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Wenn man ihr grollt, der Viennale, weil man nach der so wunderbar
präzisen Doku in irgendein gutherzig, Song für Song
dahindümpelndes Sundance-Außenseiterdrama hineingeraten
ist, ist man schon mal versucht zu sagen: Gemischtwarenladen!
Denn ein wirklich klares Profil hat sich die Viennale, seit
sie 1997 vom ehemaligen Filmkritiker Hans Hurch im Alleingang
geleitet wird, nicht erarbeitet. Sie bietet von jedem ein
bisschen was, vor allem aber einen Panoramablick über
das vergangene A-Festivaljahr, der von Film- und Pressegästen
nicht zuletzt wegen der ihn umgebenden Atmosphäre geschätzt
wird: Den neuen Godard im sechziger Jahre Kinopalast und nachher
auf ein Achterl Rot unter die Kronleuchter des Café
Prückl.
Soll sein, und vielleicht ist ja letztlich auch die Vielheit
eine Charakteristik, die Möglichkeit, Dinge zusammen
zu sehen, die gerade dann an Reiz gewinnt, wenn man eben nicht
mit jeder programmierten Arbeit einverstanden ist.
Zum Beispiel die Dokumentarfilme. 45 waren es heuer im Hauptprogramm,
was gegenüber 63 Spielfilmen eine beachtliche Menge ist.
45 Dokumentarfilme und fast ebenso viele dokumentarische Positionen.
Eine subjektive Auswahl:
Beobachter des Verfahrens - Das Bild ist die Aussage
Da waren einmal Arbeiten, die alltägliche, scheinbar
banale Vorgänge unter extremer inszenatorischer Zurückhaltung
beobachteten: NICHT OHNE RISIKO etwa, eine Videoarbeit
des deutschen Polit-Essayfilmers Harun Farocki, und 10e CHAMBRE,
INSTANTS D'AUDIENCE ein filmisches Gerichtsprotokoll von Raymond
Depardon. Beide verfolgen sie Verhandlungen, also jenen schwebenden
Zustand dem Taten vorausgegangen sind und Konsequenzen folgen
werden:
NICHT OHNE RISIKO ist eine Videoarbeit, die die Vertragsgespräche
zwischen einem Risikokapitalgeber und einem kleinem, finanzschwachen
Unternehmen begleitet. Eine Handvoll Herren in glatt gebügelten
Oberhemden sitzen sich in einem neonbeleuchteten Raum im Münchner
Industriegebiet gegenüber und taktieren. Stellen in ihren
Körperhaltungen Souveränität zur Schau, oder
das, was sie dafür halten, sagen "partnership",
"contract" oder "venture capital" und
freuen sich über diese Worte wie über neue Bauklötze.
Farockis Kommentar des Geschehens besteht in der Hauptsache
aus Vokabeleinblendungen: Englische Wortseifenblasen und deren
deutsche Übersetzungen, was den Vorgang weniger erklärt,
als dass es ihn noch mehr entrückt. Wie schon in seinem
vorletzten Film DIE SCHÖPFER DER EINKAUFWELTEN (2001)
geht es um abstrakte Vorgänge, die dem konkreten Konsumvorgang
vorausgehen. Kapital- und Warenfluss als Reißbrettspiele
im luftleeren Raum. Die Inszenierung ist das, was vor der
Kamera stattfindet. Minimalistisch darum die filmische Inszenierung
selbst: Gedreht wurde mit einer Kamera, ohne künstliche
Beleuchtung und der Schnitt folgt der chronologischen Reihenfolge,
konzentriert lediglich sieben Verhandlungsstunden auf 52 Filmminuten.
Es ist, was es ist, sagt Farockis Film: Die Bilder sprechen
für sich.
Einer Reihe von Verhandlungen, diesmal vor Gericht, folgt
auch 10e CHAMBRE, INSTANTS D'AUDIENCE ("BEZIRKSGERICHT
10. ARRONDISSEMENT - MOMENTE DER VERHANDLUNGEN) von Raymond
Depardon. Von Mai bis Juli 2003 filmte der französische
Dokumentarist (DELITS FLAGRANTS, 1994) die Prozesse an einem
Pariser Zivilgerichtshof mit: Verstöße gegen das
Alkoholverbot am Steuer, Stalking einer Ex-Ehefrau, Taschendiebstahl,
Haschisch-Handel. Auch Depardons Film scheint sich zunächst
jeder Kommentare zu enthalten, erst allmählich fällt
auf, dass die Position der Kameras selbst die Machtordung
im Gerichtssaal in Frage stellt. Das hohe Gericht' -
es ist konsequent in leichter Aufsicht fotografiert. Die Angeklagten
dagegen in ebenso leichter Untersicht, jenem Blickwinkel,
der den menschlichen Körper größer erscheinen
lässt. So setzt die Inszenierung der Machtverteilung
- hier Tadel dort Zerknirschtheit - ein visuelles Gewicht
entgegen, weist darauf hin, dass hier wie dort Menschen stehen,
die nur eine von der Gesellschaft zugewiesene Rolle spielen.
