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"Erinnerst Du Dich..." - der erste Satz im Episodenfilm EROS
gibt den Takt vor: Wenn sich das Festival dem Ende zuneigt,
beginnt die Stunde der Erinnerung. An die Kojoten die im blauen
Licht der Nacht mitten in Los Angeles die Fahrbahn kreuzen
(Michael Manns COLLATERAL) während aus dem Off das Lied "Once
upon a time..." erklingt; die lachende Verzweiflung Emmanuele
Devos' als sie in Desplechins ROY ET REINE erfährt, dass ihr
Vater sterben wird, das frisch geschiedene Paar, das Francois
Ozons in "5x2" miteinander ins Bett schickt, der Weltpark
in Peking (SHIJIE), die Science-Fiction-Belle-Epoque und Farbenpracht
des japanischen Animationsfilms von Miyazaki, der Körper von
Michel Subor in L'INTRUS, es sind kurze magische Momente,
in denen ein Film für einen Augenblick innehält und zu schweben
beginnt, die bleiben.
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Von Schweben keine Spur gab es in Giorgio Ferronis LA GUERRA
DI TROIA von 1961 in der Retrospektive der italienischen B-Movies.
Starre, noch vom Neorealismus geprägte Leere, lächerliche
Kulissen, Darsteller, die minutenlang in leeren Räumen herumstehen,
und fast ausdruckslos in heiligem Ernst Dialoge deklamieren,
wie sonst nur bei Edgar Reitz. aber mit mehr Sinn für Form
- ein Film, wie er fast von Straub gemacht sein könnte, gäbe
es da nicht zwischendurch Einlagen in denen zwei Muskelprotze
miteinander ringen oder im Pferdewagen über den Acker holpern.
Der passende Film zum Ausklang eines Abends, in dem der Minimalismus
Orgien feierte.
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Nach Jahren hat der Taiwanese Hou Hsiao-Hsien wieder einen
Film gemacht. Und KOHI JIKOU war ein deja vue: Wie in seinen
früheren Filmen ein Bilderbogen von ausgesuchter Genauigkeit:
statische Einstellungen, von extremer Nüchternheit. Das Leben,
nichts anderes steht im Zentrum von Hous beiläufigem Erzählen.
Und wie immer bei diesem Regisseur - sagen ältere Kollegen
- schlief nach 30 Minuten der halbe Saal. Noch als man beim
Abspann hinaus ging konnte man Hunderte friedlich dösen sehen
- eine einmalige Erfahrung. "Im Kino schlafen, heißt, dem
Film vertrauen." hat mal einer treffend gesagt. Man muss also
nicht mit den Kollegen hadern. Sie sind immerhin nicht hinausgegangen.
Und vielleicht war dies alles ja eine humanistische Geste
des Regisseurs, den Kritikern nach zehn Tagen ununterbrochenem
Kinobesuch, einmal eine Ruhepause, eine friedliche Insel in
der Festivalbrandung zu errichten.
KOHI JIKOU ist als Hommage an den großen japanischen Regisseur
Ozu gedacht. Auch darum (der Hauptgrund ist natürlich die
Finanzierung durch japanische Produzenten) spielt der Film
in Japan. Wie oft auch bei Ozu, kehren die Figuren dem Zuschauer
den Rücken zu - ein bisschen affektiert wirkt das nach einer
Weile schon, jedenfalls erschließt sich auch im Nachhinein
nicht wirklich der Sinn dieser Inszenierung. Im Zentrum steht
eine junge Frau, die ihre Eltern besucht und von ihrer Schwangerschaft
erzählt. Zugleich freundet sie sich mit einem Bibliothekar
an.
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Wenn einer diesen Minimalismus
überhaupt noch steigern konnte, dann ist es Manoel de Oliveira.
O QUINTO IMPÉRIO (THE FIFTH EMPIRE - YESTERDAY AS TODAY) ist
ein bewegtes Bild. Fast der ganze Film zeigt eine einzige
Szene, wie im Theater zum Zuschauer hingewendet, der portugiesische
König Sebastiao und sein Hofstaat am Ende des 16.Jahrhunderts.
