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Venedig 2004 15.09.2004
 
 
Tagebuchnotizen, 6. und letzte Folge
Wenigstens im Kino triumphiert die Moral: Erinnerungen, Eros und was vom Kino übrig blieb
Almodovars LA MALA EDUCATION
Frau Kidman in BIRTH
 
 
 
 

"Erinnerst Du Dich..." - der erste Satz im Episodenfilm EROS gibt den Takt vor: Wenn sich das Festival dem Ende zuneigt, beginnt die Stunde der Erinnerung. An die Kojoten die im blauen Licht der Nacht mitten in Los Angeles die Fahrbahn kreuzen (Michael Manns COLLATERAL) während aus dem Off das Lied "Once upon a time..." erklingt; die lachende Verzweiflung Emmanuele Devos' als sie in Desplechins ROY ET REINE erfährt, dass ihr Vater sterben wird, das frisch geschiedene Paar, das Francois Ozons in "5x2" miteinander ins Bett schickt, der Weltpark in Peking (SHIJIE), die Science-Fiction-Belle-Epoque und Farbenpracht des japanischen Animationsfilms von Miyazaki, der Körper von Michel Subor in L'INTRUS, es sind kurze magische Momente, in denen ein Film für einen Augenblick innehält und zu schweben beginnt, die bleiben.

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Von Schweben keine Spur gab es in Giorgio Ferronis LA GUERRA DI TROIA von 1961 in der Retrospektive der italienischen B-Movies. Starre, noch vom Neorealismus geprägte Leere, lächerliche Kulissen, Darsteller, die minutenlang in leeren Räumen herumstehen, und fast ausdruckslos in heiligem Ernst Dialoge deklamieren, wie sonst nur bei Edgar Reitz. aber mit mehr Sinn für Form - ein Film, wie er fast von Straub gemacht sein könnte, gäbe es da nicht zwischendurch Einlagen in denen zwei Muskelprotze miteinander ringen oder im Pferdewagen über den Acker holpern. Der passende Film zum Ausklang eines Abends, in dem der Minimalismus Orgien feierte.

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Nach Jahren hat der Taiwanese Hou Hsiao-Hsien wieder einen Film gemacht. Und KOHI JIKOU war ein deja vue: Wie in seinen früheren Filmen ein Bilderbogen von ausgesuchter Genauigkeit: statische Einstellungen, von extremer Nüchternheit. Das Leben, nichts anderes steht im Zentrum von Hous beiläufigem Erzählen. Und wie immer bei diesem Regisseur - sagen ältere Kollegen - schlief nach 30 Minuten der halbe Saal. Noch als man beim Abspann hinaus ging konnte man Hunderte friedlich dösen sehen - eine einmalige Erfahrung. "Im Kino schlafen, heißt, dem Film vertrauen." hat mal einer treffend gesagt. Man muss also nicht mit den Kollegen hadern. Sie sind immerhin nicht hinausgegangen. Und vielleicht war dies alles ja eine humanistische Geste des Regisseurs, den Kritikern nach zehn Tagen ununterbrochenem Kinobesuch, einmal eine Ruhepause, eine friedliche Insel in der Festivalbrandung zu errichten.

KOHI JIKOU ist als Hommage an den großen japanischen Regisseur Ozu gedacht. Auch darum (der Hauptgrund ist natürlich die Finanzierung durch japanische Produzenten) spielt der Film in Japan. Wie oft auch bei Ozu, kehren die Figuren dem Zuschauer den Rücken zu - ein bisschen affektiert wirkt das nach einer Weile schon, jedenfalls erschließt sich auch im Nachhinein nicht wirklich der Sinn dieser Inszenierung. Im Zentrum steht eine junge Frau, die ihre Eltern besucht und von ihrer Schwangerschaft erzählt. Zugleich freundet sie sich mit einem Bibliothekar an.

