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Im Urwald ist (k)ein Zimmer frei: Heute eröffnet die vierte
Berlinale unter Dieter Kosslick
Sanft streicht die Kamera durch den Wald, lugt zwischen Baumstämmen
hindurch, doch das Grün scheint undurchdringlich. Irgendeine
Landschaft Europa vermutet man kurz, da setzen schon im Hintergrund
wilde Schreie ein, die offenkundig von Affen stammen, und
es wird deutlich, dass man sich irgendwo im Dschungel von
Afrika befindet. Im Jahr 1870 durchstreifen weiße Menschenjäger
den Urwald, und es dauert nur ein paar Filmsekunden, da haben
sie die Beute gefunden, nach der sie solange gesucht haben:
Zwei Pygmäen. Wie Tiere werden die zwergenhaften Ureinwohner
des schwarzen Kontinents - "ein Männchen und ein
Weibchen" notiert der Expeditionsleiter und Wissenschaftler
Jamie Dodd - eingefangen, und in den hohen schottischen Norden
verschleppt.
Dort wollen er und seine zwei Freunde, alle anerkannte Wissenschaftler
der Royal Scottish Academy, die beiden vermessen und erforschen,
mit ihnen allerlei Experimente machen, um sie dann einer staunenden
Welt vorzustellen: "Du bist mein Amerika, und ich Dein
Kolumbus" sagt Dodd zu seinem Gefangenen. Als Menschen
sieht er ihn zunächst nicht. Denn Pygmäen sind damals
noch völlig unbekannt, und die Briten glauben in ihnen
den "missing link", das fehlende Verbindungsglied
in der Entwicklungskette zwischen Affe und Mensch gefunden
zu haben, nach der man im Zeitalter von Darwins revolutionärer
Evolutionstheorie verzweifelt sucht.
MAN TO MAN, mit dem heute Abend die 55. Filmfestspiele von
Berlin offiziell eröffnet werden, ist kein großes
Kino. Manchmal wirkt alles, wie ein Fernsehdrama, manchmal
überpädagogisiert, manchmal umgekehrt so, als ob
die Macher ihrem Thema nicht vertrauen, und es darum übermäßig
mit Dramatik anfüllen. Vielleicht kann man auch dem Spontankommentar
eines Kollegen zustimmen, der fragte, warum er zwei Stunden
im Kino sitzen müsse, um etwas zu erfahren, was er schon
weiß?
Zugleich aber behandelt der Film ein überaus spannendes
Thema: Das Doppelgesicht der Wissenschaft zwischen neugierigem
Forschungsdrang und der Neigung, an einmal vorgefassten Ansichten
festzuhalten, auch dann, wenn ihnen die Tatsachen immer offenkundiger
widersprechen. Der Film des Franzosen Regis Wargnier, der
vor 12 Jahren mit INDOCHINE bekannt wurde, ist packendes Unterhaltungskino
fürs breite, aber nicht ungebildete Publikum. Gekonnt
dramatisiert der Film sein Sujet, mitunter vielleicht etwas
vorhersehbar, überdeutlich und mit zuviel Gefühlskitsch,
doch gelingen Wargnier auch immer wieder eindringliche Momente
und einige interessante Beobachtungen über die heroische
Epoche der modernen Wissenschaft, in der diese noch mit Lebensgefahr
betrieben wurde und doch zugleich von allen Schwächen
des Viktorianischen Zeitalters durchtränkt war. So zeigt
er Männer in der seinerzeit so beliebten "Nervenkrise"
- mindestens eine Modekrankheit. Dass Wargnier nicht vorschnell
eine "ausgewogene" Position bezieht, sondern seine
Geschichte aus Sicht der Weißen, also seines Publikums
erzählt, macht MAN TO MAN zusätzlich interessant
- eine zumindest angemessene Wahl zur Eröffnung eines
der drei wichtigsten Filmfestivals der Welt. Zudem macht der
edle Wilde am Schluß auch nicht alles richtig, und ist
doch nicht ganz so grundgut, sondern übt alttestamentarische
Rache. Erst die letzte Szene bringt die Welt wieder ganz in
Ordnung, zieht die Grenzen dicht und wir alle verstehen, "dass
unsere gemeinsame Reise nun beendet ist." Schuster bleib'
bei Deinen Leisten. Trotzdem: Kein Vergleich zur vorjährigen
Peinlichkeit mit COLD MOUNTAIN.