Man spricht, wie immer bei Oliveira, über Gott und die Welt.
irgendwie geht es dabei auch um Imperienträume der Gegenwart
und die Rückkehr des Archaischen in die heutige Politik. Aber
im Unterschied zu UM FILME FALADO im vergangenen Jahr gelingt
es dem greisen Oliveira nicht, seinen einmaligen Stil zum
Schweben zu bringen, das Hinsehen zu einer spannenden Angelegenheit
zu machen, und der Erinnerung an den mythischen König Aktualität
einzuhauchen.
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EROS, der mit der Erinnerung beginnt und
mit ihr aufhört, ist ein Kompilationsfilm. Drei Meister, deren
Filmsprachen kaum unterschiedlicher sein könnten, und die
doch thematisch manches verbindet, haben jeweils eine kleine,
gut halbstündige Fingerübung beigesteuert: Mit Wong Kar-wai
geht es los, Gong Li, eigentlich der Star des Konkurrenten
Zhang Yimou, spielt eine gefallene, alternde Schönheit. Der
einzige Mann, der ihr geblieben ist, ist ihr Schneider, der
sie seit Jahrzehnten, unglücklich und ganz verstohlen liebt
- nur die Kleider zeugen von dieser Liebe. Das Glück werden
sie nicht mehr finden, für den Zuschauer liegt es in den Bildern
von Kameramann Christopher Doyle, im einzigartigen Stil des
Traumpaares Wong/Doyle gelingt es ihm, der Sprache des Unbewußten
und der Erinnerung visuelle Gestalt zu geben. Soderbergh entzieht
sich dem Vergleich durch einen Film-gewordenen Analytikerwitz,
den Sketch zwischen einem dummen Patienten und seinem gelangweilten
Arzt. Und der 92jährige Antonioni kann mit seiner Episode
an seine früheren Geniestreiche leider nicht anknüpfen.
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Stark wie lange nicht, zeigte sich hingegen Wim Wenders. Vor
33 Jahren, als Antonioni so alt war, wie er heute, hatte dieser
PROFESSIONE: REPORTER erst vor sich, insofern besteht auch
für Wenders noch Hoffnung. LAND OF PLENTY ist von solchen
Höhen zwar weit entfernt, aber ein Schritt in die richtige
Richtung - sein bester Film seit zehn Jahren. Wenders nimmt
einen langen Anlauf: Er parallelisiert das Leben einer 20jährigen
Unschuld und ihres ihr unbekannten Onkels, eines ebenso paranoiden,
wie reaktionären Vietnam-Veteranen in den Slums von L.A. Am
Anfang wirkt alles zäh, die Dialoge wie Thesenpapiere aus
der Volkshochschule - freimütig gesteht Wenders, dass er erst
einen Dokumentarfilm über die Bush-Politik und "das andere
Amerika" geplant hatte, und deshalb müssen über Bush, Nah-Ost,
Al Kaida und 9/11, Armut und Kapitalismus und überhaupt über
Moral in diesen Zeiten jeweils ein paar prinzipielle Sätze
fallen. Doch nach einer Stunde schafft es Wenders wieder einmal,
einen älteren Mann und junges Mädchen zusammen in ein Auto
zu setzen und einfach losfahren zu lassen. Sobald sie die
Großstadt hinter sich haben, fällt auch der Mehltau von den
Dialogen, die Bilder werden Kino, und man fühlt sich immer
wohler. Hauptdarstellerin Michelle Williams hat man schon
die ganze Zeit über gern zugesehen. Und am Ende ist zwar die
Frage weiterhin unbeantwortet, ob Wenders nicht doch am besten
Fotograf geworden wäre, doch mit LAND OF PLENTY lieferte er
einen der besten europäischen Wettbewerbsfilme.