Tagebuchfilmer - Die Welt persönlich nehmen
Auch zwei Proponenten jener derzeit boomenden persönlichen
Dokumentationen waren bei der Viennale vertreten: JARMARK
EUROPA der jungen Berliner Regisseurin mit dem eigenwilligen
Namen Minze Tummescheit und die satirische Tagebuchdoku BRIGHT
LEAVES des großen amerikanischen Dokumentaristen Ross
McElwee.
BRIGHT LEAVES, der von der Tabackpflanzervergangenheit
der McElwee-Familie ausgeht, um sich dem Phänomen des
Rauchens per se zu nähern, ist das, was man im angloamerikanischen
Raum eine diary-documentary nennt, ein Genre, das derzeit
durch kommerziell erfolgreiche Vertreter wie Morgan Spurlocks
McDonalds-Selbstexperiment SUPERSIZE ME im Kino prominent
vertreten ist. McElwees Ansatz erinnert allerdings weniger
an die provokant-investigative Zugangsweise eines Spurlock
oder Michael Moore, er geht subtiler vor, sucht die zufälligen
Inspirationen am Rand, setzt sich einfach mal zu einer Gruppe
rauchender Lehrlingsmädchen die sich in der Mittagspause
sonnen und wartet ab, was ihm die zu erzählen haben.
Insofern ist er eher ein stiller Jäger und Sammler, ähnlich
Agnès Varda in ihren neueren Dokumentarfilmen (Varda
steuerte zur Viennale 04 übrigens den Trailer bei) oder
ähnlich auch den Arbeiten des Kanada-Schweizers Peter
Mettler, der in GAMBLING, GODS AND LSD ebenfalls die persönlichen
Erfahrungen einer Reise mit einer Reflektion über das
Prinzip des Rausches und der Abhängigkeit verbunden hat.
Und natürlich, insofern ähnelt McElwees Stil dem
ebenfalls grundsympathischen JARMARK EUROPA , ist BRIGHT LEAVES
auch eine Reflektion über das Filmemachen selbst. Das
Drehen ist für den Regisseur und Kameramann eine Sucht,
wie für andere der Zug an der Zigarette: "Wenn ich
durch den Sucher blicke, scheint die Zeit still zu stehen",
sagt er aus dem Off und zeigt uns dabei die zeitvergessene
Südstaatenlandschaft und das Wogen der hellgrünen,
ledrigen Blätter.
Minze Tummescheits JARMARK EUROPA bezieht das Filmemachen
noch wesentlich offensiver, frecher mit ein. Dabei macht sich
die Regisseurin in ihrem Debütfilm - warum auch nicht?
- ihre Jugend und relative Unerfahrenheit zu Nutze, thematisiert
Schwächen, macht technischnische und persönliche
Grenzen sichtbar, statt sie zu vertuschen. "Ich bin diesmal
ohne Stativ gekommen", erklärt uns Tummescheit etwa
einmal aus dem Off. "Deshalb gibt es keine Totalen."
Fair enough. Der räumliche Mittelpunkt des Films ist
ein ehedem JARMARK EUROPA genannter Bazar im Warschauer Dziesieciolecia-Stadium,
der größte private Warenumschlagplatz Osteuropas.
Tummescheit ist spürbar fasziniert von den Menschenmassen,
die hier, auch bei Eisestemperaturen unter freiem Himmel Handel
treiben. Von Frauen, wie Kaleria und Svetlana, die in dicke
Mäntel gemummt, aus Russland eingeschmuggelte Waren für
einen geringen Gewinn verkaufen. Aus diesen ganz konkreten
Bildern ergeben sich die Fragen nach den Zusammenhängen
von ganz allein: Wie kommt es zum Beispiel, dass Kaleria,
die zu Sowjet-Zeiten eine Klinik geleitet hat, heute Uhren,
Superkleber und Gewürzpäckchen auf dem Boden ausbreiten
muss? Was ist das für ein neues, goldenes System, das
hier den Kommunismus abgelöst hat?
Ausgesprochene Sensibilität beweist Tummescheit auch
gegenüber der Machtposition der Kamera: Wenn die vorbeigehenden
Menschen feindselig in die Kamera blicken, werden diese Störmomente
nicht etwa im Schnitt eliminiert, sondern die Regisseurin
überlegt, ob sie nicht berechtigt sind, schließlich
"bestätigt die Kamera die Hierarchie."
Diesen Moment sollte man festhalten, bevor man sich dem nächsten
Film, dem Preisträger der prominentesten Auszeichnung
der Viennale, des Wiener Filmpreises, DARWIN'S NIGHTMARE von
Hubert Sauper gegenübertritt.
