|
Göttliche Gespenster
Das Festival geht langsam aber sicher seinem Ende zu. Die Frage, die einen dieser Tage an
jeder Ecke überfällt, lautet: "Und, hast Du was schönes gesehen?" - Ja, hab ich denn was
schönes gesehen?
Bislang war der Wettbewerb eigentlich eher lau gewesen. Vielleicht war schuld daran
auch das eigene Kaprizieren auf die französischen Filme, in der Hoffnung, dort einige
kleine Juwelen zu entdecken. Erst aber mit Christian Petzold und GESPENSTER kam der
Wettbewerb in Bewegung, fand erfreute Erleichterung ob dieses leisen, verwunschenen,
seine Geschichte als viele Geschichten erzählenden und dann wieder revidierenden Films.
Eine Geschichte wie BLOW UP, in dem ein Bild imaginiert wird, hier werden die Geschichten
imaginiert, von Begegnungen. Zu Beginn des Filmes sieht man ein Mädchen, Nina (Julia Hummer)
frühmorgens auf einer Wiese im Berliner Tiergarten, sie sammelt Abfall auf, eine
Beschäftigungstherapie, die den Jugendlichen von dem Heim für betreutes Wohnen zugeteilt
wurde. Sie sieht, wie ein Mädchen von zwei Männern verfolgt wird. Sie sieht, wie das
Mädchen schreit, sich wehrt. Dann tauchen sie ab ins Gebüsch, verschwinden hinter einem
Baum. Nina geht langsam, zögerlich auf den Baum zu. Als sie ankommt, ist das Mädchen
allein, liegt auf der Erden, ihre weißen Jeans sind dreckig. Sie sagt: "Hilfst du mir auf?" -
Ein Begebenheit, die wie eine Novelle den Film in Gang bringt, zugleich ein Rätsel setzt von
dem, was in der Zeit, als sich Nina dem Baum zubewegte, passiert ist. Eine Loch in der
Erzählung, eine Leerstelle, in die hinein Nina ihre eigenen Erzählungen legt, die Geschichte
des Mädchens, das sie kennengelernt hat, immer wieder neu erfindet, bis es schließlich wieder
aus ihrem Leben verschwindet. Die Lücke, die Leere, die sich in den Erzählungen auftut, setzt
Petzold visuell in den Räumen fort, platziert seine Figuren in der weiten grünen Wiese des
Stadtparks und den kühlen, grauen Steinlandschaften der Hinternischen des Potsdamer Platzes,
diesem neugeschaffenen Nicht-Ort, unter dem sich die Geschichten verborgen halten. Und auch
der Rhythmus des Films erzeugt diese Leere, öffnet Platz für die Erzählungen - die Figuren
gehen lange Wege, bewegenen sich durch die weiten, freien Räume, in die hinein neue Begegnungen
und Begebenheiten fallen. Mit GESPENSTER ist Christian Petzold eine erzählerische
Meisterleistung gelungen: leicht ist und frei öffnet sie sich immer wieder auf neue
"Gespenstergeschichten" über die Begegnung mit Figuren, die wie Traumbilder auftauchen
und verschwinden.
Und heute dann SOLNZE von Alexander Sokurov, ein Film über den japanischen Kaiser
Hirohito, der sich im Sommer 1945 nach der Kapitulation Japans unter dem Eindruck der
amerikanischen Besatzung demokratisiert, vermenschlicht und am Ende seine göttliche
Herkunft ablegt. SOLNZE ist ein düsterer Film, mit einem langsam atmenden Rhythmus,
der viel Stille zulässt. Immer wieder dumpf zu hören durch die Wände des Palastes mit
seinem unterirdischen Bunker sind die Motorengeräusche der Flugzeuge der Alliierten,
die auf Tokio anfliegen. Manchmal kommt der Film ganz zum Stillstand, wenn Hirohito
eine Radierung betrachtet, wenn er seinen Kalligraphiepinsel in Farbe taucht, auf dickes
Papier Schriftzeichen setzt. SOLNZE ist ein großer Film, groß, wie er den Räumen ein
dumpfes, umschließendes Eigenleben zu geben vermag, in das die Geschichte des Kaisers
wie hineinzusinken scheint. Groß auch, wie er die historische Begegnung zwischen dem
Kaiser und dem amerikanischen Oberbefehlshaber erzählt, wie der Film sie als Menschen
begegnen lässt, ohne die Szene zusätzliche durch einen inszenierten Gestus des Historischen
aufzuladen. Und groß auch, wie sich über den schmalen Hirohito das Chaplineske in das
Düstere hineinwebt, der Film durch seine Präsenz eine Tonalität erhält, die leicht ist,
staunend und heiter. Für mich ist SOLNZE ein klarer Anwärter auf einen Bären.