Zudem wird damit der sogenannte "Afrika-Schwerpunkt"
eingeläutet, der hier zwar niemanden wirklich interessiert,
und auch mit Filmkunst herzlich wenig zu tun hat, sondern
allenfalls mit den persönlichen Interessen und der political
correctness des Festivalleiters. Aber auch damit ist es so
weit offenbar nicht her, denn schaut man genauer hin, stammen
die meisten Afrika-Filme gar nicht aus Afrika. Zudem findet
man in der Jury dann, fünf von sieben Mitgliedern aus
Europa, oder sogar sechs, wenn man die Ukraine dazurechnen
will, nur eine aus Asien, keiner aus Lateinamerika, USA, oder
Afrika - auch ohne den sogenannten Schwerpunkt ein Skandal
für ein solches Festival, das dieser Festivalchef ohne
Not provinzialisiert - jedenfalls in dieser Hinsicht.
Eine treffende Wahl ist MAN TO MAN auch deshalb, weil der
Film im Prinzip genau von dem erzählt, was ein Filmfestival
eigentlich tut. Es praktiziert verschiedenste Arten der Kulturbegegnung,
es jagt und sammelt, schwindelt und übertreibt, lechzt
nach kostbaren Trophäen und Weltsensationen, die es dann
in einer Art Zirkus ausstellt, und manchmal verbrämen
die schönsten Festreden nur, dass es eigentlich vor allem
um Macht und ums Geschäft geht. Davon, das ist keine
Frage, versteht Zirkusdirektor Dieter Kosslick, der die Berlinale
nun im vierten Jahr leitet, und als einer der glänzendsten
Verkäufer der Branche gilt, eine ganze Menge.
Künstlerisch gesehen ist die Euphorie nach dem Reinfall
vom Vorjahr - dem schwächsten Wettbewerb seit über
zehn Jahren - zwar auch diesmal eher gedämpft. Vor allem
sehr europa-lastig wirkt das Programm, während die aufregendsten
Filmregionen Asien und vor allem Lateinamerika, eher schwach
vertreten sind, die USA als immer noch wichtigste Filmregion
noch schwächer. Auch wurde das Programm weiter geschrumpft,
inzwischen gibt es schon 20 Prozent weniger Filme als unter
Kosslicks Vorgänger Moritz de Hadeln. Dafür nehmen
die "Events" inflationär zu - und mittlerweile
schon vier Seiten im Programmheft ein. Von Starauftritten
und Partys einmal abgesehen gibt es Kunst, Videokunst, Performances,
Fußball und André Heller sowie unzählige
Quasselrunden mit allen verfügbaren Kulturinstitutionen
des Bundes sowie Dutzenden weiteren Kooperationspartnern und
Sponsoren. Da ähnelt die Berlinale eher einem Jahrmarkt,
als einem Filmfestival - wenn immerhin die Filme gut sind,
aber nur dann, muss das nicht allzu sehr stören.
Jedes Festival habe seine Erzählung sagt Christian Petzold
in unserem Interview, das an einem der nächsten Tage
zu lesen sein wird. "Eine Preisvergabe versucht, einem
Festival immer rückwirkend eine Erzählung zu geben.
Die Kritiker haben eine andere Erzählung. Die Jury ist
ja nicht blind, sondern sie sieht etwas. Im besten Fall ist
das dann so, wie mit Cronenberg als Jurypräsident in
Cannes, der dann ROSETTA den Preis gibt. Und im schlimmsten
Fall sieht man, dass da eine Handvoll Leute kein Interesse
hat, und sieben Länder und drei Minderheiten bedient
werden mussten. Ich hoffe, dass bei dieser Berlinale die Erzählung
gut ist - wie in den letzten beiden Berlinale-Jahren mit den
Siegen von Michael Winterbottom und Fatih Akin." Wir
hoffen das natürlich auch.
Dieter Kosslick hat allerdings natürlich auch seine Erzählung.
Die handelt dann eher von der neuen Wirtschaftsmacht des deutschen
Films, und von Events. Dazu gehört auch, dass Roland
Emmerich, bei allem Respekt nicht gerade berühmt für
künstlerische Glanzleistungen, sondern eher für
aufwendiges Massenkino, nun Jurypräsident wird.
Das Festivalplakat zumindest hat unter Kosslick seine feste
neue Form gefunden: ein nachtschwarzer Kreis, darin ein klitzekleiner
Bär. Grund zum schwarzsehen also? Um den Goldenen Bären
und andere Preise geht es also nicht, könnte man auch
interpretieren. Oder Berlin als Zentrum der Welt? Oder eine
Zielscheibe? Oder ein runder Tisch, ohne Ecken und Kanten?
Entscheiden Sie selbst, die nächsten zehn Tage lang.
Rüdiger Suchsland
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