Beim Blick in das Programm des 23. Münchner Filmfests fallen sofort die
vielen japanischen Filme auf. Die Retrospektive ist zwei
Regisseuren aus dem Land der aufgehenden Sonne gewidmet.
Kinoshita Keisuke, ein Meister des Melodrams aus der
Nachkriegszeit, ist im Westen wesentlich unbekannter als die
etwas älteren Ozu und Mizoguchi oder gar sein Zeitgenosse
Kurosawa Akira. In Japan ist das anders. Dort ist sein Name
untrennbar mit NIJUSHI NO HITOMI (»24 Augen«) aus dem Jahr 1954
verbunden. Sein Film gilt vielen Japanern als der Nachkriegsfilm
schlechthin. Die rührende Geschichte einer jungen Lehrerin, die
an eine kleine, entlegene Dorfschule versetzt wird und dort erst
auf Ablehnung stößt, aber schnell die Herzen ihrer 12 Schüler
gewinnt, wird bei den meisten Japanern nostalgische Gefühle
wecken. Das Schulhaus, in dem der Film spielt und gedreht wurde,
ist inzwischen Museum und Touristenattraktion, und dass es noch
nicht vollends in ein Disneyland verwandelt wurde, liegt wohl nur
daran, dass es wirklich sehr abgelegen ist.
Daneben hat er 1951 mit KARUMEN KOKYO NI KAERU (»Carmen kehrt
heim«) den ersten japanischen Farbfilm überhaupt gedreht. Es ist
die Geschichte einer verlorenen Tochter, die nach Tokyo abgehauen
ist, dort Karriere als Tänzerin gemacht hat und nun nach Jahren
wieder in ihr Heimatdorf zurückkommt. Dort wirft ihr
großstädtisches Auftreten die Daheimgebliebenen in ein Wechselbad
der Gefühle zwischen Abscheu und Bewunderung für eine, die es in
Tokyo geschafft hat. Im Westen am bekanntesten dürfte NARAYAMA
BUSHIKO (»Die Ballade von Narayama«) aus dem Jahre 1958 sein, die
Geschichte eines Dorfes, in der alle, die 70 Jahre werden zum
Sterben auf einem Berg ausgesetzt werden.
Der zweite Teil der Retrospektive ist Kurosawa Kiyoshi
gewidmet, der nächsten Monat 50 Jahre alt wird. Er gilt als
Spezialist für ruhigen, subtilen Horror. Ich persönlich mag
andere zeitgenössische japanische Regisseure von vergleichbarem
Bekanntheitsgrad lieber, etwa Kore-eda Hirokazu, dem
Werkstattkino und Filmmuseum kürzlich kleine Reihen gewidmet
haben. Kurosawas Filme sind mir zu kühl. Es fehlt das
entscheidende Etwas, das mich emotional packt und trotz der
teilweise sehr ruhigen Erzählweise an den Film fesselt. Anderen
ergeht es anders. So gibt es durchaus Stimmen, die Kurosawa für
einen der besten Regisseur des aktuellen japanischen Films
halten. Bilden Sie sich also am besten selbst eine Meinung. Das
Filmfest bietet die Gelegenheit dazu.
Ergänzt wird die Doppel-Retrospektive durch ein Japan-Special
mit 18 Filmen. Solch ein Länderschwerpunkt ist neu und sicher
eine gute Idee. Mit einer bunten Mischung aus ganz aktuellen und
ein paar Jahre alten Filmen soll ein Panorama des japanischen
Films der Gegenwart geboten werden. Leider wirkt die Filmauswahl
willkürlich und läßt kein klares Konzept erkennen. Für eine
crashkursartige Einführung in das japanische Gegenwartskino
fehlen die Schlüsselfilme, die man einfach gesehen haben "muss".
Für eine Entdeckungsreise durch das unbekannte japanische Kino
abseits der Festivalfavoriten sind wiederum zu viele altbekannte
Filme dabei. So bleibt die Frage, wieso ein Film wie UZUMAKI in
der Reihe läuft. Er hat einen deutschen Verleih und ist hier
schon mehrfach regulär im Kino gelaufen. Der Film ist zweifellos
sehenswert, aber nicht so herausragend, dass man nicht
ebenbürtigen Ersatz hätte finden können, der hier noch nicht zu
sehen war.
Immerhin kann man das Bemühen erkennen, die wichtigsten Genre
und Strömungen abzudecken. So sind pinku-eiga durch TOKYO
X EROTICA, Monsterfilme durch ULTRAMAN: THE NEXT, der moderne
Yakuza-Film durch SONATINE und der Kriminalfilm durch REIKUSAIDO
MADA KESO (»The Lakeside Murder Case«) vertreten. Letzterer ist
auch ein gutes Beispiel dafür, wie japanische Regisseure sich dem
Genrekino zuwenden und es als Vehikel für ihre eigentlichen
Themen verwenden. Denn im Hintergrund geht es um die
"Prüfungshölle", der japanische Schüler und ihre Eltern auf dem
Weg zu renommierten Schulen und weiter zu einer angesehenen
Universität ausgesetzt werden. Damit liefert Aoyama Shinji ein
Gegenstück zu seinem bislang berühmtesten Film EUREKA über drei
Drop-outs aus dem System, der 2000 auf dem Münchner Filmfest
lief.
