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Viennale '04 04.11.2004
 
 
Dokumentarische Positionen
DARWIN'S NIGHTMARE
DARWIN'S NIGHTMARE
 
 
 
 

Wenn man ihr grollt, der Viennale, weil man nach der so wunderbar präzisen Doku in irgendein gutherzig, Song für Song dahindümpelndes Sundance-Außenseiterdrama hineingeraten ist, ist man schon mal versucht zu sagen: Gemischtwarenladen! Denn ein wirklich klares Profil hat sich die Viennale, seit sie 1997 vom ehemaligen Filmkritiker Hans Hurch im Alleingang geleitet wird, nicht erarbeitet. Sie bietet von jedem ein bisschen was, vor allem aber einen Panoramablick über das vergangene A-Festivaljahr, der von Film- und Pressegästen nicht zuletzt wegen der ihn umgebenden Atmosphäre geschätzt wird: Den neuen Godard im sechziger Jahre Kinopalast und nachher auf ein Achterl Rot unter die Kronleuchter des Café Prückl.

Soll sein, und vielleicht ist ja letztlich auch die Vielheit eine Charakteristik, die Möglichkeit, Dinge zusammen zu sehen, die gerade dann an Reiz gewinnt, wenn man eben nicht mit jeder programmierten Arbeit einverstanden ist.
Zum Beispiel die Dokumentarfilme. 45 waren es heuer im Hauptprogramm, was gegenüber 63 Spielfilmen eine beachtliche Menge ist. 45 Dokumentarfilme und fast ebenso viele dokumentarische Positionen. Eine subjektive Auswahl:

Beobachter des Verfahrens - Das Bild ist die Aussage

Da waren einmal Arbeiten, die alltägliche, scheinbar banale Vorgänge unter extremer inszenatorischer Zurückhaltung beobachteten: NICHT OHNE RISIKO etwa, eine Videoarbeit des deutschen Polit-Essayfilmers Harun Farocki, und 10e CHAMBRE, INSTANTS D'AUDIENCE ein filmisches Gerichtsprotokoll von Raymond Depardon. Beide verfolgen sie Verhandlungen, also jenen schwebenden Zustand dem Taten vorausgegangen sind und Konsequenzen folgen werden:
NICHT OHNE RISIKO ist eine Videoarbeit, die die Vertragsgespräche zwischen einem Risikokapitalgeber und einem kleinem, finanzschwachen Unternehmen begleitet. Eine Handvoll Herren in glatt gebügelten Oberhemden sitzen sich in einem neonbeleuchteten Raum im Münchner Industriegebiet gegenüber und taktieren. Stellen in ihren Körperhaltungen Souveränität zur Schau, oder das, was sie dafür halten, sagen "partnership", "contract" oder "venture capital" und freuen sich über diese Worte wie über neue Bauklötze.

Farockis Kommentar des Geschehens besteht in der Hauptsache aus Vokabeleinblendungen: Englische Wortseifenblasen und deren deutsche Übersetzungen, was den Vorgang weniger erklärt, als dass es ihn noch mehr entrückt. Wie schon in seinem vorletzten Film DIE SCHÖPFER DER EINKAUFWELTEN (2001) geht es um abstrakte Vorgänge, die dem konkreten Konsumvorgang vorausgehen. Kapital- und Warenfluss als Reißbrettspiele im luftleeren Raum. Die Inszenierung ist das, was vor der Kamera stattfindet. Minimalistisch darum die filmische Inszenierung selbst: Gedreht wurde mit einer Kamera, ohne künstliche Beleuchtung und der Schnitt folgt der chronologischen Reihenfolge, konzentriert lediglich sieben Verhandlungsstunden auf 52 Filmminuten. Es ist, was es ist, sagt Farockis Film: Die Bilder sprechen für sich.

Einer Reihe von Verhandlungen, diesmal vor Gericht, folgt auch 10e CHAMBRE, INSTANTS D'AUDIENCE ("BEZIRKSGERICHT 10. ARRONDISSEMENT - MOMENTE DER VERHANDLUNGEN) von Raymond Depardon. Von Mai bis Juli 2003 filmte der französische Dokumentarist (DELITS FLAGRANTS, 1994) die Prozesse an einem Pariser Zivilgerichtshof mit: Verstöße gegen das Alkoholverbot am Steuer, Stalking einer Ex-Ehefrau, Taschendiebstahl, Haschisch-Handel. Auch Depardons Film scheint sich zunächst jeder Kommentare zu enthalten, erst allmählich fällt auf, dass die Position der Kameras selbst die Machtordung im Gerichtssaal in Frage stellt. Das ‚hohe Gericht' - es ist konsequent in leichter Aufsicht fotografiert. Die Angeklagten dagegen in ebenso leichter Untersicht, jenem Blickwinkel, der den menschlichen Körper größer erscheinen lässt. So setzt die Inszenierung der Machtverteilung - hier Tadel dort Zerknirschtheit - ein visuelles Gewicht entgegen, weist darauf hin, dass hier wie dort Menschen stehen, die nur eine von der Gesellschaft zugewiesene Rolle spielen.

