|
Früher hat er lebende Frösche zerteilt, Hunde verprügelt,
seine Figuren Angelhaken erst essen, dann sich selbst wieder
herausziehen lassen, und mit alldem die Besucher internationaler
Filmfestivals kräftig schockiert - ohne dass sich solche
ungesehenen, einfallsreichen, an Höhepunkte der europäischen
Avantgarde anknüpfenden Bilder in Form von Wettbewerbspreisen
auszahlten. Seit kurzem nun ist der koreanische Regiestar
Kim Ki-duk zahm geworden und macht etwas andere Filme: zärtlich-poetische
Etüden im Schatten junger Menschenblüte, Filme voller
Zurückhaltung, ebenso buddhistisch wie französisch
angehaucht, mit zartem Satie-Klimpern im Hintergrund, ein
bisschen braver, aber immer wunderschön - und siehe da:
Die Preise purzeln. Für seine letzten zwei Filme bekam
er welche, und es müsste schon mit dem Teufel zugehen,
wenn nicht auch BINJIP in Venedig einen Preis bekommt - so
einmütig brachte der Film das Publikum am Lido hinter
sich. Wenn es gerecht zuginge, dann dürfte auch Claire
Denis nicht leer ausgehen: Mit L'INTRUS erwies sie sich einmal
mehr als eine der besten Filmemacherinnen der Welt - und zudem,
die einzige Europäerin, die asiatisches Kino dreht: Kino
der Bilder, der Andeutungen, der Facetten und des Flanierens.
Aber der Reihe nach...
+++
"Wir alle stehlen. Es ist allerdings eine Frage des
Geschmacks, was wir stehlen und wo." Dies ist nur eine
der bedenkenswerten Weisheiten, die Quentin Tarantino hier
in Venedig zum besten gibt, diesmal auf der Pressekonferenz
zu den "Italian Kings of the B's", den B-Movies,
für die er hier als Pate fungiert. Gemeinsam mit Joe
Dante saß er da, und stritt sich, welcher der italienischen
Regisseure wohl der bessere Dieb ist. Der beste von allen,
das ist klar, ist natürlich Tarantino selbst, denn er
weiß jedenfalls, wo man am geschmacksichersten stiehlt.
+++
Wer hat immer noch nicht begriffen, dass das Herz des Weltkinos
in Asien schlägt? Man traut sich ja kaum noch, es zu
sagen, so alt ist die Nachricht für jeden, der sich mit
Gegenwartskino beschäftigt. Doch in Venedig bestätigt
sie sich ein weiteres Mal. Die Lagunenstadt hatte schon immer
gute Beziehungen zum Fernen Osten, vom Gewürzhandel der
mittelalterlichen Dogen bis zu Takeshi Kitanos Festival-Sieg
mit HANA-BI. Wenn Kitanos Name hier auf der Leinwand auftaucht,
gibt es Spontanapplaus - und sei es auch nur, weil da im Vorspann
"Office Kitano" steht, also nur Kitanos Produktionsfirma
beteiligt ist. Der Vorspannapplaus ist, wie sich herausgestellt
hat, überhaupt ein zuverlässiger Gradmesser für
die diesjährige Venezianer Kinoqualität.
+++
Der von Kitano produzierte Film kommt aus China, und stammt
vom jungen Jia Zhangke, von dessen drei Filmen bisher nur
vor einigen Jahren PLATFORM in Deutschland zu sehen war. Er
ist ein melancholischer Chronist des Umbruchs, der Verschränkung
von großen Entwickilungen und dem Alltag seiner Figuren.
Sein neuer Film SHIJIE fügt sich inhaltlich auf den ersten
Blick in die momentan im europäischen Kunstkino dominierende
Vorliebe für triste Stoffe. Doch welch ein Unterschied!
"Hat jemand ein Pflaster?" - sicher zehnmal ertönt
diese Frage, rotzig herausgeschrien aus dem Mund eines jungen
Mädchens. Derweil flaniert eine gelenkige Handkamera
- glänzend geführt von Wu Lik Wai, selbst ein wichtiger
Filmemacher - mit unserem Blick durch die Bühnenräume
eines Theaters. Musik setzt ein. In diesen kurzen Minuten
lernen wir schon viel über Tao, die Hauptfigur des Films.