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Wenn einer diesen Minimalismus überhaupt noch steigern konnte, dann ist es Manoel de Oliveira. O QUINTO IMPÉRIO (THE FIFTH EMPIRE - YESTERDAY AS TODAY) ist ein bewegtes Bild. Fast der ganze Film zeigt eine einzige Szene, wie im Theater zum Zuschauer hingewendet, der portugiesische König Sebastiao und sein Hofstaat am Ende des 16.Jahrhunderts. Man spricht, wie immer bei Oliveira, über Gott und die Welt. irgendwie geht es dabei auch um Imperienträume der Gegenwart und die Rückkehr des Archaischen in die heutige Politik. Aber im Unterschied zu UM FILME FALADO im vergangenen Jahr gelingt es dem greisen Oliveira nicht, seinen einmaligen Stil zum Schweben zu bringen, das Hinsehen zu einer spannenden Angelegenheit zu machen, und der Erinnerung an den mythischen König Aktualität einzuhauchen.

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EROS, der mit der Erinnerung beginnt und mit ihr aufhört, ist ein Kompilationsfilm. Drei Meister, deren Filmsprachen kaum unterschiedlicher sein könnten, und die doch thematisch manches verbindet, haben jeweils eine kleine, gut halbstündige Fingerübung beigesteuert: Mit Wong Kar-wai geht es los, Gong Li, eigentlich der Star des Konkurrenten Zhang Yimou, spielt eine gefallene, alternde Schönheit. Der einzige Mann, der ihr geblieben ist, ist ihr Schneider, der sie seit Jahrzehnten, unglücklich und ganz verstohlen liebt - nur die Kleider zeugen von dieser Liebe. Das Glück werden sie nicht mehr finden, für den Zuschauer liegt es in den Bildern von Kameramann Christopher Doyle, im einzigartigen Stil des Traumpaares Wong/Doyle gelingt es ihm, der Sprache des Unbewußten und der Erinnerung visuelle Gestalt zu geben. Soderbergh entzieht sich dem Vergleich durch einen Film-gewordenen Analytikerwitz, den Sketch zwischen einem dummen Patienten und seinem gelangweilten Arzt. Und der 92jährige Antonioni kann mit seiner Episode an seine früheren Geniestreiche leider nicht anknüpfen.

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Stark wie lange nicht, zeigte sich hingegen Wim Wenders. Vor 33 Jahren, als Antonioni so alt war, wie er heute, hatte dieser PROFESSIONE: REPORTER erst vor sich, insofern besteht auch für Wenders noch Hoffnung. LAND OF PLENTY ist von solchen Höhen zwar weit entfernt, aber ein Schritt in die richtige Richtung - sein bester Film seit zehn Jahren. Wenders nimmt einen langen Anlauf: Er parallelisiert das Leben einer 20jährigen Unschuld und ihres ihr unbekannten Onkels, eines ebenso paranoiden, wie reaktionären Vietnam-Veteranen in den Slums von L.A. Am Anfang wirkt alles zäh, die Dialoge wie Thesenpapiere aus der Volkshochschule - freimütig gesteht Wenders, dass er erst einen Dokumentarfilm über die Bush-Politik und "das andere Amerika" geplant hatte, und deshalb müssen über Bush, Nah-Ost, Al Kaida und 9/11, Armut und Kapitalismus und überhaupt über Moral in diesen Zeiten jeweils ein paar prinzipielle Sätze fallen. Doch nach einer Stunde schafft es Wenders wieder einmal, einen älteren Mann und junges Mädchen zusammen in ein Auto zu setzen und einfach losfahren zu lassen. Sobald sie die Großstadt hinter sich haben, fällt auch der Mehltau von den Dialogen, die Bilder werden Kino, und man fühlt sich immer wohler. Hauptdarstellerin Michelle Williams hat man schon die ganze Zeit über gern zugesehen. Und am Ende ist zwar die Frage weiterhin unbeantwortet, ob Wenders nicht doch am besten Fotograf geworden wäre, doch mit LAND OF PLENTY lieferte er einen der besten europäischen Wettbewerbsfilme.

