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Summer in the City
Es füllt sich! Das Festival geht in die Zielgerade der Woche und die Stimmung
ändert sich. Es liegt Schnee in Berlin, der Alex ist weiß, und auf dem Weg von der
U-Bahn zum Potsdamer Platz tasten sich die Füße über die schlierig-matschigen Pflaster.
Die Schlangen auch jetzt frühmorgens bei den Überprivilegierten, den Presseleuten,
aber don't panic! es gibt immer noch für alles Erwünschte Karten. Außerdem ist das
Programm so gut strukturiert, dass fast alles auch durch Pressevorführungen abgedeckt
werden kann.
Gestern war ja so ein Tag, den man getrost aus dem Festivalgedächtnis streichen kann.
EL INMORTAL der Nicaraguanerin Mercedes Moncada Rodríguez, eine Dokumentation über den
Kampf zwischen den Sandinisten und Contras in Nicaragua eilte ein sagenhafter Ruf voraus.
Und in der Tat ist die Geschichte von den Zwillingsbrüdern Riviera, die im Kampf zu Gegnern
werden, der eine ein Sandinist, der andere Contra, dann nach dem Konflikt wieder zurück
in die Familie kehren und sich versöhnen, eine packende Lebensgeschichte. Sie zeigt, wie
sehr familiäre Beziehungen auseinandergerissen werden können durch die Zeitgeschichte,
wie sehr aber auch das Familiäre geeignet ist, das Zerissene wieder zu versöhnen. Die
Familie Riviera kann viele Geschichten aus dem Kampf erzählen. Die Schwester der
Zwillinge kämpfte mit bei den Contras, verschweigt jetzt aber ihre Zeit als Aktivistin
lieber, denn die Frauen wurden damals unter den Kämpfenden herumgereicht. Heute lebt die
Familie in García Marquez'scher Manier in drei Generationen unter einem Dach, Regengüsse
treiben sie hinaus, um im Freien eine Dusche zu nehmen, Hähne werden zum Kampf auf dem
Marktplatz gerüstet, eine eindrucksvolle Metapher, natürlich, auch für den vergangenen
Kampf zwischen Zwillingsbrüder. So weit, so sehr schön.
Den nicaraguanischen Konflikt über die persönliche Geschichte einer Familie zu erzählen,
ist ein Beitrag zur "biographischen Wende" der politischen Geschichte, die ganz aktuell ist.
Was aber leider bei EL INMORTAL dominiert, ist der bemühte Versuch der Regisseurin,
ein Universum zu bebildern, das sich vom Gewöhnlichen abhebt. So ist die Schwester der
Zwillinge davon überzeugt, von den bösen Dämonen besessen zu sein, auch weil sie unter
den Contras als Frau die sexuellen Übergriffe erdulden konnte. In Überblendungen wird
der Dämonenglaube illustriert, etwas, das ganz im Lateinamerikanischen verwurzelt ist,
der magische Realismus, in dem sich das Alltägliche in etwas Verzaubertes verwandelt.
Der Bebilderung von Erzähltem haftet aber leider sehr oft etwas Unbeholfenes an, so auch
hier, wenn ein Hund, der den Dämon illustrieren soll, ins Bild geholt wird, unterlegt durch
suggestiven Sound. Das lenkt nur ab von den Geschichten, die erzählt werden, rückt so sehr
die Regiearbeit in den Vordergrund, die nicht wirklich überzeugt. Irritierend ist auch Laster,
"El Inmortal", der Unsterbliche, der leitmotivisch durch den Film fährt, um am Ende
efeubewachsen im Schlamm zu verecken. Da kann man natürlich den Interpretationswillen
in Gang setzen, lieber aber hätte der Film auf die Geschichten vertrauen sollen,
anstatt sich in verquaster Symbolik eine mystische Ebene zu geben.
+ + +
Nur ein Satz zu der Enttäuschung des gestrigen Tages: Thomas Heise hat einen
Bruder, den er in seinem neuen Film MEIN BRUDER zu Wort kommen lässt. Ich persönlich
möchte mit diesem Bruder, der es sich in Frankreich bei Wein und Zigarette gemütlich
gemacht hat, keine Stunde in einem Raum verbringen, so viel Trägheit kann keiner
aushalten, und dem eirigen Erzählen über die Zeit in der DDR, als sein bester Freund
ihn als IM ausspioniert hat, will niemand wirklich folgen. Der Film dauerte 57 Minuten,
ein qualvolles, erzwungenes Zusammensein mit einem Menschen, dem man am liebsten einen
Tritt in den Hintern gäbe. Ach, hätte doch der geschätzte Thomas Heise ihn am Schlawittchen
gepackt und für ihn gesungen: "Bruder, zur Sonne zur Freiheit, Bruder, zum Lichte empor!"