Ihre Kompromisslosigkeit, ihre Energie, ihre heimliche Angst.
Ihre Arbeitskollegen und ihren Arbeitsplatz, der für
sie fast mit dem Leben identisch ist. Sie scheint Tänzerin
zu sein. Am nächsten Tag sieht man sie unter dem Eiffelturm:
"Ich bin gerade in Paris", sagt sie, "nachher
fahre ich nach Indien." Doch die globale Kulisse, das
Jet-Set-Leben der jungen Frau ist nur Schein, www.worldpark.com
zeigt ein Insert im Moment, als die Kamera zurückfährt.
Und man sieht an der Kulisse im Hintergrund, dass Paris in
Peking liegt; der bestechende Schauplatz des Dramas ist der
"Worldpark" in Chinas Hauptstadt, eine traumhafte
Filmkulisse, wo es alles gibt, neben dem Eiffelturm, dem World-Trade-Center
und den Pyramiden auch die sieben Todsünden, Liebe, Ausbeutung
und das Sterben. SHIJIE erzählt von ein paar jungen Menschen
in Peking, die auf der Suche nach Freiheit sind, und denen
diese doch immer wieder entgleitet. Jia knüpft ein dichtes
Beziehungsnetz, läßt sich dabei immer wieder auf
Exkurse und Episoden ein, und fügt alles zu einem epischen
Panorama der Gegenwart, nicht nur in China. Zwingend in Stil
und Story, in atemberaubender Farbenpracht, schwerelos schwebenden
Bildern, schnellen Schnitten, und kurzen, prägnanten
Animationseinlagen besticht der Film von der ersten Sekunde
an. Kino als Wunderland; zugleich eine Reflexion über
Surrogate, Simulationen und Ersatzbefriedigungen. Denn so
wie der Weltpark und das Geschehen in ihm, besteht auch das
Leben der Figuren aus falschen Träumen, aus Illusionen
und vagen Hoffnungen, die ihnen immer wieder zwischen den
Fingern zerrinnen.
Und zeigt, dass man auch schwerblütige und traurige Stoffe
auf leichte Weise erzählen kann, mit Humor, doch ohne
das Thema zu verschenken. Und dass sich private Geschichten
und genaue Zeichnung von sozialen Problemlagen und Machtverhältnissen
keineswegs ausschließen. Gewiss: Der Film ist nicht
perfekt, etwas zu lang und man glaubt nach dem furiosen Auftakt,
vieles darin schon irgendwo ähnlich gesehen zu haben.
Stärker als die meisten Europäer im Wettbewerb ist
SHIJIE aber allemal.
+++
Leider hat sich noch nicht allgemein herumgesprochen, dass
es ein Zeichen für die Qualität eines Films ist,
wenn sich sein Inhalt nicht in zwei Sätzen zusammenfassen
läßt. Die Art, wie - zwangsläufig auch an
diesem Ort - ein Film auf sein "es geht um..." reduziert
wird, brechen viele asiatischen Filme. Sie tun dies, weil
es um vieles zugleich geht, weil noch anderes im Raum steht,
mitgedacht werden muss, und trotzdem in gewissem Sinn "nichts
dahinter" ist, sondern alles sichtbar. Das, worum es
vor allem geht, ist das "Wie", die Form und die
Erscheinung auf der Leinwand.
+++
Bezaubert hat das Publikum der erste japanische Beitrag:
HOWLS MOVING CASTLE vom Animationsmeister Hayao Miyazaki,
der vor zwei Jahren mit SPIRITED AWAY die Berlinale gewann.
Diesmal ist die Story in einem fiktiven europäischen
Land in einer nicht weniger fiktiven, recht gefährlichen
Belle Epoque angesiedelt - einer, in der es futuristische
Flugzeuge und Flächenbombardements gibt. Im Zentrum steht
ein junges Mädchen, dass durch Zufall in einen Kampf
magischer Wesen gerät und von einer bösen Hexe verzaubert
wird - in eine alte Frau! Ein Märchen für Erwachsene,
zutiefst humanistisch, lustvoll und mit überbordenden
Einfällen erzählt - Kino als Reise in Parallelwelten.
