|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
Der artechock-Jahresrückblick
Eine kaleidoskopische Zeitreise
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
MOMENTE, DIE BLEIBEN
Boy meets girl. Schon lange war dies nicht mehr so
schön zu sehen wie in L'ESQUIVE, dem Banlieue-Spektakel
von Abdellatif Kechiche. Lydia (Sarah Forestier) ist besessen
vom Theater. Krimo (Sman Elkharraz) will nur Lydia. Um an
sie heranzukommen, tauscht er heiße Ware gegen ein Harlekin-Kostüm.
Wenn Lydia spricht, dann sieht Krimo zu. Für seinen Blick
geht die Kamera ins Close-Up, nimmt die Lippen von Lydia in
den Fokus, streift über ihre Haut. Und zeigt dem Theater
die wahre Meisterschaft des Kinos: Anhalten, Verdichten, Stille,
emotions.
Girl meets girl. Ein Mädchen liegt in einer Sommerwiese.
Das allein ist schon schön genug. Dann kommt noch ein
zweites Mädchen dazu, die ihr zeigt, was der Sommer sonst
noch so schönes zu bieten hat. MY SOMMER OF LOVE von
Pawel Pawlikowski ist die Geschichte von zwei Mädchen
(Natalie Press und Emily Blunt), die sich nichts mehr gefallen
lassen. Ein Film, in dem die Bilder unter Sonne, Jugend und
Erotik zu flirren beginnen. Wild und gefährlich.
Gelbe Telefonzellen. Telefonzellen sind seit Hitchcock
das Filmsujet überhaupt. Rainer Knepperges und Christian
Mrasek schaffen in DIE QUEREINSTEIGERINNEN, sie zu heimlichen
Helden zu machen. Ein Telekom-Manager wird entführt,
soll erklären, wessen Lieblingsfarbe eigentlich Magenta
war und sich für die Wiedereinsetzung der gelben Zellen
einsetzen. Wird von seinen Entführern in Diskussionen
über die Utopie von Urugay verwickelt, darf mit ihnen
tanzen und sich betrinken, sich am Ende sogar verlieben. Dies
alles gedreht von den Machern des Kölner Filmclubs 813
mit Gespür für Zwischentöne, Meisterschaft
in Dialogen und Freude an der Anarchie. Der lustvollste deutsche
Film des Jahres, an den man immer wieder denken kann. Jedesmal,
wenn man eine gelbe Telefonzelle entdeckt.
ENTTÄUSCHUNGEN, DIE VERGEHEN
"Lass deine Tochter nie mehr allein!" lautete
jüngst die Schlagzeile einer Münchener Boulevardzeitung,
die bei der entführten und wieder freigekommen Susanne
Osthoff wohl schlechtes Gewissen erzeugen sollte. Dazu, schlechtes
Gewissen bei Müttern hervorzurufen, die ihre Kinder allein
lassen, um eigene Wege zu beschreiten, nimmt sich NOBODY KNOWS
von Hirokazu Kore-eda immerhin volle Filmlänge Zeit.
Am Anfang ist es ja noch ganz entzückend, wie die Kinder
aus dem Koffer kriechen, in den sie die Rabenmutter gesteckt
hat, und sich vor der Nachbarschaft verstecken. Auch ist es
ganz toll, wie sie, als die Mutter sie verlässt, das
Leben allein meistern. Aber dass ausgerechnet das ganze Überlebenssystem
zusammenbricht, als die Kinder Freunde zu sich einladen, und
dann - natürlich - noch das süßeste, kleinste,
unschuldigste Mädchen sterben muss, und die Nachbarschaft
nichts, aber auch gar nichts mitkriegt, das war dann doch
zu viel gewollt.
"Das Leben ist ein Wunder!" sagt der Balkanbauer,
als das Küken aus dem Ei schlüpft. Kusturica hat
sich im gleichnamigen Film mal wieder der Brachialität
seiner Landsleute gewidmet, gesteigert in wundersame, poetische
Fantasie. Ethnokitsch, Balkanverniedlichung, dreiste Männer
und feiste Frauen tanzen gemeinsam den Milosevic, kriegen
und bekriegen sich, bis die Liebe dann doch die Gemüter
zart und empfänglich macht. Da tut einem nur der Esel
leid, der auf dem Gleis steht und nicht mehr weitergeht, wartet
bis ein Zug kommt und ihn überfährt, weil er Liebeskummer
hat. Den möchte man gerne mitnehmen, in einen anderen
Film.
