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Venedig 2004 09.09.2004
 
 
Tagebuchnotizen, 5. Folge
Paris, Peking
Mehr als nur drei Extreme: Asiatisches Kino am Lido, auch von Claire Denis
Almodovars LA MALA EDUCATION
Kompliation aus Fernost - THREE EXTREMES
 
 
 
 


Früher hat er lebende Frösche zerteilt, Hunde verprügelt, seine Figuren Angelhaken erst essen, dann sich selbst wieder herausziehen lassen, und mit alldem die Besucher internationaler Filmfestivals kräftig schockiert - ohne dass sich solche ungesehenen, einfallsreichen, an Höhepunkte der europäischen Avantgarde anknüpfenden Bilder in Form von Wettbewerbspreisen auszahlten. Seit kurzem nun ist der koreanische Regiestar Kim Ki-duk zahm geworden und macht etwas andere Filme: zärtlich-poetische Etüden im Schatten junger Menschenblüte, Filme voller Zurückhaltung, ebenso buddhistisch wie französisch angehaucht, mit zartem Satie-Klimpern im Hintergrund, ein bisschen braver, aber immer wunderschön - und siehe da: Die Preise purzeln. Für seine letzten zwei Filme bekam er welche, und es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn nicht auch BINJIP in Venedig einen Preis bekommt - so einmütig brachte der Film das Publikum am Lido hinter sich. Wenn es gerecht zuginge, dann dürfte auch Claire Denis nicht leer ausgehen: Mit L'INTRUS erwies sie sich einmal mehr als eine der besten Filmemacherinnen der Welt - und zudem, die einzige Europäerin, die asiatisches Kino dreht: Kino der Bilder, der Andeutungen, der Facetten und des Flanierens.
Aber der Reihe nach...

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"Wir alle stehlen. Es ist allerdings eine Frage des Geschmacks, was wir stehlen und wo." Dies ist nur eine der bedenkenswerten Weisheiten, die Quentin Tarantino hier in Venedig zum besten gibt, diesmal auf der Pressekonferenz zu den "Italian Kings of the B's", den B-Movies, für die er hier als Pate fungiert. Gemeinsam mit Joe Dante saß er da, und stritt sich, welcher der italienischen Regisseure wohl der bessere Dieb ist. Der beste von allen, das ist klar, ist natürlich Tarantino selbst, denn er weiß jedenfalls, wo man am geschmacksichersten stiehlt.

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Wer hat immer noch nicht begriffen, dass das Herz des Weltkinos in Asien schlägt? Man traut sich ja kaum noch, es zu sagen, so alt ist die Nachricht für jeden, der sich mit Gegenwartskino beschäftigt. Doch in Venedig bestätigt sie sich ein weiteres Mal. Die Lagunenstadt hatte schon immer gute Beziehungen zum Fernen Osten, vom Gewürzhandel der mittelalterlichen Dogen bis zu Takeshi Kitanos Festival-Sieg mit HANA-BI. Wenn Kitanos Name hier auf der Leinwand auftaucht, gibt es Spontanapplaus - und sei es auch nur, weil da im Vorspann "Office Kitano" steht, also nur Kitanos Produktionsfirma beteiligt ist. Der Vorspannapplaus ist, wie sich herausgestellt hat, überhaupt ein zuverlässiger Gradmesser für die diesjährige Venezianer Kinoqualität.