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Immer
dasselbe am letzten Tag eines Festivals: Man packt ein, wirft
kiloweise Papier und ein paar Flaschen auf den Müll. Dort
landen auch die unerzählten Geschichten: private, über die
Abende mit Bier und Journalistenklatsch, über Festivalflirts
(jaja, auch das gibt es) und Regisseure mit Selbstmordgedanken
(das leider auch), die Filme, die unerwähnt blieben - nicht
alle von ihnen verdientermaßen. Über drei zumindest hätten
wir gern viel mehr geschrieben: EMBEDDED/LIVE ein verfilmtes
Theaterstück zum Irak-Krieg von Tim Robbins. nicht nur einfach
engagiert, sondern lustig, angenehm sarkastisch. Zwei merkwürdige,
einander auch mehrwürdig ähnliche Liebesfilme, die man in
der Laune des selbstgewählten Kino-Fahrplans auch noch direkt
hintereinander sah: BIRTH von Jonathan Glazer und Peter Mitchells
ENDURING LOVE. Letzter ist ganz schräg, zwischendurch unangenehm
hysterisch, aber spannend. Und er hat einen wundervollen Anfang
über die Poesie eines tödlichen Unfalls, falls es so etwas
gibt. Und ein wunderbares Ende. Samantha Morton, grandios
wie immer, daneben Daniel Craig und Rhyy Ifans als liebestoller
schwuler Irrer, der eine Ehe auseinanderbringt, indem er sich
in einen heterosexuellen Philosophen verliebt.
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Auch BIRTH handelt von der unbedingten Liebe. Die Geschichte,
angesiedelt im denkbar reichsten weißen New Yorker Milieu,
pastellfarbene Räume, silberne Teller und Chanel-Kleider,
ist völlig absurd: Nicole Kidman ist Witwe, will wieder heiraten,
da erscheint ihr verstorbener Gatte im Körper eines Zehnjährigen.
Aber man sitzt von Minute zu Minute gebannter drin. einmal
weil man wissen möchte, wie um Himmels willen Glazer da wieder
rauskommt. Dann aber vor allem, weil er alles so gekonnt inszeniert,
dass BIRTH als einer der stilistisch aufregendsten Filme des
Festivals in Erinnerung bleibt. Videoclips zur Musik von Wagner
und Beethoven. Eine Kamera, die minutenlang auf Nicole Kidmans
Gesicht stehen bleibt, ganz langsam auf es zufährt. Und sie
trägt das. Und ein paar Szenen zwischen Kidman und dem Kind,
die erotischer sind, als das meiste, was es sonst zu sehen
gab. Natürlich entrüsten sich in Amerika bereits die entsprechenden
Lobbys. Die Darsteller sind super.
BIRTH gehört zu den wenigen Filmen, die man gern gleich noch
einmal sehen würde - sie SHIJIE, wie L'INTRUS, wie SHE HATE
ME.
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Thematisch scheinen
derzeit Abtreibungen im Kino besonders en vogue zu sein; das
Sterben von männlichen Familienmitgliedern, Vätern, Söhnen,
Brüdern, Gatten. Irgendwann fingen wir an - kleines Festival-Vergnügen
für Kritiker - die I-book-Filme zu zählen. Das schicke apple-Teil
ist jedenfalls der Lieblingslaptop der Regisseure, auch Hou
Hsiao-hsien und Wenders setzten es so ausgiebig in Szene,
als wollten sie sich für den nächsten Werbespot anmelden.
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Ach ja, die Preise: Den ersten verleihen wir selbst -
für den Film mit dem besten Titel. Ihn gewinnt PERDER ES UN
QUESTION DE METODO, ein Film aus Kolumbien, der im Wettbewerb
spät in der Nacht lief. "im 18.Jahrhundert litten die Leute
eleganter" heißt der schöne erste Satz. Die Handlung spielt
dann in der Gegenwart und erzählt eine jener altbekannten
Geschichten, über einen Detektiv, der einen Mord aufklärt,
dabei mehr über sich selber lernt, als über die Täter, und
überdies ein junges Mädchen trifft. Das könnte einen tollen
Hongkong-Film ergeben, denkt man, als in einem frühen Bild
die Skyline von Medellin tatsächlich stark an die von Hongkong
erinnert. Doch statt dann schnell und stylish zu werden, versinkt
alles nach fünf Minuten in jene Lahmarschigkeit, die offenbar
doch Teil der südamerikanischen Mentalität ist - zu sehr dominiert
sie in fast allen Filmen des Kontinents. Mexiko, nur zur Erinnerung,
gehört zu Nordamerika. Später dann bot ein Bekannter, an dem
ich diese Bemerkung testete, auch eine mögliche Erklärung:
In Kolumbien sei es einfach zu heiß. Das anstrengende Klima
präge die Dreharbeiten und übertrage sich auf den Film. Aber
kalt ist es in Hongkong auch nicht gerade…
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Den Goldenen Löwen bekam Mike Leigh mit seinem Abtreibungsdrama
VERA DRAKE und einem weiteren Preis für Imelda Staunton in
der Titelrolle. Einmal mehr in den letzten Jahren belohnte
die Jury eines wichtigen Filmfestivals die politisch-moralische
Botschaft anstelle künstlerischer Herausforderung.
