Die so genannte Kinokrise war eines der großen Themen
des Kinojahres 2005 und so werden nun auch zahlreiche Rückblicke
davon bestimmt. Sicher ist es interessant, darüber zu
diskutieren, was die Ursache für den zum Teil dramatischen
Besucherrückgang war. Lag es am Boom des Heimkinos? An
der allgemeinen wirtschaftlichen Flaute? Am Fehlen der Blockbuster?
Blieben diese wiederum aus, weil Hollywood "am Publikum
vorbei produzierte" (mein Euphemismus des Jahres)?
So oder so muss man feststellen, dass es bei diesen Fragen
um schlichte Umsatzzahlen eines Wirtschaftszweiges geht, die
jedoch wenig über den Zustand der Kunstform Film aussagen.
Um den Filmkunst-Jahrgang 2005 zu beurteilen, sollte man
sich zwei Dinge vor Augen halten.
Erstens: Die Zahl der Kinostarts ist ungebrochen hoch bzw.
sogar leicht steigend. Auch wenn nicht jeder der anlaufenden
Filme überall und sofort zu sehen ist und viel Gutes
gar nicht in unsere Kinos kommt (was ebenfalls wirtschaftliche
/ strukturelle und keine künstlerischen Probleme sind),
beweist es doch, dass allem Gejammere zum Trotz sehr viele
Filme produziert werden, was das gerne gezeichnete Schreckensszenario
vom schlechten Umsatz an der Kinokasse = kein Geld für
neue Filme = Untergang des Kinos, durchaus in Frage stellt.
Zweitens: Eine große Zahl von produzierten Filmen muss
natürlich noch lange nicht bedeuten, dass auch viele
gute darunter waren.
Es gibt darum schlussendlich nur eine Möglichkeit, um
sich vom Zustand der Filmkunst ein Bild zu machen und die
besteht darin, die letztjährigen Kinoerlebnisse noch
einmal an sich vorbeiziehen zu lassen, was ich hier gewohnt
subjektiv und mit der Beschränkung auf das Gute, Wahre
und Schöne tun möchte.
Kampfhandlungen
Trotz starken äußerlichen Unterschieden, wiesen
die Dramen dieses Jahres doch alle ein unverkennbares Element
des Kampfes auf.
Häuserkampf 1: HAUS AUS SAND UND NEBEL. Jennifer Connelly,
Ben Kingsley, ein Haus, das Meer, ein Konflikt. Ein Film wie
eine mächtige Welle, die sich schließlich mit großer
Wucht an einem Felsen bricht.
Häuserkampf 2: DER WILDE SCHLAG MEINES HERZENS. Tom
(Romain Duris) ist Miethai und Pianist. Für das eine
zu sensibel, für das andere zu brutal, bleibt nur die
Zerrissenheit.
Freiheitskampf: MANDERLAY. Die Freiheit ist nicht nur ein
kostbares Gut, sondern auch eine tückische Angelegenheit.
Zum Glück ist Lars von Trier ein Spezialist für
das Tückische.
Arbeitskampf: KONTROLL. Eigentlich ein Horrorfilm und doch
auch Komödie, existenzielles Drama und soziales Dokument.
Ein guter Horrorfilm ist eben immer mehr als nur Leute erschrecken.
Überlebenskampf: WILLENBROCK. Würden Sie diesem
Mann einen Gebrauchtwagen abkaufen? Axel Prahl als glückloser
Autohändler in einem gewohnt lakonischen Drama von Andreas
Dresen.
Existenzkampf: CODE 46. Immer mehr sucht das Kino seine Geschichten
in der Vergangenheit und die Zukunft scheint niemand mehr
zu interessieren. Michael Winterbottom setzt diesem Trend
einen vielschichtigen und visionären Film entgegen.
Todeskampf: DAS MEER IN MIR. Der viel zu frühe Tod von
Raul Julia 1994 hat eine schmerzliche Lücke in die Reihe
der guten Schauspieler gerissen. Javier Bardem beweist auch
in diesem Film, dass er dabei ist, diese Lücke adäquat
wieder zu schließen.