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Der von Kitano produzierte Film kommt aus China, und stammt vom jungen Jia Zhangke, von dessen drei Filmen bisher nur vor einigen Jahren PLATFORM in Deutschland zu sehen war. Er ist ein melancholischer Chronist des Umbruchs, der Verschränkung von großen Entwickilungen und dem Alltag seiner Figuren. Sein neuer Film SHIJIE fügt sich inhaltlich auf den ersten Blick in die momentan im europäischen Kunstkino dominierende Vorliebe für triste Stoffe. Doch welch ein Unterschied!
"Hat jemand ein Pflaster?" - sicher zehnmal ertönt diese Frage, rotzig herausgeschrien aus dem Mund eines jungen Mädchens. Derweil flaniert eine gelenkige Handkamera - glänzend geführt von Wu Lik Wai, selbst ein wichtiger Filmemacher - mit unserem Blick durch die Bühnenräume eines Theaters. Musik setzt ein. In diesen kurzen Minuten lernen wir schon viel über Tao, die Hauptfigur des Films. Ihre Kompromisslosigkeit, ihre Energie, ihre heimliche Angst. Ihre Arbeitskollegen und ihren Arbeitsplatz, der für sie fast mit dem Leben identisch ist. Sie scheint Tänzerin zu sein. Am nächsten Tag sieht man sie unter dem Eiffelturm: "Ich bin gerade in Paris", sagt sie, "nachher fahre ich nach Indien." Doch die globale Kulisse, das Jet-Set-Leben der jungen Frau ist nur Schein, www.worldpark.com zeigt ein Insert im Moment, als die Kamera zurückfährt. Und man sieht an der Kulisse im Hintergrund, dass Paris in Peking liegt; der bestechende Schauplatz des Dramas ist der "Worldpark" in Chinas Hauptstadt, eine traumhafte Filmkulisse, wo es alles gibt, neben dem Eiffelturm, dem World-Trade-Center und den Pyramiden auch die sieben Todsünden, Liebe, Ausbeutung und das Sterben. SHIJIE erzählt von ein paar jungen Menschen in Peking, die auf der Suche nach Freiheit sind, und denen diese doch immer wieder entgleitet. Jia knüpft ein dichtes Beziehungsnetz, läßt sich dabei immer wieder auf Exkurse und Episoden ein, und fügt alles zu einem epischen Panorama der Gegenwart, nicht nur in China. Zwingend in Stil und Story, in atemberaubender Farbenpracht, schwerelos schwebenden Bildern, schnellen Schnitten, und kurzen, prägnanten Animationseinlagen besticht der Film von der ersten Sekunde an. Kino als Wunderland; zugleich eine Reflexion über Surrogate, Simulationen und Ersatzbefriedigungen. Denn so wie der Weltpark und das Geschehen in ihm, besteht auch das Leben der Figuren aus falschen Träumen, aus Illusionen und vagen Hoffnungen, die ihnen immer wieder zwischen den Fingern zerrinnen.
Und zeigt, dass man auch schwerblütige und traurige Stoffe auf leichte Weise erzählen kann, mit Humor, doch ohne das Thema zu verschenken. Und dass sich private Geschichten und genaue Zeichnung von sozialen Problemlagen und Machtverhältnissen keineswegs ausschließen. Gewiss: Der Film ist nicht perfekt, etwas zu lang und man glaubt nach dem furiosen Auftakt, vieles darin schon irgendwo ähnlich gesehen zu haben. Stärker als die meisten Europäer im Wettbewerb ist SHIJIE aber allemal.

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Leider hat sich noch nicht allgemein herumgesprochen, dass es ein Zeichen für die Qualität eines Films ist, wenn sich sein Inhalt nicht in zwei Sätzen zusammenfassen läßt. Die Art, wie - zwangsläufig auch an diesem Ort - ein Film auf sein "es geht um..." reduziert wird, brechen viele asiatischen Filme. Sie tun dies, weil es um vieles zugleich geht, weil noch anderes im Raum steht, mitgedacht werden muss, und trotzdem in gewissem Sinn "nichts dahinter" ist, sondern alles sichtbar. Das, worum es vor allem geht, ist das "Wie", die Form und die Erscheinung auf der Leinwand.