Dunja Bialas
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
2 x 5: DIE BESTEN
FÜNF MOMENTE 2005 - UND DIE SCHLIMMSTEN
Kino - das sind Bilder; ziemlich viele sogar, 24 in der
Sekunde. 2x5 Eindrücke, die haften bleiben werden, seien
hier aufgelistet.
Dumplings - Die besten 5 Momente
1. Dumplings I.: Eine pro-Allende-Demonstration in Chile im
Film MACHUCA. Drei Kinder gucken zu. Irgendwann hüpfen
die Demonstranten im Rhythmus. Die Kinder hüpfen mit.
Das reine Glück.
2. Dumplings II.: Miriam Yeung fährt in DUMPLINGS nach
Hause, hält ihr Gesicht aus dem Fenster und lässt
die Haare im Fahrtwind wehen. Schönheit pur.
3. Dumplings III.: Walter Kreye singt Karaoke in KATZE IM
SACK. So sterben.
4. Dumplings IV.: Robert Downey Jr. in KISS KISS BANG BANG.
Nicht ein Moment, sondern der ganze Film.
5. Dumplings V.: ZWEI ODER DREI DINGE, DIE ICH VON IHM WEISS.
Eine Schwester, die nicht wahrhaben will, dass ihr Vater ein
Nazi und Mörder war, redet sich immer wieder gegenüber
ihrem Bruder raus. Irgendwann kann man, will man nicht mehr
hinhören, wenn diese Frau alle Untugenden des deutschen
Bürgertums - Arroganz - in sich vereinigt und so dessen
Tugenden - Wahrheitsliebe - verrät. Schön, weil
es so schlimm ist.
Broken Flowers - Die schlimmsten 5 Momente
1. Broken Flowers I.: Bill Murray hat den Status erreicht,
dass die Leute schon lachen, wenn er gar nichts macht. Als
Provinz-Don Juan in Jarmuschs BROKEN FLOWERS soll er lustig
sein, ist nur ätzend. Zudem ein Fall von Verschwendung
von Schauspielerinnen. Der überschätzteste Film
des Jahres.
2. Broken Flowers II.: Bill Murray in DIE TIEFSEETAUCHER soll
lustig sein, ist eine Knallchargennummer für Nerds, Erbsenzähler
und Plastik-U-Boot-Bastler. Der nervigste Film des Jahres.
3. Broken Flowers III.: SIDEWAYS: Kein Wein, sondern Asbach
Uralt. Der ärgerlichste Film des Jahres.
4. Broken Flowers IV.: SPANGLISH. Der schlechteste Film des
Jahres.
5. Broken Flowers V.: DIE WEISSE MASSAI. Der dümmste
Film des Jahres. Rüdiger Suchsland
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
LOB UND BESCHIMPFUNGEN
Auch 2005 war ein Jahr der Bebilderung. Man glaubt schon
nicht mehr an die Existenz von Personen oder Ereignissen,
wenn sie nicht in einem Kinofilm noch mal fiktional vor Augen
geführt werden. Der Gewinner war Gus Van Sant mit den
LAST DAYS von Kurt Cobain, in dem Amerika seine groß
gewordene innere Leere besummt.
Überhaupt Amerika. Lars von Trier wird nicht müde
draufzuschauen, sein MANDERLAY beweist aber, das wir mittlerweile
mit denen da drüben nichts mehr zu tun haben. Wir wollen
nicht mehr dasselbe wie die, wir sind politisch und sexuell
anders denkend. Wenn die Filme machen über ein Problem,
das sie umtreibt, wie L. A. CRASH einer über den Rassismus
war, dann wirkt das Thema darin seltsam unreif und oberflächlich
abgearbeitet. Kino, das intellektuell gar keinen Zugang mehr
findet in unsere Köpfe und uns so kalt zurücklässt
im Kinosessel.