Widerstandskampf: PARADISE NOW. Haben wir Terror und Gewalt
im Nahen Osten nicht täglich in den Nachrichten? Das
schon, nur fehlt den Nachrichtenbildern die Geschichte hinter
der Gewalt. Dieser Film zeigt sie.
Endkampf: THE STATEMENT. Ein akzeptabler Thriller mit politischem
Einschlag aber wirklich beeindruckend ist Michael Caine als
alter Naziverbrecher und Tilda Swinton kann man auch nicht
oft genug im Kino sehen.
Klassenkampf: L'ESQUIVE. Manche Ereignisse verändern
und verstellen unsere Sicht auf gewisse Dinge für immer.
Wer den (keineswegs nur kaputten) Alltag in den französischen
Banlieues kennen lernen will, bevor die Gewalt und vor allem
eine Flut von Erklärungsversuchen über sie hereinbrachen,
dem sei dieser Film empfohlen.
Nahkampf: HAUTNAH. 2 Männer, 2 Frauen in wechselnder
Konstellation für-, mit- und gegeneinander. Sehr geistreich,
sehr elegant und vor allem sehr gut gespielt.
Machtkampf: MY SUMMER OF LOVE. Bei Teenagern sind die Gefühle
immer eine Nummer größer. Die Liebe total, der
Weltschmerz endgültig, die Enttäuschung ultimativ.
In der Wirklichkeit nervt das manchmal, im Film dagegen kann
sehr Schönes daraus entstehen.
Einzelkämpfer: MATCH POINT. Ein Film von kaum zu übertreffendem
Zynismus, der nur deshalb keinen Sturm der Entrüstung
auslöst, weil alle glauben, dass Woody Allen wieder Witze
macht. Tut er aber nicht.
Kampftrinken: FACTOTUM. Charles Bukowski war einer der wenigen
glaubhaften Säufer, dies ist einer der wenigen glaubhaften
Filme über Bukowski.
Liebe und Tod auf Um- und Abwegen
Beliebtes Missverständnis Nr. 1: Unterhaltung hat keinen
Anspruch.
Beliebtes Missverständnis Nr. 2: Bei echter Filmkunst
gibt es nichts zu lachen.
Die entsprechenden Gegenbeweise:
Auf die Suche nach Liebe und einer besseren Vergangenheit
bzw. Zukunft machten sich auf ganz großartige Art und
Weise BROKEN FLOWERS und GARDEN STATE sowie einen Tick weniger
brillant SIDEWAYS und WO DIE LIEBE HINFÄLLT.
In sehr ungewohnte Regionen bei der Suche nach der Liebe
begaben sich MATHILDE - EINE GROSSE LIEBE (Liebe im Krieg),
PER ANHALTER DURCH DIE GALAXIE (Liebe im All), DIE TIEFSEETAUCHER
(Liebe unter dem Meer) und Tim Burtons CORPSE BRIDE (Liebe
bei den Toten).
Noch mal Tim Burton, nun aber über die Liebe zu Süßigkeiten
in CHARLIE UND DIE SCHOKOLADENFABRIK. Die Liebe zu Gemüse
und vor allem zu Käse erlebte man wiederum in WALLACE
& GROMIT - THE CURSE OF THE WERE-RABBIT.
Die bedingungslose Liebe einer Frau und seine eigene Selbstverliebtheit
werden einem Mann in CRIME FERPECTO zum Verhängnis, die
Unfähigkeit zu echter Liebe bestimmt THE LIFE AND DEATH
OF PETER SELLERS, während die Liebe zum Showbusiness
in BEYOND THE SEA stärker ist als der Tod.
Eine Hassliebe verbindet ZWEI UNGLEICHE SCHWESTERN und eine
äußerst bizarre kulinarische Vorliebe, die aus
dem Wunsch nach ewiger Jugend entsteht, lernen wir in DUMPLINGS
kennen.