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Bezaubert hat das Publikum der erste japanische Beitrag: HOWLS MOVING CASTLE vom Animationsmeister Hayao Miyazaki, der vor zwei Jahren mit SPIRITED AWAY die Berlinale gewann. Diesmal ist die Story in einem fiktiven europäischen Land in einer nicht weniger fiktiven, recht gefährlichen Belle Epoque angesiedelt - einer, in der es futuristische Flugzeuge und Flächenbombardements gibt. Im Zentrum steht ein junges Mädchen, dass durch Zufall in einen Kampf magischer Wesen gerät und von einer bösen Hexe verzaubert wird - in eine alte Frau! Ein Märchen für Erwachsene, zutiefst humanistisch, lustvoll und mit überbordenden Einfällen erzählt - Kino als Reise in Parallelwelten. Mit diesem Film, der einstweilen den internationalen Kritikerspiegel anführt, erweist sich Miyazaki einmal mehr als einer der großen Märchenerzähler unserer Tage, ein Regisseur mit visueller und emotionaler Phantasie, die ihresgleichen sucht.

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"Schönheit und Reichtum, wer will das nicht?", fragte Fruit Chan. "Essen ist der Weg zu beidem. Was man isst, um sich gut zu fühlen, verrät einfach alles."

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Silbergraues Haar auf silbergrauem Kissen, weißes Bettzeug, ein Mann mit weißem Gipsbein, und eine Frau mit roter Jacke, die sich zu ihm hinunterbeugt und ihn küsst, dann viel Haut - wären es nur solche Bilder, müsste man Fruit Chans Film schon sehen. THREE EXTREMES, der Titel eines neuen Kompilationswerkes aus Fernost - wie THREE, der 2003 in Rotterdam lief vom Hongkong-Regisseur Peter Hoo Sun Chan produziert - läßt schon Alptraumhaftes ahnen und zugleich Verführerisches, wenn man weiß, dass drei herausragende, und in ihrem Werk sehr prägnante Filmemacher für den Film verantwortlich sind: Takeshi Miike aus Japan, Park Chan-wook aus Korea und Fruit Chan aus Hongkong. Mit letzterem beginnt dieser Dreiteiler, einer der besten Filme des Festivals. Thematisch und stilistisch verbindet die drei Stücke wenig, außer der Lust am Experiment. Noch nie sah ein Fruit-Chan-Film so wenig "independent" aus, wie DUMPLINGS. Vielleicht liegt es an Christopher Doyles Kamera, vielleicht an den wunderschönen zwei Hauptdarstellerinnen, dass man sich mehr als einmal in einen Wong Kar-wai-Film versetzt fühlt: Eine nicht mehr ganz junge, gut und teuer angezogene Frau kommt in ein verwahrlostes Wohngebiet um dort Dumplings, Teigtaschen zu essen - von den Italienern lustigerweise als "Ravioli" übersetzt -, die offenbar in der ganzen Stadt berühmt sind. Die Tonspur sorgt dafür, dass man sich von Anfang an wie in einem Horrorfilm fühlt, spürt, dass etwas nicht stimmt. Sie sei viel älter, als sie aussieht, eröffnet die Köchin, die sich Tante Mai nennt, schnell, "das liegt an meinen Dumplings." Die sind ein Jugendelixier, schnell sieht auch ihre Kundin noch besser und wieder jünger aus und binnen kurzer Zeit erfüllt sich ihr Wunsch, für den fremdgehenden Gatten - gespielt vom anderen, Tony LOVER Leung - wieder attraktiv zu werden.
Doch was ist das Geheimnis der wirkungsvollen Speisen? Man ahnt es schon früh, die endgültige Antwort erhält man, wenn man sieht, dass Tante Mai, wenn sie keine Ravioli kocht, illegale Abtreibungen vornimmt und sich aus den Embryonen dann gleich für die Füllung bedient. Das ist nicht nur "sick" und nicht nur wunderschön inszeniert; es ist auch ein ernstes Spiel mit den Mythen von ewiger Jugend und Potenz, die in Asien ganz besonders blühen.
Jenseits solcher Mischung aus Pracht und Ekel kommt es im Film auch zu ein paar hübschen Frauenpower-Einlagen, etwa wenn die Ehefrau sich königlich freut, als ihr Mann durch einen Gips ans Bett gefesselt und so ihr hilflos ausgesetzt ist.

