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"Welcome to the breakfast-screening! Mr.Müller is
soon gonna serve you some croissants; then I am gonna tell
him the meaning of timing. And after that I will put his feet
in concrete and throw him into the Canal Grande." - Miramax-Boss
Harvey Weinstein war offenkundig gut drauf, als morgens, kurz
nach zwei, endlich doch noch NEVERLAND Premiere hatte, und
Johnny Depp doch noch auf dem roten Teppich entlang lief.
Aber bei Weinstein, auch wenn er fröhlich grinst, weiß
man nie so genau, ob er das, was er sagt, ernst meint oder
nicht. Marco Müller jedenfalls war sich offenbar nicht
so sicher. Oder bei den Verspätungen handelt es sich
um eine besonders trickreiche Finte: Die Stars werden zwar
an den Lido gelockt, ein Foto für die Zeitung wird gemacht,
damit die Politiker in Rom zufrieden sind, die mehr Glamour
eingefordert haben, ansonsten stören sie aber nicht weiter.
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Unter seinem neuen Leiter wirkt das Festival am Lido nach
einer knappen Woche chaotischer denn je. Noch nie waren die
Verspätungen so groß wie diesmal. Und wenn die
Filme pünktlich anfangen, dann überschneiden sie
sich zum Teil mit ihren eigenen Pressekonferenzen, weshalb
nur diejenigen dort sind, die den Film noch nicht gesehen
haben. Aller angeblichen Entschlackung zum Trotz ist das Programm
dicht gedrängter und unübersichtlicher denn je,
genauso wie der Platz vor dem Festivalzentrum. Noch vor zwei
Jahren konnte man hier entspannt in der Sonne sitzen, heute
sieht es aus wie auf dem Münchner Oktoberfest: Dicht
drängen sich die Jahrmarktsbuden nebeneinander: DVD-Stände
und Telefongesellschaften. Bald werden die Sponsoren das Festival
abschaffen, weil es doch nur den Gang der Geschäfte stört.
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Aviva, ein 12-jähriges Mädchen, beschließt,
Mutter zu werden. Sie tut alles dafür, doch als sie schwanger
wird, zwingen sie die Eltern zur Abtreibung. Weil der Arzt
einen Fehler macht, kann sie nie wieder Kinder bekommen. Die
Eltern verschweigen ihr dies. Sich unverstanden fühlend,
und immer noch in der Hoffnung, schwanger zu werden, reißt
Aviva von zuhause aus. Per Anhalter, dann mit einem Boot,
dann zu Fuß und schließlich wieder per Auto ist
sie unterwegs. Schnell wird die Reise zu einem Weg ins Gehölz
Amerikas, Traumfahrt und Seelentrip, éducation sentimentale,
auf der Aviva guten und bösen Menschen begegnet, Geistern
und Monstern. Am Ende schließt sich ein Kreis, doch
ob irgendetwas ist, wie zuvor, bleibt offen.
Dies ungefähr ist die Handlungsstruktur von PALINDROMES,
dem mit besonderer Spannung erwarteten Film von Todd Solondz.
Ein Palindrom ist ein Wort, das sich in beide Richtungen lesen
lässt, wie Otto, Bob oder eben Aviva. Dies Prinzip entspricht
der Struktur des Films ebenso wie den Haltungen, die wir ihm
gegenüber entwickeln können. "Es bleibt immer
dasselbe", heißt es einmal. Gewidmet ist der Film
Dawn Wiener, der Hauptfigur von Solondz Erstling WELCOME TO
THE DOLLHOUSE.
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PALINDROMES ist ein ebenso interessanter wie schwieriger
Film, schwierig, weil er sich sperrt, er nicht auf Anhieb
verständlich ist. Vom ersten Augenblick an meint es Solondz
ganz ernst. Das hat jener Teil des Publikums nicht verstanden,
der den Film mit bisher noch nicht erlebter Lachbereitschaft
verfolgte, wohl in Erwartung, ein zweites HAPPINESS zu erleben,
obwohl es auch in dem nicht so viel zu lachen gab. Hier gibt
es ironische und sarkastische Dialoge, aber im Prinzip sehr
wenig zu lachen. Dafür ist die Geschichte um Hässlichkeit
und White-Trash-Spießertum, Missbrauch und christlichen
Fundamentalismus, Gewalt und Liebe zu traurig, die Abgründe
zu tief, die hier aufgerissen werden.
Dies ist kein Film, den man auf den ersten Blick lieben kann,
aber auch weit entfernt von aller "Menschenverachtung",
die ihm manche vorwarfen. Solondz ignoriert vermeintliche
Einverständnisse, bricht mit Tabus, ohne aus dem Tabubruch
wiederum eine Pose zu machen, hält sich nicht an vermeintliche
Einverständnisse der Erzählens.
Dazu gehört auch die faszinierende Idee, die Hauptfigur
von mehr als einem halben Dutzend verschiedener Darstellerinnen
spielen zu lassen - gleichzeitig, d.h. dass ihr Alter hier
keine Rolle spielt. Ebensowenig äußere Ähnlichkeit
oder ihre Hautfarbe. Eine von ihnen ist Jennifer Jason Leigh,
die hier eine 20 Jahre jüngere Figur spielt.
