Vielfalt und Einfalt des Weltkinos
Der Berlinale droht der Bedeutungsverlust - Notizen am letzten Tag eines enttäuschenden Festivals
Kunst oder Moral? Das war offenbar die Frage, über die sich die Jury entzweite. Jeweils zwei
Silberne Bären gab es am Samstag für SOPHIE SCHOLL und THE WAYWARD CLOUD. Wer beide Filme gesehen
hat kann zwischen dem eindringlichen, filmkünstlerisch aber begrenzten Ideendrama mit Mut zu
ungebrochenem Idealismus und schillerischem Pathos und der hyptnotischen, tragikomischen Reflexion
über Einsamkeit und die Chancen der Liebe in der Moderne nur ferne Gemeinsamkeiten entdecken. Sie
liegen in der minimalistischen Konsequenz der Inszenierung, wobei THE WAYWARD CLOUD vor allem auf
die Macht der Bilder setzt, "Sophie Scholl" auf die Macht der Argumente.
Die beiden Hauptpreise dieser Sonntagabend beendeten 55.Berlinale gingen mit dem Goldenen Bär
für den südafrikanischen Film U-CARMEN eKHAYELITSHA und PEACOCK aus China an zwei unterhaltsamere,
leichter verständliche Filme. Während man dies der gut gelungenen Familiengeschichte aus dem China
der 70er-Jahre gerne gönnt, überraschte der Preis für die in die Townships verpflanzte Carmen-Oper
nahezu jeden Beobachter. Fast einhellig war der Film bei seiner Premiere durchgefallen, allenfalls
wohlwollend unter "ferner liefen" verbucht worden.
Bei aller Sympathie für ein Land, dass elf Jahre nach Ende des Apartheids-Regimes immer noch ganz
andere Probleme hat, als den Aufbau einer Filmindustrie, muss man konstatieren: Mark Donford-Mays
Film ist keinesfalls preiswürdig. Die hölzerne Inszenierung, in der Menschen zur Off-Musik dröge
in der Gegend herumstehen und ihre Lippen nicht einmal immer synchron bewegen, strotzt vor
folkloristischen Klischees. So beschleicht einen der Verdacht, hier würde gönnerhaft ein Land
ausgezeichnet, "das es nötig hat", und mit dem Talent Campus in Kapstadt, wo auch der Film spielt,
überdies noch mit der Berlinale filmpolitisch und ökonomisch eng verbunden ist. Die Filme, die neben
THE WAYWARD CLOUD am meisten diskutiert wurden, die stärksten ästhetischen Herausforderungen
darstellten, ließ die Jury mit Christian Petzolds GESPENSTER oder Alexander Sukurows DIE SONNE
einmal mehr links liegen. Ein Signal für das Weltkino geht von dieser Preisvergabe jedenfalls
nicht aus.
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Türkisgrün, sattes Blaugrau, leuchendes Rot - begeisternd prächtig ist die Farbpalette in PEACOCK
dem Regiedebüt von Gu Changwei, der in den vergangenen 20 Jahren als Kameramann von Zhang Yimou und
Chen Kaige berühmt wurde. Als vorletzter Film des Wettbewerbs rollte Gu das Feld von hinten auf und
gewann mit dem "Spezialpreis der Jury" den zweitwichtigsten Preis der Berlinale. PEACOCK, eine
epische Familiengeschichte aus dem China der 70er-Jahre, sieht mit ihrem
melancholisch-neorealistischen Touch beinahe aus, wie ein Film aus der legendären "5.Generation"
des chinesischen Kinos, die Ende der 80er, Anfang der 90er mit Filmen wie ROTES KORNFELD und
LEBEWOHL MEINE KONKUBINE auf der Berlinale Triumphe feierte - subtil erinnerte der Preis damit
auch an die großen Zeiten eines Festivals, das mit seiner 55. Ausgabe endgültig in der Krise
angekommen ist.
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Ein merkwürdige Spannungslosigkeit und Gleichgültigkeit - für ein Filmfestival noch viel
schlimmer als wütende Empörung - beherrschte von Anfang an das diesjährige Festival. schon
die "Papierform" des Wettbewerbs weckte wenig Erwartungen, locker wurden sie durch die Filme
unterboten. Man muss Berlinale-Chef Dieter Kosslick zugute halten, dass er sich mit den
spannenden Filmen von Tsai Ming-liang, Sukurov, Téchiné und Petzold fürs Autorenkino stark
macht. Allerdings sind unter seiner Leitung fast ausschließlich die üblichen Verdächtigen
in Berlin zu sehen - echte Entdeckungen und starke Erstlingswerke findet man eher in Cannes.
