KINO MÜNCHEN FILM AKTUELL ARCHIV FORUM LINKS SITEMAP
Venedig 2004 07.09.2004
 
 
Tagebuchnotizen, 4. Folge
Vorteil Solondz!
The meaning of timing, Palindrome und andere Kulissenspiele
Almodovars LA MALA EDUCATION
Komplex und leidenschaftlich: PALINDROMES
 
 
 
 


"Welcome to the breakfast-screening! Mr.Müller is soon gonna serve you some croissants; then I am gonna tell him the meaning of timing. And after that I will put his feet in concrete and throw him into the Canal Grande." - Miramax-Boss Harvey Weinstein war offenkundig gut drauf, als morgens, kurz nach zwei, endlich doch noch NEVERLAND Premiere hatte, und Johnny Depp doch noch auf dem roten Teppich entlang lief. Aber bei Weinstein, auch wenn er fröhlich grinst, weiß man nie so genau, ob er das, was er sagt, ernst meint oder nicht. Marco Müller jedenfalls war sich offenbar nicht so sicher. Oder bei den Verspätungen handelt es sich um eine besonders trickreiche Finte: Die Stars werden zwar an den Lido gelockt, ein Foto für die Zeitung wird gemacht, damit die Politiker in Rom zufrieden sind, die mehr Glamour eingefordert haben, ansonsten stören sie aber nicht weiter.

+++

Unter seinem neuen Leiter wirkt das Festival am Lido nach einer knappen Woche chaotischer denn je. Noch nie waren die Verspätungen so groß wie diesmal. Und wenn die Filme pünktlich anfangen, dann überschneiden sie sich zum Teil mit ihren eigenen Pressekonferenzen, weshalb nur diejenigen dort sind, die den Film noch nicht gesehen haben. Aller angeblichen Entschlackung zum Trotz ist das Programm dicht gedrängter und unübersichtlicher denn je, genauso wie der Platz vor dem Festivalzentrum. Noch vor zwei Jahren konnte man hier entspannt in der Sonne sitzen, heute sieht es aus wie auf dem Münchner Oktoberfest: Dicht drängen sich die Jahrmarktsbuden nebeneinander: DVD-Stände und Telefongesellschaften. Bald werden die Sponsoren das Festival abschaffen, weil es doch nur den Gang der Geschäfte stört.

+++

Aviva, ein 12-jähriges Mädchen, beschließt, Mutter zu werden. Sie tut alles dafür, doch als sie schwanger wird, zwingen sie die Eltern zur Abtreibung. Weil der Arzt einen Fehler macht, kann sie nie wieder Kinder bekommen. Die Eltern verschweigen ihr dies. Sich unverstanden fühlend, und immer noch in der Hoffnung, schwanger zu werden, reißt Aviva von zuhause aus. Per Anhalter, dann mit einem Boot, dann zu Fuß und schließlich wieder per Auto ist sie unterwegs. Schnell wird die Reise zu einem Weg ins Gehölz Amerikas, Traumfahrt und Seelentrip, éducation sentimentale, auf der Aviva guten und bösen Menschen begegnet, Geistern und Monstern. Am Ende schließt sich ein Kreis, doch ob irgendetwas ist, wie zuvor, bleibt offen.
Dies ungefähr ist die Handlungsstruktur von PALINDROMES, dem mit besonderer Spannung erwarteten Film von Todd Solondz. Ein Palindrom ist ein Wort, das sich in beide Richtungen lesen lässt, wie Otto, Bob oder eben Aviva. Dies Prinzip entspricht der Struktur des Films ebenso wie den Haltungen, die wir ihm gegenüber entwickeln können. "Es bleibt immer dasselbe", heißt es einmal. Gewidmet ist der Film Dawn Wiener, der Hauptfigur von Solondz Erstling WELCOME TO THE DOLLHOUSE.

+++

PALINDROMES ist ein ebenso interessanter wie schwieriger Film, schwierig, weil er sich sperrt, er nicht auf Anhieb verständlich ist. Vom ersten Augenblick an meint es Solondz ganz ernst. Das hat jener Teil des Publikums nicht verstanden, der den Film mit bisher noch nicht erlebter Lachbereitschaft verfolgte, wohl in Erwartung, ein zweites HAPPINESS zu erleben, obwohl es auch in dem nicht so viel zu lachen gab. Hier gibt es ironische und sarkastische Dialoge, aber im Prinzip sehr wenig zu lachen. Dafür ist die Geschichte um Hässlichkeit und White-Trash-Spießertum, Missbrauch und christlichen Fundamentalismus, Gewalt und Liebe zu traurig, die Abgründe zu tief, die hier aufgerissen werden.
Dies ist kein Film, den man auf den ersten Blick lieben kann, aber auch weit entfernt von aller "Menschenverachtung", die ihm manche vorwarfen. Solondz ignoriert vermeintliche Einverständnisse, bricht mit Tabus, ohne aus dem Tabubruch wiederum eine Pose zu machen, hält sich nicht an vermeintliche Einverständnisse der Erzählens.
Dazu gehört auch die faszinierende Idee, die Hauptfigur von mehr als einem halben Dutzend verschiedener Darstellerinnen spielen zu lassen - gleichzeitig, d.h. dass ihr Alter hier keine Rolle spielt. Ebensowenig äußere Ähnlichkeit oder ihre Hautfarbe. Eine von ihnen ist Jennifer Jason Leigh, die hier eine 20 Jahre jüngere Figur spielt.
Dies alles muss einem nicht nur einfallen, man muss es auch umsetzen. Das gelingt Solondz. Es ist hochspannend, zu erleben, wie das Vervielfachen der Darsteller den Zuschauer-Blick verändert: Man bleibt distanziert, beginnt aber überhaupt auch einmal zu spüren, welchen Einfluß das Aussehen eines Darstellers auf die Wahrnehmung hat.