Einige Filme wie HAZAN und MUSUMEDOJOJI sind offenbar nicht
nur wegen ihrer filmischen Meriten in Programm genommen worden,
sondern weil sie auch einen anderen Aspekt der japanischen Kultur
behandeln. Bei MUSUMEDOJOJI funktioniert dies wunderbar. Er
liefert einen faszinierenden Einblick in die Welt der
(männlichen) Frauendarsteller im traditionellen Kabuki-Theater
(und seinen modernen Pop-Ablegern) und beschäftigt sich
gleichzeitig mit der Frage, wieviel Leben man opfern muss oder
kann, um die Kunst zu vervollkommnen. HAZAN über einen Mann, der
Anfang des 20. Jahrhunderts seine bisherige Existenz aufgibt um
als Töpfer neuartige Keramik zu entwickeln, kann dagegen kein
Interesse für die Töpferkunst wecken. Dies mag daran liegen, dass
der Reiz einer Keramikglasur schwerer auf Film zu bannen ist, als
eine Theaterszene. Hauptproblem ist aber die betuliche
Erzählweise im Stil eines Fernseh-Biopics. Punkt für Punkt werden
die wichtigsten Stationen im Leben von Hazan Itaya abgehakt, ohne
dass ein lebendiges Ganzes entstehen würde.
Daneben sind aber auch einige wahre Perlen zu entdecken. Etwa
ITSUKA DOKUSHO SURUHI (»The Milkwoman«), ein ruhiger, liebevoll
erzählter Film über die Liebe eines Lebens. Im Mittelpunkt steht
eine alleinstehende 50jährige Supermarktkassiererin, die ihre
Erfüllung darin findet, jeden Morgen die Milch auszutragen. Oder
UNMEIJA NAI HITO (»A Stranger of Mine«), der wie ein Film über
die Kontakt- und Bindungsprobleme von Singles in der modernen
Gesellschaft beginnt und endet, sich dazwischen aber als rasante
Gangsterkomödie entpuppt.
Keinesfalls verpassen darf man auch Yamada Yojis modernen
Samurai-Film KAKUSHI-KEN: ONI NO TSUME (»The Hidden Blade«), der
schon auf der diesjährigen Berlinale begeisterte. Der
internationale Titel ist hier irreführend. Es geht weniger um
Schwertkampf als um eine Liebesgeschichte, die an den engen
Konventionen der Gesellschaft zu ersticken droht. Aber es ist
Ende des 19. Jahrhunderts, die Meiji-Restauration hat begonnen.
Die Samuraizeit geht unaufhaltsam dem Ende entgegen, westliche
Kriegstechniken dringen auch in die japanische Provinz vor und
mit ihr gesellschaftliche Veränderungen, die die Samurai
überflüssig machen und der Liebe eine neue Chance eröffnen.
Ein im japanischen Kino extrem wichtiges Genre fehlt
allerdings im Japan-Special: Anime. Sie laufen versteckt im
Rahmen des Jugendfilmfest, wo eine kleine Reihe mit etwas
älteren, dafür exquisiten Animes untergeschlüpft ist. Gezeigt
werden mit MONONOKE HIME (Prinzessin Mononoke) und SEN TO CHIHIRO
(Chihiros Reise) immerhin zwei Filme von Miyazaki Hayao, dessen
Filme in Japan garantierte Blockbuster sind, und - erstmals in
München - TOKYO GODFATHERS, eine ins moderne Tokyo verlegte
Zeichentrickversion von John Fords 3 GODFATHERS mit John Wayne aus dem Jahr
1948. Er war letztes Jahr für den Oscar als bester Animationsfilm
nominiert. Leider fehlen ansonsten aktuellere Animes, wie der
allerneuste Miyazaki, der letztes Jahr in Cannes lief.
Man mag es als typisch deutsches Defizit ansehen, dass die
Animes nicht im "Erwachsenenprogramm" laufen. In Japan würde
niemand Animes als "Kinderkram" abtun, wie dies hierzulande noch
oft der Fall ist. Andererseits hat die Plazierung auch ihre
Vorteile. Die ausgewählten Animes sind allesamt auch für Kinder
und Jugendliche interessant, denen der Besuch der
Japan-Special-Reihe verwehrt ist. So bleiben uns Szenen wie auf
der Berlinale vor drei Jahren erspart, als vielen Miyazaki-Fans
der Besuch von SEN TO CHIHIRO trotz Eintrittskarte verwehrt
wurde, weil sie noch unter 18 waren und deshalb nicht in die
Wettbewerbsfilme durften. Trotzdem wäre es sicherlich sinnvoll
gewesen, das Japan-Panorama durch 1-2 Animes für Erwachsen
abzurunden.
Wer sich jetzt aber gefreut hat, die Animes endlich mit
Originalton sehen zu dürfen, wird beim genauen Blick ins Programm
bitter enttäuscht: Sie sind mit Ausnahme von HOTARU NO HAKA (»Die
letzten Glühwürmchen«), von dem es wohl nur eine OmU-Kopie gibt,
ausnahmslos synchronisiert. Das ist eines Filmfestivals schlicht
unwürdig. So muss der Anime-Fan noch einen Monat warten. Dann
läuft auf dem Fantasy-Filmfest INOSENSU: KÔKAKU KIDÔTAI
(»Ghost In The Shell 2«) - natürlich mit Originalton.
Claus Schotten
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