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Berlinale 2005 20.02.2005
 
 

Tagebuchnotizen: 20.02.2005

PEACOCK
 
 
 
 

Vielfalt und Einfalt des Weltkinos
Der Berlinale droht der Bedeutungsverlust - Notizen am letzten Tag eines enttäuschenden Festivals

Kunst oder Moral? Das war offenbar die Frage, über die sich die Jury entzweite. Jeweils zwei Silberne Bären gab es am Samstag für SOPHIE SCHOLL und THE WAYWARD CLOUD. Wer beide Filme gesehen hat kann zwischen dem eindringlichen, filmkünstlerisch aber begrenzten Ideendrama mit Mut zu ungebrochenem Idealismus und schillerischem Pathos und der hyptnotischen, tragikomischen Reflexion über Einsamkeit und die Chancen der Liebe in der Moderne nur ferne Gemeinsamkeiten entdecken. Sie liegen in der minimalistischen Konsequenz der Inszenierung, wobei THE WAYWARD CLOUD vor allem auf die Macht der Bilder setzt, "Sophie Scholl" auf die Macht der Argumente. Die beiden Hauptpreise dieser Sonntagabend beendeten 55.Berlinale gingen mit dem Goldenen Bär für den südafrikanischen Film U-CARMEN eKHAYELITSHA und PEACOCK aus China an zwei unterhaltsamere, leichter verständliche Filme. Während man dies der gut gelungenen Familiengeschichte aus dem China der 70er-Jahre gerne gönnt, überraschte der Preis für die in die Townships verpflanzte Carmen-Oper nahezu jeden Beobachter. Fast einhellig war der Film bei seiner Premiere durchgefallen, allenfalls wohlwollend unter "ferner liefen" verbucht worden.

Bei aller Sympathie für ein Land, dass elf Jahre nach Ende des Apartheids-Regimes immer noch ganz andere Probleme hat, als den Aufbau einer Filmindustrie, muss man konstatieren: Mark Donford-Mays Film ist keinesfalls preiswürdig. Die hölzerne Inszenierung, in der Menschen zur Off-Musik dröge in der Gegend herumstehen und ihre Lippen nicht einmal immer synchron bewegen, strotzt vor folkloristischen Klischees. So beschleicht einen der Verdacht, hier würde gönnerhaft ein Land ausgezeichnet, "das es nötig hat", und mit dem Talent Campus in Kapstadt, wo auch der Film spielt, überdies noch mit der Berlinale filmpolitisch und ökonomisch eng verbunden ist. Die Filme, die neben THE WAYWARD CLOUD am meisten diskutiert wurden, die stärksten ästhetischen Herausforderungen darstellten, ließ die Jury mit Christian Petzolds GESPENSTER oder Alexander Sukurows DIE SONNE einmal mehr links liegen. Ein Signal für das Weltkino geht von dieser Preisvergabe jedenfalls nicht aus.

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Türkisgrün, sattes Blaugrau, leuchendes Rot - begeisternd prächtig ist die Farbpalette in PEACOCK dem Regiedebüt von Gu Changwei, der in den vergangenen 20 Jahren als Kameramann von Zhang Yimou und Chen Kaige berühmt wurde. Als vorletzter Film des Wettbewerbs rollte Gu das Feld von hinten auf und gewann mit dem "Spezialpreis der Jury" den zweitwichtigsten Preis der Berlinale. PEACOCK, eine epische Familiengeschichte aus dem China der 70er-Jahre, sieht mit ihrem melancholisch-neorealistischen Touch beinahe aus, wie ein Film aus der legendären "5.Generation" des chinesischen Kinos, die Ende der 80er, Anfang der 90er mit Filmen wie ROTES KORNFELD und LEBEWOHL MEINE KONKUBINE auf der Berlinale Triumphe feierte - subtil erinnerte der Preis damit auch an die großen Zeiten eines Festivals, das mit seiner 55. Ausgabe endgültig in der Krise angekommen ist.