In VERA DRAKE geht es um die Leiden der Unterschicht, in
diesem Fall eine selbstlose Frau, die illegale Abtreibungen
unternimmt, arm aber glücklich lebt. Durch sein Thema sorgte
der Film schon im Vorfeld im katholischen Italien für durchaus
berechenbare Provokation. Nicht wenige unterstellen Leigh
hier gezieltes Kalkül - hatte doch erst vor zwei Jahren an
gleicher Stelle mit Peter Mullans kirchenkritischen MAGDALENE
SISTERS ein ähnlich engagierter, aber auch ähnlich ästhetisch
langweiliger Film triumphiert. Da mit dem spanischen Sterbehilfemelodram
MAR ARDENTO von Alejandro Amenabar, der den Silbernen Löwen
und den Preis für den besten Darsteller (an Javier Bardem)
gewann, ein weiterer "Message-Film" zwei Auszeichnungen erhielt,
ist das schon eine sehr einseitige Ausrichtung der Preisvergabe.
Die sympathischen Inhalte der Filme sind in beiden Fällen
in stilistisch biedere Kammerspiele gekleidet, die die Filmgeschichte
keinen Schritt voran bringen. Riskante und experimentelle
Filmsprachen wie in Claire Denis' L'INTRUS oder Solondz PALINDROMES
wurden ebenso komplett ignoriert, wie Filme mit unbequemerer
Moral etwa Francois Ozons 5x2 oder ROY ET REINE von Deplechin.
Überhaupt kamen die einzig wirklich interessanten europäischen
Filme wieder einmal aus Frankreich.
Überraschend war, dass diesmal gar kein Preis an einen jener
"kleinen" Filme ging, die aus Lateinamerika, Südostasien oder
dem Nahen Osten stammen, und nur auf den großen Festivals
überhaupt eine Chance haben, weltweite Aufmerksamkeit und
möglicherweise einen europäischen Verleih zu erhalten. Schon
in der Auswahl des neuen Festivalchefs Marco Müller waren
derartige Filme im vergleich zu früheren Jahren nur schwach
vertreten gewesen.
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Müller dürfte es in den nächsten Monaten noch aus anderen
Gründen schwer haben. Erstmals seit Jahren gewann nämlich
kein Film aus Italien irgendeinen Hauptpreis - dabei hatte
die Berlusconi-Regierung den Schweizer, der zuvor die Festivals
von Rotterdam und Locarno geleitet hatte, gerade mit der Vorgabe
geholt, die "Präsenz des italienischen Films" zu stärken.
Sein Vorgänger, Ex-Berlinale-Boss Moritz de Hadeln, hatte
sich den Einflußnahmen der Regierung noch strikt verweigert.
Unter Müller ist die Dominanz von Regierung und Sponsoren
bei der Mostra so stark, wie noch nie. Müllers Interviews
strotzen vor Kotaus an Berlusconis Kulturminister Urbani.
Hinzu kommen die mehrfach erwähnten peinlichen Organisationspannen.
Aber auch Müller wirkte an den letzten Tag recht schmallippig.
Vielleicht wird er bald so schnell vergessen sein, wie alle
Thesenfilme - nur die Bilder auf der Leinwand bleiben wirklich.
Rüdiger Suchsland
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