Ganz anders der Wettbewerbsbeitrag LE PROMENEUR DU CHAMPS DE MARS (DER SPÄTE MITTERAND)
über die letzten Lebensmonate François Mitterands. Der französische Präsident, der für eine
ganze Generation Frankreichs prägend war, wird hier gezeigt als unbescheidener,
intellektueller Literat. "Ich bin der letzte große Präsident Frankreichs", lässt ihn
Regisseur Robert Guédiguian zu Beginn des Films sagen, "nach mir kommen nur noch die
EU und die Globalisierung." Der Präsident der großen Worte wird durch die fiktionale
Figur des jungen Antoine Moreau gesehen, dessen Perspektive der Film verfolgt. Der
Journalist führt Gespräche mit Mitterand über seine Memoiren, und vor allem interessiert
ihn seine Vergangenheit im Zusammenhang mit dem Vichy-Regime. Abkürzend ist über den Film
zu sagen, dass er nicht so schlecht war, wie befürchtet, ganz gut die Balance zwischen
Denkmalpflege und dem Kratzen am Denkmal hält. Nichtdestotrotz ein Film von einem
Franzosen für die Franzosen, damit von Special Interest, und es bleibt die Frage
offen, wie er denn eigentlich den Weg in den Wettbewerb finden konnte. Zumal der
Regisseur Robert Guédiguian Produzent des wunderbaren Panorama-Fims CRUSTACÉ ET COQUILLAGES
ist. Aber wahrscheinlich liegt ja genau hier der Grund für die Filmeverteilung begraben.
+ + +
Übrigens gab es Tumulte vor der Pressevorstellung zu GESPENSTER. Plötzlich mussten die
nahezu 1.500 Journalisten ihre Tasche an der Gaderobe abgeben. Das lag aber nicht, wie man
vielleicht vermuten könnte, an dem schützenswerten deutschen Kulturgut, sondern daran, dass
Kosslik ein Videoband mit einem illegalerweise abgefilmeten Wettbewerbsbeitrag zugeschoben
wurde. Und zwar von den Leuten der Anti-Piraterie-Kampagne, die so in Hackermanier auf
Sicherheitslücken im System hinweisen wollen.
Noch eine Unterwanderung, moralischer Art, die leider nicht strafbar ist: In der U-Bahn
war die Tage eine fette Schlagzeile zu lesen, die über die Monitore des B.Z.-Fernsehens,
dem Berliner Konkurrenzunternehmen zur "BILD", lief: Der Schauspieler Horst Buchholz war
schwul und alkoholabhängig! Geoutet von seinem Sohn Christopher im Dokumentarfilm HORST
BUCHHOLZ, MEIN PAPA! Es gibt also auch Film-Reporter, die sich in Paparazzi-Manier in
Dokumentarfilme reinschleichen, um sich am Lebensschicksal anderer Menschen nicht nur
zu ergötzen, sondern auch Profit daraus zu schlagen.
Profit schlagen lässt sich neuerdings anscheinend auch über die Kritik von Kritikern,
die jetzt endlich auch in die Glamour-Riege aufgestiegen sind: Die BUNTE hat in ihrer
Berlinale-Spezialausgabe Filmkritiker unter die Lupe genommen. Unserem allseits geliebten
Fritz Göttler wird darin ein Hang zu Seventies-Klamotten bescheinigt, der bei ihm nicht
retro, sondern authentisch sein soll, und auch sonst wird ihm eine Liebe zu allen (Film-)
Skurrilitäten zugesprochen.
Da bleibt nur zu sagen: Und das ist gut so.
Dunja Bialas
|