+ + +
Mehr lohnte sich bislang das französische Kino. Claire Denis hat in ihrer Dokumentation
VERS MATHILDE ein stilistisch ausgearbeitetes Protrait über die französische Choreographin
Mathilde Monnier geschaffen, in dem die Kamera einen dichten Dialog mit den Tänzern entfaltet.
Zu Beginn sehen wir nur Hände in Spiralen einen Raum durchziehen. Dazu aus dem Off die
Beschreibung von Mathilde über das, was sie gerade tut: "Einen Raum durch Bewegung zu
füllen ist einen Raum zu verändern, wie ein Kratzer, der auf einer Fläche hinterlassen
wird." Ein Diktum, das auf die Arbeit einstimmt, die mit den Tänzern beginnt. In fließenden
Bewegungen schrauben sie sich auf den Boden, verdrehen sich kopfüber in der Vertikalen und
kommen wieder ins Stehen, ein ganz und gar natürlicher Bewegungsablauf des Körpers durch
den Raum. Die Tänzer versinken in latexbespannten Boxen, ihre Körper gleiten in den
Fragmenten Kopf - Bauch - Füße - Hände sukzessive in den engen Raum, verschwinden.
Das Prinzip dieser Körperlichkeit setzt sich in der Kameraarbeit fort. Enge Close-Ups
fokussieren die gefilmten Körper in ihren Bestandteilen, der Blick ruht auf den Händen,
den Füßen. Selten erhalten wir ein Gesamtbild über das, was passiert. Auch der Film
verweigert diese Orientierung, was in den schlechten Momenten, da wo es um die
Vorbereitung zu einer Produktion geht, zu Ratlosigkeit führt, in den guten Momenten,
da wo dem Tanz, in seiner Körperlichkeit, selbst Raum geschaffen wird, zu einer
erhellenden Verstärkung des Gezeigten gelangt. Claire Denis, die auch in ihren
vergangenen Filmen an Körperlichkeit und der Arbeit am Körper interessiert war,
hat in der Wahl von zwei verschiedenen Kameras - eine Super-8-Kamera, die Bilder
in grobem Korn produziert und eine Super-16-Kamera, die klare Bilder schafft - eine
Wahl getroffen, die auf der ästhetischen Ebene die filmische Körperlichkeit
mitthematisiert und sich der tänzerischen Arbeit annähert. VERS MATHILDE ist
eine Begegnung zwischen einer Regisseurin und einer Choreographin, die über
den Tanz das genuin Filmische hervorzubringen vermag. Beau Travail!
Wie sehr das französische Kino Formenspiele beherrscht, zeigte sich auch in der
abgedrehten Sommer-Komödie CRUSTACÉS ET COQUILLAGES von Olivier Ducastel und Jacques
Martineau. In dem Spiel um die Liebe, dem komödiantischen Sujet überhaupt, werden in
guter Komödientradition neue Paare zusammengeführt, dabei die sexuelle Ausrichtung neu
geordnet. Der Vater, gespielt von dem wunderbaren Gilbert Melki, bekennt sich zu seiner
unterdrückten Homosexualität seiner Jugendjahre, der Sohn, des Schwulseins verdächtigt,
nimmt alle Verwirrungen erster Liebesbegegnungen hin, die Mutter, Valéria Bruni-Tedeschi,
hat wilde Stelldicheins in der Küstenlandschaft von Marseille mit einem heimlichen Liebhaber.
Über dem ganzen Spiel steht der Gestus der ironischen Übertreibung, der gekonnt beherrscht wird.
Bruni-Tedeschi fährt in einem grellen T-Shirt singend auf ihrem Fahrrad über die Landstraße.
Vater und Mutter nehmen an einem Regentag die Klampfe in die Hand und geben für die frustriert
ins Haus Verdammten eine musikalische Einlage, ein Stück anti-naturalistischer Comédie Musicale,
deren Leichtigkeit auch in allen nicht gesungen Partien des Films gefunden wird. Schließlich
der Running Gag des in der Dusche verbrauchten warmen Wassers, unter dem der halbwüchsige Sohn
masturbiert: Selten hat man erlebt, dass sich ein Gag nicht abnützt, dass er wie hier immer
weiter ausgebaut wird und immer wieder aufs Neue Vergnüglichkeit erzeugen vermag.
Wahrscheinlich wird dies ein Höhepunkt der Berlinale gewesen sein, der leider nicht im
Wettbewerb lief. Ein Film, der Maßstäbe setzt an Leichtigkeit und Genre-Beherrschung. Und
ein schönes Stück Sommer, in diesem verschneiten Berlin.
Dunja Bialas
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