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Der zweite Film stammt von Park Chun-wook, seit OLD BOY, der gerade ins Kino gekommen ist, der neueste internationale Asien-Star. CUT ist ein sehr selbstironisches - es beginnt auf einem Filmset, die Hauptfigur ist ein Filmemacher - Spiel mit seinem Beruf und den Allmachtsträumen eines Regisseurs. Zugleich eine recht ernsthafte Abhandlung über verschiedene, scheinbar unlösbare moralische Dilemmata, in die die Hauptfigur gestürzt wird, als ihn zuhaus ein Komparse heimsucht, der sich rächen will. Was an dem Film jenseits der konstruierten Story gefällt, sind die Bilder. Diesmal überladen und dekadent, zitieren sie Fin-de-siècle-Literatur, Visconti-Filme und surrealistische Malerei - einmal mehr ein kleiner Geniestreich.

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Dahinter bleibt Miikes BOX als dritter Beitrag ein wenig zurück: Alles sieht schön aus, doch wirkt der Film wie ein rein formales Spiel mit Stereotypen und Mythen des Horrorfilms - was man Anfang des Jahres schon seinem Berlinale-Beitrag ONE MISSED CALL ankreiden konnte.
Ein B-Movie ist THREE EXTREMES auf keinen Fall, und man fragt sich, warum der Film nicht im Wettbewerb laufen konnte.

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"Wer glaubt, dass ‚B-Movies' früher häßlich, trashig und politisch incorrect waren, dser ist sowieso auf dem Holzweg." - So eine weitere Tarantino-Weisheit. Die Pressekonferenz nimmt er zum Anlass, mal eben kurz zu erklären, dass der Name der Mostra-Retrospektive sowieso ganz falsch gewählt ist: "In the old days" waren die B-Movies die A-Movies, meint er. "Damals zeigte man Double-Features. Die Leute sind natürlich nur wegen der Monsterfilme und Thriller hingegangen, sie wollten Sex an Crime. Danach zeigte man als zweiten Film noch kleine Kunstfilme. Das waren die eigentlichen B-Movies."

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Dass Takashi Miike zu ganz anderem fähig ist, als in BOX, beweist er mit IZO, seinem Langfilm, der in einer Nebenreihe läuft. Der Film handelt von einem unsterblichen Dämon, der durch die Zeiten seit dem Ende des letzten Shogunats, 1865 reist, und Unheil stiftet. Jeden, der sich ihm in den Weg stellt, den tötet er. Zwei Stunden lang sieht man fast ununterbrochen Kampfszenen, meist mit dem Schwert, jedenfalls recht einseitig, weil jener Izo wie gesagt unsterblich ist. Das wirkt redundant und öde, hat aber tieferen Sinn: Denn zum einen konterkariert Miike mit diesem Film jene beliebte Ästhetisierung und Ironisierung des Schwertkampfgenres à la ZATOICHI. Vor allem aber geht es ihm offenkundig um ein weltanschauliches Statement. Denn zwischen den Kämpfen gibt es kurze Einlagen. Mal bekommt der Zuschauer Dokumentarbilder von Krieg und Gewalt, Atombombenexplosionen, Panzer und Kanonen, Paraden, Bilder von Hitler, Stalin und vor allem dem japanischen Faschismus zu sehen. Dann gibt es kurze Lektionen: Etwa den Dialog "What is Revolution?"-"To kill people" oder "History is one big bloodshed" oder "democracy is a hypnosis of masses, a junk-product of civilisation" - Sätze, so bleischwer, wie sonst nur in Edgar Reitz HEIMAT 3. Im Gegensatz zu diesem nimmt Miike seine Ideen aber wirklich ernst und entfaltet ein zutiefst nihilistisches Weltbild.

