
wie bei Leigh den längst Gläubigen Offenbarungen
und dazu eine warme Suppe zuteil werden.
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Etwas Ähnliches wie Spike Lee, eine bittere Satire voller
Zeitbezüge gelingt Oskar Roehler mit AGNES UND SEINE
BRÜDER in der Horizonte-Reihe. Das Portrait dreier sehr
unterschiedlicher Brüder gerät zur Gesellschaftsfarce
à la AMERICAN BEAUTY: Herbert Knaup als rotgrüner
Staatssekretär erlebt gerade, wie ihm Frau und Sohn entgleiten,
sein einer Bruder ist ein sexbesessener Taugenichts, der andere
ein Transvestit, der statt Martin nun Agnes heißt. Ein
Film, wie man ihn aus Deutschland zu selten sieht, voller
Frische und Witz. Roehler läßt wenig Gags aus,
trotzdem gelingen ihm immer wieder Momente voller Tiefe. Das
Panorama ist so hysterisch, wie die Bundesrepublik der Gegenwart.
Nur manchmal entgleitet der Stoff, sodass das Gesamtbild nicht
absolut überzeugt; zu verschieden ist die Qualität
der Episoden. Und am Ende will auch Roehler dann plötzlich
Botschaften verkünden: Alle ham' sich wieder lieb, zwei
seiner Figuren gehen "nach Bagdad" weil man da noch
richtig was bewirken kann, und die irgendwie störende
Transe ist durch Tod aus der Welt. Oder war das alles auch
noch eine satirische Volte, die wir nur einfach nicht verstanden
haben?
Manchmal hat man jedenfalls so oder so den Eindruck, der Regisseur
habe eigentlich gern drei Filme machen wollen, und sich für
keinen recht entscheiden können. Doch beweist Roehler
einmal mehr, dass er zu den besten deutschen Regisseuren gehört,
immer spürbar ist sein Wille, private Horizonte zu überschreiten,
etwas Spezifisches aus unserer Zeit zu erzählen.
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Zumeist geht es apolitischer und ernster zu: Private Dramen,
äußerlich klein, innerlich manchmal ganz groß,
dominieren die Filme der ersten Tage. Mehrere von ihnen -
dummerweise laufen sie immer morgens um halb neun, wenn man
eigentlich gerade erst wieder unter die Lebenden zurückzukehren
versucht - verbindet das Thema des Sterbens, mit dem auch
Roehlers Film entfernt zu tun hat. Ganz im Zentrum steht es
in MAR ARDENTO vom Spanier Alejandro Amenabar (ABRE LOS OJOS;
THE OTHERS), einem der stärksten Filme bisher. Anfangs
fürchtet man das Schlimmste: wieder einmal die Geschichte
vom Behinderten als dem besseren Menschen. Und ein bisschen
bleibt es auch so. Sein Hauptdarsteller Javier Bardem gibt
einen Krüppel, der gemessen an seinem Schicksal - vom
Kopf ab gelähmt, liegt er seit 30 Jahren im Bett - und
an seinen Zukunftsplänen - er kämpft um die Erlaubnis,
sterben zu dürfen - schon verdammt gut gelaunt ist. Außerdem
schreibt er Gedichte und schöne Frauen stehen an seinem
Bett Schlange. Ganz schön kitschig ist das alles und
auch ziemlich unglaubwürdig: Womit die Leute eigentlich
ihr Geld verdienen ist unklar, und der schönen Anwältin
hat der Drehbuchautor auch noch eine unheilbare Krankheit
angedichtet. Doch der Film hat auch gute Seiten: Über
die Geschichte eines, der um Sterbehilfe kämpft, entfaltet
er einen fein ziselierten, familiären Mikrokosmos, und
zeigt, ohne je zu moralisieren, den Reichtum des Lebens.
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Auch ROY ET REINE von Arnaud Desplechin dreht sich um den
Tod. Aber anders. Nora, die junge Frau im Zentrum der Geschichte,
von Anfang an einnehmend gespielt von Emmanuelle Devos, scheint
den Tod anzuziehen. Ihr erster Mann kam um, nun wird ihr Vater
binnen weniger Tage sterben. Mit der Zeit erfahren wir mehr
über all das, auch über ihren Sohn und vor allem
über die Gründe für die merkwürdige Hysterie,
der Noras Verhalten und eigentlich den ganzen Film prägt.
ROY ET REINE ist intensiv und realistisch, von angenehmer
Spannung auch über die fast drei Stunden Filmlänge.
Eine Tragikomödie über eine persönliche Katharsis:
Unangenehme Erinnerungen zwingen Nora, sich selbst neu zu
definieren.
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Das Tal der Tränen haben wir somit durchschritten, noch
viele Filme erwarten uns, und vielleicht steht er aber ja
unmittelbar bevor, der Knaller. Denn bald werden die neuen
Filme von Todd Solondz (HAPPINESS; STORYTELLING) und Kim Ki-duk
(THE ISLE; SPRING, SUMMER...) gezeigt, überhaupt viele
Asiaten, die - da sind wir ganz sicher - uns von alle europäischen
Depressionen heilen werden.
Rüdiger
Suchsland
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