Mit diesem Film, der einstweilen den internationalen Kritikerspiegel
anführt, erweist sich Miyazaki einmal mehr als einer
der großen Märchenerzähler unserer Tage, ein
Regisseur mit visueller und emotionaler Phantasie, die ihresgleichen
sucht.
+++
"Schönheit und Reichtum, wer will das nicht?",
fragte Fruit Chan. "Essen ist der Weg zu beidem. Was
man isst, um sich gut zu fühlen, verrät einfach
alles."
+++
Silbergraues Haar auf silbergrauem Kissen, weißes Bettzeug,
ein Mann mit weißem Gipsbein, und eine Frau mit roter
Jacke, die sich zu ihm hinunterbeugt und ihn küsst, dann
viel Haut - wären es nur solche Bilder, müsste man
Fruit Chans Film schon sehen. THREE EXTREMES, der Titel eines
neuen Kompilationswerkes aus Fernost - wie THREE, der 2003
in Rotterdam lief vom Hongkong-Regisseur Peter Hoo Sun Chan
produziert - läßt schon Alptraumhaftes ahnen und
zugleich Verführerisches, wenn man weiß, dass drei
herausragende, und in ihrem Werk sehr prägnante Filmemacher
für den Film verantwortlich sind: Takeshi Miike aus Japan,
Park Chan-wook aus Korea und Fruit Chan aus Hongkong. Mit
letzterem beginnt dieser Dreiteiler, einer der besten Filme
des Festivals. Thematisch und stilistisch verbindet die drei
Stücke wenig, außer der Lust am Experiment. Noch
nie sah ein Fruit-Chan-Film so wenig "independent"
aus, wie DUMPLINGS. Vielleicht liegt es an Christopher Doyles
Kamera, vielleicht an den wunderschönen zwei Hauptdarstellerinnen,
dass man sich mehr als einmal in einen Wong Kar-wai-Film versetzt
fühlt: Eine nicht mehr ganz junge, gut und teuer angezogene
Frau kommt in ein verwahrlostes Wohngebiet um dort Dumplings,
Teigtaschen zu essen - von den Italienern lustigerweise als
"Ravioli" übersetzt -, die offenbar in der
ganzen Stadt berühmt sind. Die Tonspur sorgt dafür,
dass man sich von Anfang an wie in einem Horrorfilm fühlt,
spürt, dass etwas nicht stimmt. Sie sei viel älter,
als sie aussieht, eröffnet die Köchin, die sich
Tante Mai nennt, schnell, "das liegt an meinen Dumplings."
Die sind ein Jugendelixier, schnell sieht auch ihre Kundin
noch besser und wieder jünger aus und binnen kurzer Zeit
erfüllt sich ihr Wunsch, für den fremdgehenden Gatten
- gespielt vom anderen, Tony LOVER Leung - wieder attraktiv
zu werden.
Doch was ist das Geheimnis der wirkungsvollen Speisen? Man
ahnt es schon früh, die endgültige Antwort erhält
man, wenn man sieht, dass Tante Mai, wenn sie keine Ravioli
kocht, illegale Abtreibungen vornimmt und sich aus den Embryonen
dann gleich für die Füllung bedient. Das ist nicht
nur "sick" und nicht nur wunderschön inszeniert;
es ist auch ein ernstes Spiel mit den Mythen von ewiger Jugend
und Potenz, die in Asien ganz besonders blühen.
Jenseits solcher Mischung aus Pracht und Ekel kommt es im
Film auch zu ein paar hübschen Frauenpower-Einlagen,
etwa wenn die Ehefrau sich königlich freut, als ihr Mann
durch einen Gips ans Bett gefesselt und so ihr hilflos ausgesetzt
ist.