Tagebuchfilmer - Die Welt persönlich nehmen

Auch zwei Proponenten jener derzeit boomenden persönlichen Dokumentationen waren bei der Viennale vertreten: JARMARK EUROPA der jungen Berliner Regisseurin mit dem eigenwilligen Namen Minze Tummescheit und die satirische Tagebuchdoku BRIGHT LEAVES des großen amerikanischen Dokumentaristen Ross McElwee.
BRIGHT LEAVES, der von der Tabackpflanzervergangenheit der McElwee-Familie ausgeht, um sich dem Phänomen des Rauchens per se zu nähern, ist das, was man im angloamerikanischen Raum eine diary-documentary nennt, ein Genre, das derzeit durch kommerziell erfolgreiche Vertreter wie Morgan Spurlocks McDonalds-Selbstexperiment SUPERSIZE ME im Kino prominent vertreten ist. McElwees Ansatz erinnert allerdings weniger an die provokant-investigative Zugangsweise eines Spurlock oder Michael Moore, er geht subtiler vor, sucht die zufälligen Inspirationen am Rand, setzt sich einfach mal zu einer Gruppe rauchender Lehrlingsmädchen die sich in der Mittagspause sonnen und wartet ab, was ihm die zu erzählen haben. Insofern ist er eher ein stiller Jäger und Sammler, ähnlich Agnès Varda in ihren neueren Dokumentarfilmen (Varda steuerte zur Viennale 04 übrigens den Trailer bei) oder ähnlich auch den Arbeiten des Kanada-Schweizers Peter Mettler, der in GAMBLING, GODS AND LSD ebenfalls die persönlichen Erfahrungen einer Reise mit einer Reflektion über das Prinzip des Rausches und der Abhängigkeit verbunden hat.
Und natürlich, insofern ähnelt McElwees Stil dem ebenfalls grundsympathischen JARMARK EUROPA , ist BRIGHT LEAVES auch eine Reflektion über das Filmemachen selbst. Das Drehen ist für den Regisseur und Kameramann eine Sucht, wie für andere der Zug an der Zigarette: "Wenn ich durch den Sucher blicke, scheint die Zeit still zu stehen", sagt er aus dem Off und zeigt uns dabei die zeitvergessene Südstaatenlandschaft und das Wogen der hellgrünen, ledrigen Blätter.

Minze Tummescheits JARMARK EUROPA bezieht das Filmemachen noch wesentlich offensiver, frecher mit ein. Dabei macht sich die Regisseurin in ihrem Debütfilm - warum auch nicht? - ihre Jugend und relative Unerfahrenheit zu Nutze, thematisiert Schwächen, macht technischnische und persönliche Grenzen sichtbar, statt sie zu vertuschen. "Ich bin diesmal ohne Stativ gekommen", erklärt uns Tummescheit etwa einmal aus dem Off. "Deshalb gibt es keine Totalen." Fair enough. Der räumliche Mittelpunkt des Films ist ein ehedem JARMARK EUROPA genannter Bazar im Warschauer Dziesieciolecia-Stadium, der größte private Warenumschlagplatz Osteuropas.
Tummescheit ist spürbar fasziniert von den Menschenmassen, die hier, auch bei Eisestemperaturen unter freiem Himmel Handel treiben. Von Frauen, wie Kaleria und Svetlana, die in dicke Mäntel gemummt, aus Russland eingeschmuggelte Waren für einen geringen Gewinn verkaufen. Aus diesen ganz konkreten Bildern ergeben sich die Fragen nach den Zusammenhängen von ganz allein: Wie kommt es zum Beispiel, dass Kaleria, die zu Sowjet-Zeiten eine Klinik geleitet hat, heute Uhren, Superkleber und Gewürzpäckchen auf dem Boden ausbreiten muss? Was ist das für ein neues, goldenes System, das hier den Kommunismus abgelöst hat?
Ausgesprochene Sensibilität beweist Tummescheit auch gegenüber der Machtposition der Kamera: Wenn die vorbeigehenden Menschen feindselig in die Kamera blicken, werden diese Störmomente nicht etwa im Schnitt eliminiert, sondern die Regisseurin überlegt, ob sie nicht berechtigt sind, schließlich "bestätigt die Kamera die Hierarchie."
Diesen Moment sollte man festhalten, bevor man sich dem nächsten Film, dem Preisträger der prominentesten Auszeichnung der Viennale, des Wiener Filmpreises, DARWIN'S NIGHTMARE von Hubert Sauper gegenübertritt.