+++

Andererseits wirkt dies alles auch wie eine Idee, die extra für Filmkritiker eingebaut wurde, um ihre Interpretationsmaschine zum Kollaps zu bringen. Ganz konsequent ist Solondz hier sowieso nicht, lässt er Aviva doch mal von Schwarzen, mal von Weißen spielen, aber weder von einem Mann, noch von einer Alten.
Und noch ein Eindruck, vorläufig ganz irrational: Irgendwas stimmt nicht mit diesem Film, irgendetwas fehlt. Aber dass das einen das auch am Tag später beschäftigt, spricht für den Film.
Es bleibt dabei: PALINDROMES ist intelligent und stellenweise großartig, komplex und leidenschaftlich. Dass er es immer ernst meint, kann nun auch ein Todesurteil über einen Regisseur sein, und Ähnliches könnte man wohl auch über Mike Leigh formulieren. Aber bei Solondz ist dies vor allem eine Aussage über die Form. Sein Blick ist genau, liebevoll, neugierig. Und so schafft er berührende Momente: Etwa als sich ein Paar verabschiedet, im Wissen, dass der Mann gleich von der Polizei erschossen wird: "My real name is Bob." - "Mine is Aviva."
Oder wenn Solondz eine Familie christlich-reaktionärer US-Fundamentalisten in all ihrer Herzlichkeit und Nettigkeit zeigt, die es auch gibt, ohne dass der Zuschauer je vergisst: Hier steht der Feind; dieses Milieu ist es, dass für alles steht, was man an den USA nicht mag. Auch das muss einem als Regisseur erst einmal gelingen.

+++

Todd Solondz ist also jedenfalls nicht "nur ein One-Hit-Wonder", wie es einer etwas zu hübsch gleich nach der Vorstellung meinte. Man tut ihm Unrecht, wenn man seine neuen Filme immer mit seinem Meisterwerk HAPPINESS vergleicht. Der ist ja nun auch schon über sechs Jahre her, und zudem gelingen auch anderen Regisseuren nicht mit jedem Film Meisterwerke (am Mittwoch läuft zum Beispiel der neue Film von Wim Wenders).

+++

Milde enttäuscht hat dagegen Claude Chabrol mit LA DEMOISELLE D'HONNEUR. Vielleicht ist es Ruth Rendells Vorlage, die dieses Krimi-Kammerspiel arg angestaubt erscheinen lässt, vielleicht die Atmosphäre eines Festivals, bei dem Mittelmäßiges am meisten Wirkung einbüßt. Was bleibt von einem Film ohne allen Chabrol-typischen Humor und soziale Spitzen, sind allein zwei hübsche Hauptdarsteller.

+++

Auch nach zwei Tagen wirkt Spike Lees SHE HATE ME immer noch nach. Was wir beim letzten Mal unterschlagen haben, war, dass der Film auch seiner Schauspieler wegen großartig ist: Woody Harrelson spielt einen bösen Manager und John Turturro einen gutmütigen Mafiaboss. In dessen Wohnung hängt ein großes Poster von Coppolas Paten, und einmal ahmt Turturro auf wunderbare Weise das Nuscheln Marlon Brandos nach. Der Film, das vergessen auch jene, die Lee jetzt allen Ernstes vorhalten, dass er einige Dinge zeigt, die "in der Wirklichkeit" anders sind, ist nicht zuletzt eine gute, satirische Komödie, in der alle ihr Fett abkriegen.

+++

Um zum Abschluss noch ein paar Kollegen zu zitieren: Ausgerechnet der Vertreter einer süddeutschen Tageszeitung, der sonst immer so freundlich wirkt, als könne er kein Wässerchen trüben, meinte nach Besuch von Amos Gitais PROMISED LAND, dies sei "ein unverschämter Scheißdreck". Recht hat er, aber wann hätte Gitai je einen auch nur halbwegs guten Film gemacht? Und über Johnnie To hörte man, ebenfalls zu Recht: "Der macht zu viele Filme." Leider ist damit über dessen Judo-Film RUDAO LONGHU BANG tatsächlich alles gesagt.
Schließlich möchte ein anderer Kollege nach Ansicht von Oscar Roehlers AGNES… in Zukunft jeden Text à la Cato mit dem Satz beenden: "Und im Übrigen sollte Katja Rieman Filmverbot bekommen."

+++

Noch immer verfehlt der Zauber des Ortes seine Wirkung nicht: Alles ist hier füreinander Kulisse: Kanäle, Gondeln und Paläste für den Auftritt der Stars - und diese umgekehrt für Venedig. Noch fünf Tage lang geht die Show weiter, dann werden die Löwen verteilt.
Ein klarer Preisfavorit hat sich also noch nicht herausgeschält. "Vorteil Solondz" darf man wohl für heute formulieren. Aber weil Timing alles ist, im Kino und bei Filmfestivals, sieht morgen vielleicht alles schon wieder anders aus.

Rüdiger Suchsland

  top
   
 
 
[KINO MÜNCHEN] [FILM AKTUELL] [ARCHIV] [FORUM] [LINKS] [SITEMAP] [HOME]