+++
Der zweite Film stammt von Park Chun-wook, seit OLD BOY,
der gerade ins Kino gekommen ist, der neueste internationale
Asien-Star. CUT ist ein sehr selbstironisches - es beginnt
auf einem Filmset, die Hauptfigur ist ein Filmemacher - Spiel
mit seinem Beruf und den Allmachtsträumen eines Regisseurs.
Zugleich eine recht ernsthafte Abhandlung über verschiedene,
scheinbar unlösbare moralische Dilemmata, in die die
Hauptfigur gestürzt wird, als ihn zuhaus ein Komparse
heimsucht, der sich rächen will. Was an dem Film jenseits
der konstruierten Story gefällt, sind die Bilder. Diesmal
überladen und dekadent, zitieren sie Fin-de-siècle-Literatur,
Visconti-Filme und surrealistische Malerei - einmal mehr ein
kleiner Geniestreich.
+++
Dahinter bleibt Miikes BOX als dritter Beitrag ein wenig
zurück: Alles sieht schön aus, doch wirkt der Film
wie ein rein formales Spiel mit Stereotypen und Mythen des
Horrorfilms - was man Anfang des Jahres schon seinem Berlinale-Beitrag
ONE MISSED CALL ankreiden konnte.
Ein B-Movie ist THREE EXTREMES auf keinen Fall, und man fragt
sich, warum der Film nicht im Wettbewerb laufen konnte.
+++
"Wer glaubt, dass B-Movies' früher häßlich,
trashig und politisch incorrect waren, dser ist sowieso auf
dem Holzweg." - So eine weitere Tarantino-Weisheit. Die
Pressekonferenz nimmt er zum Anlass, mal eben kurz zu erklären,
dass der Name der Mostra-Retrospektive sowieso ganz falsch
gewählt ist: "In the old days" waren die B-Movies
die A-Movies, meint er. "Damals zeigte man Double-Features.
Die Leute sind natürlich nur wegen der Monsterfilme und
Thriller hingegangen, sie wollten Sex an Crime. Danach zeigte
man als zweiten Film noch kleine Kunstfilme. Das waren die
eigentlichen B-Movies."
+++
Dass Takashi Miike zu ganz anderem fähig ist, als in
BOX, beweist er mit IZO, seinem Langfilm, der in einer Nebenreihe
läuft. Der Film handelt von einem unsterblichen Dämon,
der durch die Zeiten seit dem Ende des letzten Shogunats,
1865 reist, und Unheil stiftet. Jeden, der sich ihm in den
Weg stellt, den tötet er. Zwei Stunden lang sieht man
fast ununterbrochen Kampfszenen, meist mit dem Schwert, jedenfalls
recht einseitig, weil jener Izo wie gesagt unsterblich ist.
Das wirkt redundant und öde, hat aber tieferen Sinn:
Denn zum einen konterkariert Miike mit diesem Film jene beliebte
Ästhetisierung und Ironisierung des Schwertkampfgenres
à la ZATOICHI. Vor allem aber geht es ihm offenkundig
um ein weltanschauliches Statement. Denn zwischen den Kämpfen
gibt es kurze Einlagen. Mal bekommt der Zuschauer Dokumentarbilder
von Krieg und Gewalt, Atombombenexplosionen, Panzer und Kanonen,
Paraden, Bilder von Hitler, Stalin und vor allem dem japanischen
Faschismus zu sehen. Dann gibt es kurze Lektionen: Etwa den
Dialog "What is Revolution?"-"To kill people"
oder "History is one big bloodshed" oder "democracy
is a hypnosis of masses, a junk-product of civilisation"
- Sätze, so bleischwer, wie sonst nur in Edgar Reitz
HEIMAT 3. Im Gegensatz zu diesem nimmt Miike seine Ideen aber
wirklich ernst und entfaltet ein zutiefst nihilistisches Weltbild.
+++
Das kann man so über Kim Ki-duk nicht sagen, dessen
BINJIP hier erst während des Festivals im Wettbewerb
auftauchte - als Überraschungsfilm. Warum das so ist,
versteht kaum einer, zumal man unter der Hand hören konnte,
dass die Teilnahme des Films bereits Anfang August feststand.