Und dann sind da noch die Filme, die in vielerlei Hinsicht
klar über dem Kinodurchschnitt liegen aber wegen enttäuschten
Erwartungen oder verschenkten Möglichkeiten vielleicht
härter abgeurteilt wurden, als sie es verdient haben.
Somit sehenswert aber nicht komplett gelungen fand ich:
KISS KISS, BANG BANG, weil er sein ironisches Potential durch
kindische Übertreibung selbst untergräbt. A HISTORY
OF VIOLENCE, weil Cronenbergs Mischung aus klassischem Gangsterfilm,
verstörendem Familienpsychogramm, Gesellschaftskritik
bzw. -satire und harter Rachegeschichte keine wirkliche Einheit
ergibt. MILLIONS, weil der Film zu brav und unverbindlich
bleibt. BATMAN BEGINS, weil sich Christopher Nolan aufmacht,
Batman seine Düsternis zurückzugeben und dann mit
einer alles erklärenden Geschwätzigkeit vieles wieder
einbüsst.
Und natürlich SIN CITY, über den auf diesen Seiten
ja bereits sehr ausführlich diskutiert wurde.
Das Gegenstück zu diesen Filmen sind die in erster Linie
unterhaltsamen SAHARA und HOCHZEITS-CRASHER, die mich bei
geringer Erwartungshaltung positiv überraschten und mir
deshalb im Gedächtnis geblieben sind.
Jetzt mit noch mehr Realität!
Einen nicht unerheblichen Anteil an der hohen Zahl der Kinostarts
2005 hatten Dokumentarfilme, die im Vergleich zu früheren
Jahren geradezu inflationär auftraten. Worauf diese erfreuliche
Entwicklung zurückzuführen ist, lässt sich
schwer sagen, hat aber sicher etwas mit dem zunehmenden Interesse
der Zuschauer an Dokus zu tun. Höhere Besucherzahlen
in Verbindung mit verhältnismäßig geringen
Produktionskosten machen die Dokus dann auch für Verleiher
und Produzenten attraktiv und viele Filmemacher haben begriffen,
dass der Einstieg ins große Filmgeschäft auch über
eine gelungene Dokumentation möglich ist, sich eine solche
aber im Gegensatz zu einem Spielfilm viel einfacher realisieren
lässt.
Neuer - aber auch leicht zu verschmerzender - negativer Nebeneffekt
dieses Booms ist der Umstand, dass zunehmend auch belanglose
oder gar schlechte Dokus in die Kinos gelangen. Während
früher nur ausgewählte und oft preisgekrönte
Filme ausgewertet wurden, werfen die Verleiher heute offensichtlich
auf gut Glück vieles ins Kino, was im Fernsehen besser
aufgehoben wäre (und ursprünglich oft auch dafür
produziert wurde).
Vielleicht als unbewusste Gegenreaktion auf die große
Zahl von sehr schlichten, wackeligen, ungekünstelt abgefilmten
Realitäten, zeichneten sich meine Doku-Favoriten neben
inhaltlichen Qualitäten durch eine "schöne"
Gestaltung aus. Es waren dies THE NOMI SONG, CROSSING THE
BRIDGE (wobei ich auf Alexander Hackes Kommentare im Ton von
Janosch' kleinem Bären hätte verzichten können),
RIZE, FROZEN ANGELS und RIDING GIANTS.
Angesichts dieser sehenswerten Filme (von denen, die ich
nicht gesehen habe, ganz zu schweigen), die alle in Münchner
Kinos außerhalb von Festivals zu sehen waren, kann man
beim besten Willen nicht davon sprechen, dass das Kino (im
Gegensatz zu den Kinos) in einer Krise steckt.
Darum wage ich sogar die Vorhersage, dass auch das Filmjahr
2006 wieder viele schöne, spannende, bewegende, lustige
und dramatische Momente bereithalten wird. Man muss dazu nur
mit offenen Augen durch das Leben und in die Kinos gehen.
Michael Haberlander
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