Positiv ist auch zu bemerken, dass Kosslick Filmemachen mit politischem Anspruch fördern will.
Wenn das aber zur Aufführung von plattem Gutmenschenkino und Edelkitsch wie z.B. HOTEL RUANDA
oder Hannes Stöhrs ONE DAY IN EUROPE führt, erweist man dem politischen Kino einen Bärendienst.
Viel zu europalastig war die Auswahl. Während Lateinamerika gar nicht vertreten war, sah man nur
drei Filme aus Asien (in Cannes zuletzt 8), der derzeit wichtigsten Region des Weltkinos - was
die drei Silberne Bären und viele weitere Preise in den Nebensektionen eindringlich unterstreichen.
Verbindungen von Unterhaltung und Kunst, sowie künstlerisch wirklich innovative Filme, egal aus
welcher Region waren dagegen Mangelware in einem Wettbewerb, der die Vielfalt des Weltkinos nicht
auslotete.
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Wirklich überraschen konnten allenfalls ein paar Filme in den Sektionen "Panorama" (einmal
mehr der besten Reihe) und "Forum", wo man noch ein paar Entdeckungen machen konnte, etwa
DUMPLINGS, der neue Film von Hongkong-Regisseur Fruit Chan. Alptraum und Verführung treffen
sich in phantastisch-bezaubernden Bildern, in denen von schönheitsbringenden Teigtaschen erzählt
wird. Horrorthriller und klug-ironisches Spiel mit den Mythen von ewiger Jugend und Potenz, die
in Asien nicht weniger blühen, als bei uns. Gelungen war auch WILLENBROCK, Andreas Dresens
Christoph-Hein-Variation, die zumindest in diesen Wettbewerb gut gepasst hätte. Schließlich
Rosa von Praunheims faszinierende Panorama-Dokumentation MÄNNER HELDEN UND SCHWULE NAZIS. Dort
geht er der geheimnisvollen Wechselbeziehung und Hassliebe zwischen Homosexualität und
Rechtsextremismus nach. Überdurchschnittlich viele Neonazis sind oder waren bekennende Schwule.
Der Film ist ein wichtiger Kontrapunkt zu jener neuen Neigung im deutschen Kino, den
Nationalsozialismus zur Kulisse reinen Unterhaltungskinos zu machen - und nur ein weiteres
Beispiel der Vielfalt des Berlinale-Panorama. Im Forum gefiel KIKEXILI, Lu Chuans in Tibet
spielender Film über eine Bergpatrouille, die Wilddiebe jagt - ein epische Story, in lakonischen
Western-Bildern erzählt.
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Trotz solcher vereinzelter Highlights wird die 55. Berlinale wie die des Vorjahres insgesamt
als künstlerisch erschreckend schwach in Erinnerung bleiben. Vor vier Jahren trat Dieter Kosslick
seinen neuen Posten als eine Art Heilsbringer an. Berlin war seines Vorgängers Moritz de Hadeln
überdrüssig geworden, und auch die notorisch kritische Hauptstadtpresse schien dem charmanten
Kosslick zunächst geradezu aus der Hand zu fressen. Jetzt sind die Probleme unübersehbar geworden.
Die Verknappung der Filme geht mit der Steigerung überflüssiger Rand-"Events" einher. Die Filme,
die gezeigt werden, werden offenbar vor allem wegen der Stars geholt - wie die peinliche Ausladung
von HEIGHTS nach der Absage von Glenn Close illustriert, die für das Festival massive Folgen haben
dürfte. Für all das ist auch ein Festivalchef verantwortlich, der die Medienklaviatur zwar virtuos
bedient, aber offenbar jede cineastische Vision der Verkäuflichkeit opfert. Genau dass ist der
Unterschied zu Cannes, das mit kompromisslos hohen Kunst-Maßstäben auch zum wichtigsten Film-Markt
geworden ist. Der Abstand hierzu ist größer denn je. Und die Berlinale wird sich eine Strategie
überlegen müssen, um ihren knappen zweiten Platz unter den Weltfestivals zu halten. Geht man von
den letzten zwei Jahren aus, droht der Bedeutungsverlust.
Rüdiger Suchsland
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