Der Aufdecker - Der Kapitalismus als Horrorfilm

Hubert Sauper, ein in Paris lebender Tiroler Mitte Dreißig, erregte 1997 bereits mit einem Film Aufsehen. "Aufschrecken" wäre vielleicht das bessere Wort, denn in seiner Dokumentation KISANGAY DIARY fühlte man sich als Zuschauer vor allem irritiert und schutzlos. Das hatte schon was von BLAIR WITCH PROJECT, wie hier eine Gruppe junger Leute mit einer Kamera in der Wildnis, mitten im blutigen Bürgerkrieg von Ruanda, gestrandet war und nun in wackligen Bildern den sie überrollenden Ereignissen nachstürzte. Weder der Position der Kamera, noch der Montage konnte man hier Vertrauen entgegen bringen. Die Schlüsselszene: Minutenlang fixiert Saupers Kamera die glasig-starren Augen eines verhungernden Kindes, um es schließlich zu fragen, wie es ihm ginge. "Gut", antwortet das Kind, dem man den Tod schon ansieht.
Eine beinahe idente Szene findet sich nun in Saupers DARWIN'S NIGHTMARE: Hier richtet er die Kamera auf den ausgemergelten Körper einer schwarzen Frau, die sich ihren Lebensunterhalt damit verdient, Fischskelette zum Trocknen aufzuhängen. Die arme Bevölkerung Tansanias ernährt sich von diesen Resten westlicher Wohlstandsprodukte. Die Frau ist knochig, man kann sich vorstellen, wie es stinkt, um sie herum. Mit den Füßen steht sie in einer faulenden Masse, in Großaufnahme sieht man Maden zwischen ihren Zehen. "Es geht mir besser als früher", sagt sie. "Jetzt, wo ich Arbeit habe."
Saupers Filme sind zynisch. Sie suchen die Krassheit des Elends und stellen sie aus. Sie haben keine Moral, wollen oder können nicht verstehen, dass auch die Kamera eine Verantwortung gegenüber den abgebildeten Menschen hat.

DARWIN'S NIGHTMARE erzählt von komplexen Zusammenhängen, von der Umweltkatastrophe, die die Einführung des Viktoriabarsches, eines Raubfisches, der alles andere Leben tötete, auf die Fauna des Viktoriasees hatte. Diese Ebene, deren Aussage lautet: das natürliche Gleichgewicht stimmt nicht mehr, schaltet er parallel mit der "menschlichen Vegetation" am Viktoriasee, zeigt Krüppel, Kinder mit vom Hunger aufgeschwemmten Bäuchen, AIDS-Kranke. Ökosystem kaputt, Menschen kaputt. Da funktioniert eben die natürliche Auslese nicht mehr.
Alles hängt hier irgendwie mit allem zusammen, Prostitution, Waffenschmuggel, Welthunger, nur der Film, der hat mit seinen Bildern wenig zu tun. Die hat er ja gefunden.
Vom Finden sprach Sauper in der Diskussion nach der Vorführung: "Wir sind los gefahren mit einer gewissen Hypothese und wenig Wissen, denn es gibt ja wenig darüber und haben dann mehr gefunden als wir gesucht haben."
Und auch die Jury-Begründung zeichnet den Jäger und Sammler aus: "Sauper findet eindrucksvolle, archaische Bilder für seine kraftvolle Erzählung und verwischt die Grenzen zwischen den Genres, zwischen Dokumentarfilm, Reportage und narrativem Feature".
Eindrucksvoll? Archaisch? Ist damit jene Szene gemeint, in der sich vor der (oder: für die?) Kamera Straßenkinder mit Hungerödem um eine Schüssel Reis streiten, sich die Nahrung aus den Händen schlagen, bis sie auf dem sandigen Boden ungenießbar wird. Aufgerissene Münder in Großaufnahme. Wem gehört dieser gierige Kamerablick, der sich immer mitten ins Geschehen stürzt? Offenbart sich nicht in diesem Blick viel stärker die Gier des Westens, als in allen suggestiven Zwischentiteln, die dem westlichen Kapitalismus die Not Afrikas ankreiden?
Eine letzte Szene aus DARWIN'S NIGHTMARE, einem Film, der erstaunlicher Weise produziert wurde von der jungen Wiener Coop99, der neben Barbara Albert in der Doppelfunktion als Regie-Produzentin u.a. auch Jessica Hausner angehört. Aus diesem Haus stammen so subtile Spielfilm-Porträts wie Hausners LOVELY RITA. Freches, aber nie unreflektiertes Kino wie Alberts BÖSE ZELLEN oder Hans Weingartners (ebenfalls auf der Viennale gezeigter) DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI. Wie passt dieser Film hier ins Programm?
Wie sagt noch Tummescheit in ihrem Film: "Die Menschen haben ein Recht, nicht gefilmt zu werden." Und: "Die Kamera bestätigt die Hierarchie." Und: "Etwas über das Befremden auf beiden Seiten sollte auch noch gesagt werden." Und: "Die Bilder, die ich nicht gemacht habe, sind leuchtender und kraftvoller als alles, was ich gefilmt habe."
Oft sind es auf der Leinwand die kleinen Ereignisse, die stillen Bilder, die zu den wirklich wichtigen Einsichten führen.

Maya McKechneay

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