Es ging Mostra-Boss Marco Müller also nur um einen weiteren,
ziemlichen billigen Trick, um Zusatz-Spannung zu erzeugen.
Zugleich gibt das diesem Film besondere Aufmerksamkeit, zudem
ist er im Programm mit drei Abendscreenings im größten
Kino derart glänzend platziert, dass hier schon offen
von Wettbewerbsverzerrung die Rede war. Mit solchen Entscheidungen
dürfte Marco Müller seinen Kredit als Neuling noch
schneller verspielen, als das sowieso schon in den letzten
Tagen der Fall war.
+++
BINJIP ist, wie schon SAMARIA (Regiepreis bei der Berlinale)
ein Film, der von Andeutungen lebt. Die Kunstgriffe, das Irreale
sind hier das Schönste, hinter dem die konstruierte Handlung
schnell verschwindet. Der Titel verweist auf das Dreiereisen,
einen Golfschläger. Golf ist hier eine merkwürdige
Metapher. Einerseits für die nouveaux riches in
Korea, die daheim in ihren wie eine gefaktes Miniaturversailles
mit viel Pseudo-Gold und Pseudo-Marmor eingerichteten Wohnungen
als Statussymbol einen Golf-Abschlagplatz besitzen, inklusive
Netz, das die Bälle auffängt. Dann auch für
die Gewalt, deren direktes Mittel hier kurioserweise tatsächlich
Golfbälle. Ein kleines Spiel mit einem Golfball, der
zwischen ihnen hin und her rollt, steht aber auch am Beginn
des Verhältnisses zweier Namenloser. Wie ein Geist ist
der junge Mann, der ganz von fern an den jungen Alain Delon
erinnert, in der Wohnung eines alternden Fotomodells aufgetaucht,
die sich inzwischen im Goldenen Käfig einer Ehe lebendig
begraben fühlt. Ihr Mann schlägt sie - überhaupt
müssen die Ehen in Korea, den Filmen der letzten Jahre
nach zu urteilen, noch etwas schlechter sein, als woanders
-, und so ist sie schnell bereit, sich mit ihm auf sein Motorrad
zu schwingen und in den Großstadtdschungel abzutauchen.
Ihr Begleiter lebt überhaupt in fremden Wohnungen, durch
einen Trick findet er heraus, welche gerade verlassen sind
(der Trick ist allerdings, wie sich in der Folge herausstellt,
nicht sehr zuverlässig), dort wäscht er sich, kocht
und schläft. Zum Spaß repariert er immer irgendwelche
kaputten Hausgeräte, oft Meßgeräte wie Uhren
und Wagen. Und er wäscht die Klamotten der Bewohner mit
der Hand, ein wenig zwanghaft um Reinheit bemüht. Das
letzte Ritual ist schließlich, dass er sich in der fremden
Wohnung fotografiert. Was sich sehr gewollt anhört, und
dies auch ist, muss man sehen, um zu verstehen, wie witzig
das ist - lange könnte man noch zusehen.
Von nun an sind die beiden Hauptfiguren in einem kinderleichten
und etwas schrägen amour fou vereint. Bis zum
Ende werden sie dabei kein Wort miteinander sprechen, es quasseln
immer nur die anderen. Woher der junge Mann kommt, erfährt
man nicht. Und was dann da am Ende genau passiert, wenn der
Film immer verrücktere Einfälle hat, darüber
dürfte man sich in den nächsten Jahren noch die
Köpfe zerbrechen - der Film ist in erster Linie unmittelbare
Wirkung, bei aller Schönheit verblasst er schon nach
ein paar Stunden stärker, als Kims andere Filme.
+++
Nicht verblassen wird hingegen L'INTRUS von Claire Denis.
Ein filmischer Befreiungsschlag nach all dem Moral-Getue,
und bravem Konversationskino, das sämtliche europäische
Filme mit Ausnahme Ozons prägt. Visuell und gedanklich
eine Annährung an asiastische Zugangsweisen, an ein Kino,
dass mit den Augen fühlen kann.