Besser war's, wenn die Blicke von Fremden auf Amerika als
ein fremdes Land fielen, in dem die versuchen zu leben und
Filme zu drehen. Wim Wenders' DON'T COME KNOCKING und auch
Ang Lees BROKEBACK MOUNTAIN handeln von nichts anderem als
der Suche nach der Liebe, die in dieser Weite schwerer zu
finden ist als ein Klumpen Gold - und plötzlich ist Amerika
wieder die Kulisse, in der sich Träume verbergen. Auch
Walter Salles kam von außen und lieferte mit DARK WATER
einen der zwei schönsten Horrorfilme dieses Jahres ab.
Das Grauen braucht nichts Übernatürliches, sondern
steckt in der Großstadt als Gebilde. Wie auch im anderen
Horrorjuwel THE DESCENT von Neil Marshall ging es um das Kämpfen
und Scheitern großer Frauen, was bemerkenswert ist,
denn entweder sind die Männer inzwischen zu schwach und
korrumpiert für die Herausforderungen des Bösen
oder man hat immer noch mehr Mitleid mit den weiblichen Helden.
Dafür hat ein anderer Film, den man gar nicht genug
schimpfen konnte heuer, DER KÖNIG VON NARNIA, mit Tilda
Swinton die tollste Bösefrau überhaupt. Wie gern
hätte man den debilen Löwen mit seinen bescheuerten
Kindsoldaten ihr unterliegen sehen.
In Deutschland gab es mit NETTO, dem Spielfilmdebüt
von Robert Thalheim, und WILLENBROCK von Andreas Dresen zwei
glänzend traurige Ostfilme. Und wenn das der wahre Grund
der Wiedervereinigung war, solche Filme möglich zu machen,
dann hätte sie sich schon gelohnt.
Willibald Spatz
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
ENTTÄUSCHUNGEN...
Wenn in einer Filmbeschreibung Begriffe wie abgründiger
Humor, Zugfahrt, Nachkriegsdeutschland und Schwarzweißfilm
vorkommen, dann weckt das in mir sofort die positivsten Assoziationen.
Der so umschriebene VERSCHWÖRUNG IM BERLIN EXPRESS war
aber leider nur ein belangloses Kasperltheater und somit eine
herbe Enttäuschung. Zum Glück wurde dieses Jahr
auch Lars von Triers EUROPA erneut aufgeführt und schon
war die Welt wieder in Ordnung.
Von vielen Kritikern geliebt und mit Preisen dekoriert, war
DARWINS ALPTRAUM für mich weniger eine Enttäuschung
als ein Ärgernis. Der Dokumentarfilm über die Verbindung
von Fischfang, Waffenhandel und Armut am Victoriasee erschien
mir wie eine außer Kontrolle geratene Kampagne von Greenpeace.
Mag sein, dass sozial gesehen manchmal der Zweck die Mittel
heiligt (um eben auf einen Missstand aufmerksam zu machen)
aber künstlerisch / filmisch ist so ein Vorgehen mehr
als bedenklich. Obwohl mindestens genau so populistisch und
parteiisch wie Michael Moore, gibt sich DARWINS ALPTRAUM doch
als sachlicher und unbeteiligter Beobachter aus und gerät
dadurch zu sehr in die Nähe von schlichter Propaganda.
Trotz gebremster Erwartungshaltung (da Fortsetzungen immer
ein schwieriges Terrain sind) hat es BE COOL geschafft, mich
zu enttäuschen. GET SHORTY war ein durch und durch intelligenter
und gut gemachter Komödienspaß. BE COOL dagegen
ist eine flache Aneinanderreihung von Klischees, Versatzstücken
und Skurrilitäten. Da helfen auch unzählige Stars
in großen und kleinen Rollen nichts.
Die schmerzhafteste Enttäuschung im letzten Jahr bot
SIN CITY, da er das Potential für ein wahres Meisterwerk
gehabt hätte und es dann nicht einlösen konnte (der
Kollege Willmann hat an dieser Stelle ausführlich und
sehr treffend geschildert woran es scheitert).