Dies alles muss einem nicht nur einfallen, man muss es auch
umsetzen. Das gelingt Solondz. Es ist hochspannend, zu erleben,
wie das Vervielfachen der Darsteller den Zuschauer-Blick verändert:
Man bleibt distanziert, beginnt aber überhaupt auch einmal
zu spüren, welchen Einfluß das Aussehen eines Darstellers
auf die Wahrnehmung hat.
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Andererseits wirkt dies alles auch wie eine Idee, die extra
für Filmkritiker eingebaut wurde, um ihre Interpretationsmaschine
zum Kollaps zu bringen. Ganz konsequent ist Solondz hier sowieso
nicht, lässt er Aviva doch mal von Schwarzen, mal von
Weißen spielen, aber weder von einem Mann, noch von
einer Alten.
Und noch ein Eindruck, vorläufig ganz irrational: Irgendwas
stimmt nicht mit diesem Film, irgendetwas fehlt. Aber dass
das einen das auch am Tag später beschäftigt, spricht
für den Film.
Es bleibt dabei: PALINDROMES ist intelligent und stellenweise
großartig, komplex und leidenschaftlich. Dass er es
immer ernst meint, kann nun auch ein Todesurteil über
einen Regisseur sein, und Ähnliches könnte man wohl
auch über Mike Leigh formulieren. Aber bei Solondz ist
dies vor allem eine Aussage über die Form. Sein Blick
ist genau, liebevoll, neugierig. Und so schafft er berührende
Momente: Etwa als sich ein Paar verabschiedet, im Wissen,
dass der Mann gleich von der Polizei erschossen wird: "My
real name is Bob." - "Mine is Aviva."
Oder wenn Solondz eine Familie christlich-reaktionärer
US-Fundamentalisten in all ihrer Herzlichkeit und Nettigkeit
zeigt, die es auch gibt, ohne dass der Zuschauer je vergisst:
Hier steht der Feind; dieses Milieu ist es, dass für
alles steht, was man an den USA nicht mag. Auch das muss einem
als Regisseur erst einmal gelingen.
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Todd Solondz ist also jedenfalls nicht "nur ein One-Hit-Wonder",
wie es einer etwas zu hübsch gleich nach der Vorstellung
meinte. Man tut ihm Unrecht, wenn man seine neuen Filme immer
mit seinem Meisterwerk HAPPINESS vergleicht. Der ist ja nun
auch schon über sechs Jahre her, und zudem gelingen auch
anderen Regisseuren nicht mit jedem Film Meisterwerke (am
Mittwoch läuft zum Beispiel der neue Film von Wim Wenders).
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Milde enttäuscht hat dagegen Claude Chabrol mit LA DEMOISELLE
D'HONNEUR. Vielleicht ist es Ruth Rendells Vorlage, die dieses
Krimi-Kammerspiel arg angestaubt erscheinen lässt, vielleicht
die Atmosphäre eines Festivals, bei dem Mittelmäßiges
am meisten Wirkung einbüßt. Was bleibt von einem
Film ohne allen Chabrol-typischen Humor und soziale Spitzen,
sind allein zwei hübsche Hauptdarsteller.
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Auch nach zwei Tagen wirkt Spike Lees SHE HATE ME immer noch
nach. Was wir beim letzten Mal unterschlagen haben, war, dass
der Film auch seiner Schauspieler wegen großartig ist:
Woody Harrelson spielt einen bösen Manager und John Turturro
einen gutmütigen Mafiaboss. In dessen Wohnung hängt
ein großes Poster von Coppolas Paten, und einmal ahmt
Turturro auf wunderbare Weise das Nuscheln Marlon Brandos
nach. Der Film, das vergessen auch jene, die Lee jetzt allen
Ernstes vorhalten, dass er einige Dinge zeigt, die "in
der Wirklichkeit" anders sind, ist nicht zuletzt eine
gute, satirische Komödie, in der alle ihr Fett abkriegen.
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Um zum Abschluss noch ein paar Kollegen zu zitieren: Ausgerechnet
der Vertreter einer süddeutschen Tageszeitung, der sonst
immer so freundlich wirkt, als könne er kein Wässerchen
trüben, meinte nach Besuch von Amos Gitais PROMISED LAND,
dies sei "ein unverschämter Scheißdreck".
Recht hat er, aber wann hätte Gitai je einen auch nur
halbwegs guten Film gemacht? Und über Johnnie To hörte
man, ebenfalls zu Recht: "Der macht zu viele Filme."
Leider ist damit über dessen Judo-Film RUDAO LONGHU BANG
tatsächlich alles gesagt.
Schließlich möchte ein anderer Kollege nach Ansicht
von Oscar Roehlers AGNES
in Zukunft jeden Text à
la Cato mit dem Satz beenden: "Und im Übrigen sollte
Katja Rieman Filmverbot bekommen."
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Noch immer verfehlt der Zauber des Ortes seine Wirkung nicht:
Alles ist hier füreinander Kulisse: Kanäle, Gondeln
und Paläste für den Auftritt der Stars - und diese
umgekehrt für Venedig. Noch fünf Tage lang geht
die Show weiter, dann werden die Löwen verteilt.
Ein klarer Preisfavorit hat sich also noch nicht herausgeschält.
"Vorteil Solondz" darf man wohl für heute formulieren.
Aber weil Timing alles ist, im Kino und bei Filmfestivals,
sieht morgen vielleicht alles schon wieder anders aus.
Rüdiger Suchsland
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