Ein erstaunlicher, rätselhafter Film, weil er zunächst
einmal eine einzige Verwirrung ist, weil er Schönheit,
erzählerische Klugheit und Einfallsreichtum mit jener
Verstörung verbindet, die früher zu Kim Ki-duks
Markenzeichen gehörte. Hermetisch, einzigartig.
Denis erzählt die auch von ihr schon oft erzählte
Geschichte vom Verhältnis zwischen Zivilisation und Wildnis.
Wobei es hier vor allem um Wildnis geht. Sorgfältig portraitiert
Denis das Leben im Schweizer Grenzland zu Italien, ein paar
Menschen hier. Nachts kommen die illegalen Grenzgänger,
Eindringlinge, nachts schleichen auch Menschen um die Häuser
und in die Träume
Man erlebt Louis, einen älteren Mann, der mit seinen
Hunden in einer Waldhütte lebt. Nach und nach bekommt
man mit, dass er herzkrank ist, dass er Sport treibt, zu seinem
Sohn und dessen Familie nicht besonders nett ist, dass die
Apothekerin seine Geliebte ist - und dass er Menschen umbringt,
wenn sie im falschen Moment seiner Hütte zu nahe kommen.
Einen tötet er mit dem Messer, dass er immer mit sich
herumträgt, und plötzlich wirkt er wie eine Bestie,
ein Vertreter der Natur, die in die Zivilisation immer wieder
eindringt.
+++
Doch immer wieder führt Denis uns in die Irre. Es geht
nicht um die Morde Louis', es geht nicht um die Menschen in
seiner Umgebung, die eine junge Frau, die mal seine Geliebte
war (ein Wiedersehen mit Béatrice Dalle), und die andere,
von der er Angstträume hat, die es aber auch in Wirklichkeit
gibt, weil sie es ist, die ihm in Rußland ein neues
Herz verschaffen soll. Nachdem das tatsächlich geschehen
ist, reist Louis nach Korea, nach Thailand, dann in die Südsee
- und man erinnert sich an alle Südseeträume, alle
Reisen des Kolonialzeitalters, von Gauguin, bis zum "Herz
der Finsternis", von Stevenson bis Kipling.
L'INTRUS ist inspiriert, wie Denis schreibt, von jenem gleichnamigen
Buch, in dem der französische Philosoph Jean-Luc Nancy
von seiner Herztransplantation und seiner anschließenden
Krebserkrankung berichtet, ist eine Übung in jenem "wilden
Denken", das Claude Lévi-Strauss einst beschrieb,
ein Stück Ethnologie der Seele. Fast alles hier ist grundsätzlich
gemeint, Ausdruck eines Prinzips, und damit Philosophie -
etwa das Wetter, das Verhältnis der Menschen zu den Tieren,
zum Tod, zum eigenen Körper -, und gleichzeitig von konkreter
Sinnlichkeit erfüllt, mit wunderbaren Naturaufnahmen,
mit tollen Darstellern, in erster Linie Michel Subor. Außerlich
gesehen passiert hier wenig. Doch das Herz des Films schlägt
in den Bildern, nervös, lauernd, hin- und herspringend,
wie das Denken, zu einem alten Film wechselnd wie zwischen
Traum und Wachen. Das Denken im Naturzustand... "Ship
me somewhere east of Suez"
+++
Dass große Publikum wird er überfordern; auch
die Jury. Aber es gibt Filme, die sind nur für uns gemacht,
für eine Gruppe von vielleicht 2000 bis 3000 Cineasten
in der Welt. Nicht zur Unterhaltung, nicht fürs Box-Office.
Wegen ihnen fährt man zu Filmfestivals, weil man dort
einen, zwei, mit Glück drei Filme dieser Art sieht -
und dann oft nie wieder. Man weiß schon, was an ihnen
auch nicht funktioniert, aber man spürt doch, dass diese
Filme noch in allen Schwächen, allen Fehlern ungleich
spannender sind, als 90 Prozent der übrigen. Und darum
wird man sie immer verteidigen. L'INTRUS ist so ein Film.
Rüdiger Suchsland
|