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Das kann man so über Kim Ki-duk nicht sagen, dessen BINJIP hier erst während des Festivals im Wettbewerb auftauchte - als Überraschungsfilm. Warum das so ist, versteht kaum einer, zumal man unter der Hand hören konnte, dass die Teilnahme des Films bereits Anfang August feststand. Es ging Mostra-Boss Marco Müller also nur um einen weiteren, ziemlichen billigen Trick, um Zusatz-Spannung zu erzeugen. Zugleich gibt das diesem Film besondere Aufmerksamkeit, zudem ist er im Programm mit drei Abendscreenings im größten Kino derart glänzend platziert, dass hier schon offen von Wettbewerbsverzerrung die Rede war. Mit solchen Entscheidungen dürfte Marco Müller seinen Kredit als Neuling noch schneller verspielen, als das sowieso schon in den letzten Tagen der Fall war.

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BINJIP ist, wie schon SAMARIA (Regiepreis bei der Berlinale) ein Film, der von Andeutungen lebt. Die Kunstgriffe, das Irreale sind hier das Schönste, hinter dem die konstruierte Handlung schnell verschwindet. Der Titel verweist auf das Dreiereisen, einen Golfschläger. Golf ist hier eine merkwürdige Metapher. Einerseits für die nouveaux riches in Korea, die daheim in ihren wie eine gefaktes Miniaturversailles mit viel Pseudo-Gold und Pseudo-Marmor eingerichteten Wohnungen als Statussymbol einen Golf-Abschlagplatz besitzen, inklusive Netz, das die Bälle auffängt. Dann auch für die Gewalt, deren direktes Mittel hier kurioserweise tatsächlich Golfbälle. Ein kleines Spiel mit einem Golfball, der zwischen ihnen hin und her rollt, steht aber auch am Beginn des Verhältnisses zweier Namenloser. Wie ein Geist ist der junge Mann, der ganz von fern an den jungen Alain Delon erinnert, in der Wohnung eines alternden Fotomodells aufgetaucht, die sich inzwischen im Goldenen Käfig einer Ehe lebendig begraben fühlt. Ihr Mann schlägt sie - überhaupt müssen die Ehen in Korea, den Filmen der letzten Jahre nach zu urteilen, noch etwas schlechter sein, als woanders -, und so ist sie schnell bereit, sich mit ihm auf sein Motorrad zu schwingen und in den Großstadtdschungel abzutauchen. Ihr Begleiter lebt überhaupt in fremden Wohnungen, durch einen Trick findet er heraus, welche gerade verlassen sind (der Trick ist allerdings, wie sich in der Folge herausstellt, nicht sehr zuverlässig), dort wäscht er sich, kocht und schläft. Zum Spaß repariert er immer irgendwelche kaputten Hausgeräte, oft Meßgeräte wie Uhren und Wagen. Und er wäscht die Klamotten der Bewohner mit der Hand, ein wenig zwanghaft um Reinheit bemüht. Das letzte Ritual ist schließlich, dass er sich in der fremden Wohnung fotografiert. Was sich sehr gewollt anhört, und dies auch ist, muss man sehen, um zu verstehen, wie witzig das ist - lange könnte man noch zusehen.
Von nun an sind die beiden Hauptfiguren in einem kinderleichten und etwas schrägen amour fou vereint. Bis zum Ende werden sie dabei kein Wort miteinander sprechen, es quasseln immer nur die anderen. Woher der junge Mann kommt, erfährt man nicht. Und was dann da am Ende genau passiert, wenn der Film immer verrücktere Einfälle hat, darüber dürfte man sich in den nächsten Jahren noch die Köpfe zerbrechen - der Film ist in erster Linie unmittelbare Wirkung, bei aller Schönheit verblasst er schon nach ein paar Stunden stärker, als Kims andere Filme.