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Immer dasselbe am letzten Tag eines Festivals: Man packt ein, wirft kiloweise Papier und ein paar Flaschen auf den Müll. Dort landen auch die unerzählten Geschichten: private, über die Abende mit Bier und Journalistenklatsch, über Festivalflirts (jaja, auch das gibt es) und Regisseure mit Selbstmordgedanken (das leider auch), die Filme, die unerwähnt blieben - nicht alle von ihnen verdientermaßen. Über drei zumindest hätten wir gern viel mehr geschrieben: EMBEDDED/LIVE ein verfilmtes Theaterstück zum Irak-Krieg von Tim Robbins. nicht nur einfach engagiert, sondern lustig, angenehm sarkastisch. Zwei merkwürdige, einander auch mehrwürdig ähnliche Liebesfilme, die man in der Laune des selbstgewählten Kino-Fahrplans auch noch direkt hintereinander sah: BIRTH von Jonathan Glazer und Peter Mitchells ENDURING LOVE. Letzter ist ganz schräg, zwischendurch unangenehm hysterisch, aber spannend. Und er hat einen wundervollen Anfang über die Poesie eines tödlichen Unfalls, falls es so etwas gibt. Und ein wunderbares Ende. Samantha Morton, grandios wie immer, daneben Daniel Craig und Rhyy Ifans als liebestoller schwuler Irrer, der eine Ehe auseinanderbringt, indem er sich in einen heterosexuellen Philosophen verliebt.

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Auch BIRTH handelt von der unbedingten Liebe. Die Geschichte, angesiedelt im denkbar reichsten weißen New Yorker Milieu, pastellfarbene Räume, silberne Teller und Chanel-Kleider, ist völlig absurd: Nicole Kidman ist Witwe, will wieder heiraten, da erscheint ihr verstorbener Gatte im Körper eines Zehnjährigen. Aber man sitzt von Minute zu Minute gebannter drin. einmal weil man wissen möchte, wie um Himmels willen Glazer da wieder rauskommt. Dann aber vor allem, weil er alles so gekonnt inszeniert, dass BIRTH als einer der stilistisch aufregendsten Filme des Festivals in Erinnerung bleibt. Videoclips zur Musik von Wagner und Beethoven. Eine Kamera, die minutenlang auf Nicole Kidmans Gesicht stehen bleibt, ganz langsam auf es zufährt. Und sie trägt das. Und ein paar Szenen zwischen Kidman und dem Kind, die erotischer sind, als das meiste, was es sonst zu sehen gab. Natürlich entrüsten sich in Amerika bereits die entsprechenden Lobbys. Die Darsteller sind super.

BIRTH gehört zu den wenigen Filmen, die man gern gleich noch einmal sehen würde - sie SHIJIE, wie L'INTRUS, wie SHE HATE ME.

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Thematisch scheinen derzeit Abtreibungen im Kino besonders en vogue zu sein; das Sterben von männlichen Familienmitgliedern, Vätern, Söhnen, Brüdern, Gatten. Irgendwann fingen wir an - kleines Festival-Vergnügen für Kritiker - die I-book-Filme zu zählen. Das schicke apple-Teil ist jedenfalls der Lieblingslaptop der Regisseure, auch Hou Hsiao-hsien und Wenders setzten es so ausgiebig in Szene, als wollten sie sich für den nächsten Werbespot anmelden.

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Ach ja, die Preise: Den ersten verleihen wir selbst - für den Film mit dem besten Titel. Ihn gewinnt PERDER ES UN QUESTION DE METODO, ein Film aus Kolumbien, der im Wettbewerb spät in der Nacht lief. "im 18.Jahrhundert litten die Leute eleganter" heißt der schöne erste Satz. Die Handlung spielt dann in der Gegenwart und erzählt eine jener altbekannten Geschichten, über einen Detektiv, der einen Mord aufklärt, dabei mehr über sich selber lernt, als über die Täter, und überdies ein junges Mädchen trifft. Das könnte einen tollen Hongkong-Film ergeben, denkt man, als in einem frühen Bild die Skyline von Medellin tatsächlich stark an die von Hongkong erinnert. Doch statt dann schnell und stylish zu werden, versinkt alles nach fünf Minuten in jene Lahmarschigkeit, die offenbar doch Teil der südamerikanischen Mentalität ist - zu sehr dominiert sie in fast allen Filmen des Kontinents. Mexiko, nur zur Erinnerung, gehört zu Nordamerika. Später dann bot ein Bekannter, an dem ich diese Bemerkung testete, auch eine mögliche Erklärung: In Kolumbien sei es einfach zu heiß. Das anstrengende Klima präge die Dreharbeiten und übertrage sich auf den Film. Aber kalt ist es in Hongkong auch nicht gerade…