Irgendwie lässt mich dabei der Gedanke nicht los, dass
einem asiatischen Regisseur unter den gleichen Bedingungen
dieses Kunststück bzw. -werk gelungen wäre. Spontan
denke ich da etwa an Chan-wook Park (OLDBOY) oder gar Takashi
Miike (AUDITION).
...UND MAGIE
Schon erstaunlich, welch unglaublicher Aufwand beim Film
oft betrieben wird, um eine packende Szene zu inszenieren.
Dabei können schon wenige Blicke die Leinwand zum Leuchten
bringen.
So etwa in HAUS AUS SAND UND NEBEL, worin sich Jennifer Connelly
und Ben Kingsley um ein Haus streiten. Wenn sich beide gegenüber
stehen und sich anschauen, wird einem ohne große Worte
ihre jeweilige Notlage und die Tragik der Gesamtsituation
bewusst. Als ein amerikanischer Polizist in den Streit eingreift,
um für "Recht und Ordnung" zu sorgen, endet
alles (wie könnte es anders sein) in einer blutigen Katastrophe.
Äußerst komplex und wechselhaft sind die Machtverhältnisse
in MANDERLAY und so kommt es dann, dass der von Danny Glover
gespielte Sklave Wilhelm erst zum Ende hin seinen stoisch
servilen Gesichtsausdruck ablegt und mit einer ganz besonderen
Mischung aus Zynismus, Intelligenz und Autorität der
glücklosen Freiheitskämpferin Grace ins Gesicht
schaut, um sie von ihrer Funktion als neuer Herrin über
Manderlay in Kenntnis zu setzen. Der Blick von Grace (Bryce
Dallas Howard) lässt wenig Zweifel darüber, wie
entsetzt sie über diese Entscheidung und deren Bedeutung
ist.
Einmal mehr auf der Höhe seines Könnens erlebte
man Michael Caine in THE STATEMENT als alter Kriegsverbrecher
auf der Flucht. Mühelos wechselt er zwischen bigottem
Frömmler, jammernden Feigling und gewissenlosen Mörder.
Besonders großartig die Szene, in der er auf seine von
Charlotte Rampling gespielte Ex-Frau trifft und diese mit
wenigen Worten und brutalen Blicken einschüchtert. Ramplings
wissender und verstehender Blick macht dem Zuschauer klar,
wie ernsthaft und gefährlich diese Drohung ist.
Um die schöne neue Welt der Reproduktionsmedizin am
Beispiel von Los Angeles geht es in dem visuell beeindruckenden
Dokumentarfilm FROZEN ANGELS. Kinder kriegen ist da ein Geschäft
wie fast jedes andere, entsprechend professionell geben sich
Leihmütter, Ei-Spenderinnen, Samenbankbetreiber und Schwangerschaftsvermittler.
Geschickt lässt einen der Film hinter diese vermeintlich
(emotionell, ethisch, technisch) problemlose Praxis blicken,
so z.B. nach einer Entbindung, die Leihmutter im Bett, unsicher
daneben ihr Mann, das Kind separat, dazwischen die zukünftigen
Eltern. Freundliche Worte werden gewechselt, doch aus den
Blicken spricht etwas ganz anderes, etwa Unsicherheit, Angst,
Scham und Misstrauen.
Dass Blicke manchmal wirklich mehr sagen als Worte, beweisen
ausgerechnet zwei stumme Plastilinhunde. In WALLACE &
GROMIT - THE CURSE OF THE WERE-RABBIT liefert sich der stets
ruhig intelligente Gromit einen regelrechten "Dogfight"
mit Philip, dem bösartigen Hund von Wallace' großem
Widersacher Victor Quatermaine. Als dieser Kampf durch das
Fehlen einer Münze im benutzten Karussellflugzeug unterbrochen
wird, zückt Philip zur Fortsetzung seine mehr als peinliche
Geldtasche. Gromits Augen sprechen Bände, Philips ebenso,
der Rest ist Lachen.
Michael Haberlander
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|