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Nicht verblassen wird hingegen L'INTRUS von Claire Denis. Ein filmischer Befreiungsschlag nach all dem Moral-Getue, und bravem Konversationskino, das sämtliche europäische Filme mit Ausnahme Ozons prägt. Visuell und gedanklich eine Annährung an asiastische Zugangsweisen, an ein Kino, dass mit den Augen fühlen kann.
Ein erstaunlicher, rätselhafter Film, weil er zunächst einmal eine einzige Verwirrung ist, weil er Schönheit, erzählerische Klugheit und Einfallsreichtum mit jener Verstörung verbindet, die früher zu Kim Ki-duks Markenzeichen gehörte. Hermetisch, einzigartig.
Denis erzählt die auch von ihr schon oft erzählte Geschichte vom Verhältnis zwischen Zivilisation und Wildnis. Wobei es hier vor allem um Wildnis geht. Sorgfältig portraitiert Denis das Leben im Schweizer Grenzland zu Italien, ein paar Menschen hier. Nachts kommen die illegalen Grenzgänger, Eindringlinge, nachts schleichen auch Menschen um die Häuser und in die Träume
Man erlebt Louis, einen älteren Mann, der mit seinen Hunden in einer Waldhütte lebt. Nach und nach bekommt man mit, dass er herzkrank ist, dass er Sport treibt, zu seinem Sohn und dessen Familie nicht besonders nett ist, dass die Apothekerin seine Geliebte ist - und dass er Menschen umbringt, wenn sie im falschen Moment seiner Hütte zu nahe kommen. Einen tötet er mit dem Messer, dass er immer mit sich herumträgt, und plötzlich wirkt er wie eine Bestie, ein Vertreter der Natur, die in die Zivilisation immer wieder eindringt.

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Doch immer wieder führt Denis uns in die Irre. Es geht nicht um die Morde Louis', es geht nicht um die Menschen in seiner Umgebung, die eine junge Frau, die mal seine Geliebte war (ein Wiedersehen mit Béatrice Dalle), und die andere, von der er Angstträume hat, die es aber auch in Wirklichkeit gibt, weil sie es ist, die ihm in Rußland ein neues Herz verschaffen soll. Nachdem das tatsächlich geschehen ist, reist Louis nach Korea, nach Thailand, dann in die Südsee - und man erinnert sich an alle Südseeträume, alle Reisen des Kolonialzeitalters, von Gauguin, bis zum "Herz der Finsternis", von Stevenson bis Kipling.
L'INTRUS ist inspiriert, wie Denis schreibt, von jenem gleichnamigen Buch, in dem der französische Philosoph Jean-Luc Nancy von seiner Herztransplantation und seiner anschließenden Krebserkrankung berichtet, ist eine Übung in jenem "wilden Denken", das Claude Lévi-Strauss einst beschrieb, ein Stück Ethnologie der Seele. Fast alles hier ist grundsätzlich gemeint, Ausdruck eines Prinzips, und damit Philosophie - etwa das Wetter, das Verhältnis der Menschen zu den Tieren, zum Tod, zum eigenen Körper -, und gleichzeitig von konkreter Sinnlichkeit erfüllt, mit wunderbaren Naturaufnahmen, mit tollen Darstellern, in erster Linie Michel Subor. Außerlich gesehen passiert hier wenig. Doch das Herz des Films schlägt in den Bildern, nervös, lauernd, hin- und herspringend, wie das Denken, zu einem alten Film wechselnd wie zwischen Traum und Wachen. Das Denken im Naturzustand... "Ship me somewhere east of Suez"…

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Dass große Publikum wird er überfordern; auch die Jury. Aber es gibt Filme, die sind nur für uns gemacht, für eine Gruppe von vielleicht 2000 bis 3000 Cineasten in der Welt. Nicht zur Unterhaltung, nicht fürs Box-Office. Wegen ihnen fährt man zu Filmfestivals, weil man dort einen, zwei, mit Glück drei Filme dieser Art sieht - und dann oft nie wieder. Man weiß schon, was an ihnen auch nicht funktioniert, aber man spürt doch, dass diese Filme noch in allen Schwächen, allen Fehlern ungleich spannender sind, als 90 Prozent der übrigen. Und darum wird man sie immer verteidigen. L'INTRUS ist so ein Film.

Rüdiger Suchsland

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