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Den Goldenen Löwen bekam Mike Leigh mit seinem Abtreibungsdrama VERA DRAKE und einem weiteren Preis für Imelda Staunton in der Titelrolle. Einmal mehr in den letzten Jahren belohnte die Jury eines wichtigen Filmfestivals die politisch-moralische Botschaft anstelle künstlerischer Herausforderung.

In VERA DRAKE geht es um die Leiden der Unterschicht, in diesem Fall eine selbstlose Frau, die illegale Abtreibungen unternimmt, arm aber glücklich lebt. Durch sein Thema sorgte der Film schon im Vorfeld im katholischen Italien für durchaus berechenbare Provokation. Nicht wenige unterstellen Leigh hier gezieltes Kalkül - hatte doch erst vor zwei Jahren an gleicher Stelle mit Peter Mullans kirchenkritischen MAGDALENE SISTERS ein ähnlich engagierter, aber auch ähnlich ästhetisch langweiliger Film triumphiert. Da mit dem spanischen Sterbehilfemelodram MAR ARDENTO von Alejandro Amenabar, der den Silbernen Löwen und den Preis für den besten Darsteller (an Javier Bardem) gewann, ein weiterer "Message-Film" zwei Auszeichnungen erhielt, ist das schon eine sehr einseitige Ausrichtung der Preisvergabe. Die sympathischen Inhalte der Filme sind in beiden Fällen in stilistisch biedere Kammerspiele gekleidet, die die Filmgeschichte keinen Schritt voran bringen. Riskante und experimentelle Filmsprachen wie in Claire Denis' L'INTRUS oder Solondz PALINDROMES wurden ebenso komplett ignoriert, wie Filme mit unbequemerer Moral etwa Francois Ozons 5x2 oder ROY ET REINE von Deplechin. Überhaupt kamen die einzig wirklich interessanten europäischen Filme wieder einmal aus Frankreich.

Überraschend war, dass diesmal gar kein Preis an einen jener "kleinen" Filme ging, die aus Lateinamerika, Südostasien oder dem Nahen Osten stammen, und nur auf den großen Festivals überhaupt eine Chance haben, weltweite Aufmerksamkeit und möglicherweise einen europäischen Verleih zu erhalten. Schon in der Auswahl des neuen Festivalchefs Marco Müller waren derartige Filme im vergleich zu früheren Jahren nur schwach vertreten gewesen.

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Müller dürfte es in den nächsten Monaten noch aus anderen Gründen schwer haben. Erstmals seit Jahren gewann nämlich kein Film aus Italien irgendeinen Hauptpreis - dabei hatte die Berlusconi-Regierung den Schweizer, der zuvor die Festivals von Rotterdam und Locarno geleitet hatte, gerade mit der Vorgabe geholt, die "Präsenz des italienischen Films" zu stärken. Sein Vorgänger, Ex-Berlinale-Boss Moritz de Hadeln, hatte sich den Einflußnahmen der Regierung noch strikt verweigert. Unter Müller ist die Dominanz von Regierung und Sponsoren bei der Mostra so stark, wie noch nie. Müllers Interviews strotzen vor Kotaus an Berlusconis Kulturminister Urbani. Hinzu kommen die mehrfach erwähnten peinlichen Organisationspannen. Aber auch Müller wirkte an den letzten Tag recht schmallippig. Vielleicht wird er bald so schnell vergessen sein, wie alle Thesenfilme - nur die Bilder auf der Leinwand bleiben wirklich.

Rüdiger Suchsland

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