Der Aufdecker - Der Kapitalismus als Horrorfilm
Hubert Sauper, ein in Paris lebender Tiroler Mitte Dreißig,
erregte 1997 bereits mit einem Film Aufsehen. "Aufschrecken"
wäre vielleicht das bessere Wort, denn in seiner Dokumentation
KISANGAY DIARY fühlte man sich als Zuschauer vor allem
irritiert und schutzlos. Das hatte schon was von BLAIR WITCH
PROJECT, wie hier eine Gruppe junger Leute mit einer Kamera
in der Wildnis, mitten im blutigen Bürgerkrieg von Ruanda,
gestrandet war und nun in wackligen Bildern den sie überrollenden
Ereignissen nachstürzte. Weder der Position der Kamera,
noch der Montage konnte man hier Vertrauen entgegen bringen.
Die Schlüsselszene: Minutenlang fixiert Saupers Kamera
die glasig-starren Augen eines verhungernden Kindes, um es
schließlich zu fragen, wie es ihm ginge. "Gut",
antwortet das Kind, dem man den Tod schon ansieht.
Eine beinahe idente Szene findet sich nun in Saupers DARWIN'S
NIGHTMARE: Hier richtet er die Kamera auf den ausgemergelten
Körper einer schwarzen Frau, die sich ihren Lebensunterhalt
damit verdient, Fischskelette zum Trocknen aufzuhängen.
Die arme Bevölkerung Tansanias ernährt sich von
diesen Resten westlicher Wohlstandsprodukte. Die Frau ist
knochig, man kann sich vorstellen, wie es stinkt, um sie herum.
Mit den Füßen steht sie in einer faulenden Masse,
in Großaufnahme sieht man Maden zwischen ihren Zehen.
"Es geht mir besser als früher", sagt sie.
"Jetzt, wo ich Arbeit habe."
Saupers Filme sind zynisch. Sie suchen die Krassheit des Elends
und stellen sie aus. Sie haben keine Moral, wollen oder können
nicht verstehen, dass auch die Kamera eine Verantwortung gegenüber
den abgebildeten Menschen hat.
DARWIN'S NIGHTMARE erzählt von komplexen Zusammenhängen,
von der Umweltkatastrophe, die die Einführung des Viktoriabarsches,
eines Raubfisches, der alles andere Leben tötete, auf
die Fauna des Viktoriasees hatte. Diese Ebene, deren Aussage
lautet: das natürliche Gleichgewicht stimmt nicht mehr,
schaltet er parallel mit der "menschlichen Vegetation"
am Viktoriasee, zeigt Krüppel, Kinder mit vom Hunger
aufgeschwemmten Bäuchen, AIDS-Kranke. Ökosystem
kaputt, Menschen kaputt. Da funktioniert eben die natürliche
Auslese nicht mehr.
Alles hängt hier irgendwie mit allem zusammen, Prostitution,
Waffenschmuggel, Welthunger, nur der Film, der hat mit seinen
Bildern wenig zu tun. Die hat er ja gefunden.
Vom Finden sprach Sauper in der Diskussion nach der Vorführung:
"Wir sind los gefahren mit einer gewissen Hypothese und
wenig Wissen, denn es gibt ja wenig darüber und haben
dann mehr gefunden als wir gesucht haben."
Und auch die Jury-Begründung zeichnet den Jäger
und Sammler aus: "Sauper findet eindrucksvolle, archaische
Bilder für seine kraftvolle Erzählung und verwischt
die Grenzen zwischen den Genres, zwischen Dokumentarfilm,
Reportage und narrativem Feature".
Eindrucksvoll? Archaisch? Ist damit jene Szene gemeint, in
der sich vor der (oder: für die?) Kamera Straßenkinder
mit Hungerödem um eine Schüssel Reis streiten, sich
die Nahrung aus den Händen schlagen, bis sie auf dem
sandigen Boden ungenießbar wird. Aufgerissene Münder
in Großaufnahme. Wem gehört dieser gierige Kamerablick,
der sich immer mitten ins Geschehen stürzt? Offenbart
sich nicht in diesem Blick viel stärker die Gier des
Westens, als in allen suggestiven Zwischentiteln, die dem
westlichen Kapitalismus die Not Afrikas ankreiden?
Eine letzte Szene aus DARWIN'S NIGHTMARE, einem Film, der
erstaunlicher Weise produziert wurde von der jungen Wiener
Coop99, der neben Barbara Albert in der Doppelfunktion als
Regie-Produzentin u.a. auch Jessica Hausner angehört.
Aus diesem Haus stammen so subtile Spielfilm-Porträts
wie Hausners LOVELY RITA. Freches, aber nie unreflektiertes
Kino wie Alberts BÖSE ZELLEN oder Hans Weingartners (ebenfalls
auf der Viennale gezeigter) DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI.
Wie passt dieser Film hier ins Programm?
Wie sagt noch Tummescheit in ihrem Film: "Die Menschen
haben ein Recht, nicht gefilmt zu werden." Und: "Die
Kamera bestätigt die Hierarchie." Und: "Etwas
über das Befremden auf beiden Seiten sollte auch noch
gesagt werden." Und: "Die Bilder, die ich nicht
gemacht habe, sind leuchtender und kraftvoller als alles,
was ich gefilmt habe."
Oft sind es auf der Leinwand die kleinen Ereignisse, die stillen
Bilder, die zu den wirklich wichtigen Einsichten führen.
Maya McKechneay
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