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Ein merkwürdige Spannungslosigkeit und Gleichgültigkeit - für ein Filmfestival noch viel schlimmer als wütende Empörung - beherrschte von Anfang an das diesjährige Festival. schon die "Papierform" des Wettbewerbs weckte wenig Erwartungen, locker wurden sie durch die Filme unterboten. Man muss Berlinale-Chef Dieter Kosslick zugute halten, dass er sich mit den spannenden Filmen von Tsai Ming-liang, Sukurov, Téchiné und Petzold fürs Autorenkino stark macht. Allerdings sind unter seiner Leitung fast ausschließlich die üblichen Verdächtigen in Berlin zu sehen - echte Entdeckungen und starke Erstlingswerke findet man eher in Cannes. Positiv ist auch zu bemerken, dass Kosslick Filmemachen mit politischem Anspruch fördern will. Wenn das aber zur Aufführung von plattem Gutmenschenkino und Edelkitsch wie z.B. HOTEL RUANDA oder Hannes Stöhrs ONE DAY IN EUROPE führt, erweist man dem politischen Kino einen Bärendienst. Viel zu europalastig war die Auswahl. Während Lateinamerika gar nicht vertreten war, sah man nur drei Filme aus Asien (in Cannes zuletzt 8), der derzeit wichtigsten Region des Weltkinos - was die drei Silberne Bären und viele weitere Preise in den Nebensektionen eindringlich unterstreichen. Verbindungen von Unterhaltung und Kunst, sowie künstlerisch wirklich innovative Filme, egal aus welcher Region waren dagegen Mangelware in einem Wettbewerb, der die Vielfalt des Weltkinos nicht auslotete.

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Wirklich überraschen konnten allenfalls ein paar Filme in den Sektionen "Panorama" (einmal mehr der besten Reihe) und "Forum", wo man noch ein paar Entdeckungen machen konnte, etwa DUMPLINGS, der neue Film von Hongkong-Regisseur Fruit Chan. Alptraum und Verführung treffen sich in phantastisch-bezaubernden Bildern, in denen von schönheitsbringenden Teigtaschen erzählt wird. Horrorthriller und klug-ironisches Spiel mit den Mythen von ewiger Jugend und Potenz, die in Asien nicht weniger blühen, als bei uns. Gelungen war auch WILLENBROCK, Andreas Dresens Christoph-Hein-Variation, die zumindest in diesen Wettbewerb gut gepasst hätte. Schließlich Rosa von Praunheims faszinierende Panorama-Dokumentation MÄNNER HELDEN UND SCHWULE NAZIS. Dort geht er der geheimnisvollen Wechselbeziehung und Hassliebe zwischen Homosexualität und Rechtsextremismus nach. Überdurchschnittlich viele Neonazis sind oder waren bekennende Schwule. Der Film ist ein wichtiger Kontrapunkt zu jener neuen Neigung im deutschen Kino, den Nationalsozialismus zur Kulisse reinen Unterhaltungskinos zu machen - und nur ein weiteres Beispiel der Vielfalt des Berlinale-Panorama. Im Forum gefiel KIKEXILI, Lu Chuans in Tibet spielender Film über eine Bergpatrouille, die Wilddiebe jagt - ein epische Story, in lakonischen Western-Bildern erzählt.

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Trotz solcher vereinzelter Highlights wird die 55. Berlinale wie die des Vorjahres insgesamt als künstlerisch erschreckend schwach in Erinnerung bleiben. Vor vier Jahren trat Dieter Kosslick seinen neuen Posten als eine Art Heilsbringer an. Berlin war seines Vorgängers Moritz de Hadeln überdrüssig geworden, und auch die notorisch kritische Hauptstadtpresse schien dem charmanten Kosslick zunächst geradezu aus der Hand zu fressen. Jetzt sind die Probleme unübersehbar geworden. Die Verknappung der Filme geht mit der Steigerung überflüssiger Rand-"Events" einher. Die Filme, die gezeigt werden, werden offenbar vor allem wegen der Stars geholt - wie die peinliche Ausladung von HEIGHTS nach der Absage von Glenn Close illustriert, die für das Festival massive Folgen haben dürfte. Für all das ist auch ein Festivalchef verantwortlich, der die Medienklaviatur zwar virtuos bedient, aber offenbar jede cineastische Vision der Verkäuflichkeit opfert. Genau dass ist der Unterschied zu Cannes, das mit kompromisslos hohen Kunst-Maßstäben auch zum wichtigsten Film-Markt geworden ist. Der Abstand hierzu ist größer denn je. Und die Berlinale wird sich eine Strategie überlegen müssen, um ihren knappen zweiten Platz unter den Weltfestivals zu halten. Geht man von den letzten zwei Jahren aus, droht der Bedeutungsverlust.

Rüdiger Suchsland

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