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Fillmfest München 2005 30.06.2005
 
 
"Wenn man das Spiel nicht gewinnen kann, muss man die Regeln ändern!"
Ein Gespräch mit John Sayles über die USA, Western-Mythen und seinen neuen Film SILVER CITY
Bildtitel
Chris Cooper in SILVER CITY
 
 
 
 

Seit etwa 20 Jahren gehört John Sayles zu den wichtigsten unabhängigen Regisseuren der USA. In seinem neuen Film, der Polit-Satire SILVER CITY, hat sich Sayles erstmals direkt dem Feld der Politik zugewandt - mit deutlichen Anspielungen auf die US-Präsidentschaftswahlen 2004. SILVER CITY spielt vor dem Hintergrund des Gouverneurswahlkampfs im Bundesstaat Colorado. Richard Dreyfus spielt den gerissen-zwiespältigen Wahlkampfmanager des konservativen Wahlfavoriten, Kris Kristoffersson einen erzreaktionären Lobbyisten, Danny Huston einen desillusionierten Ex-Journalist, der als Privatdetektiv eigentlich im Auftrag der Konservativen ermittelt, aber plötzlich im falschen Moment zu viel nachfragt. Grandios ist aber vor allem Chris Coopers Part als Gouverneurskandidat, der mühsam seine vorgestanzten Phrasen reproduziert - und kaum selbst versteht, was er redet. Unübersehbar sind hierbei die Anklänge an die Wahlkampfrhetorik des George W. Bush, dessen Tonlagen und Eigenheiten Cooper hervorragend parodiert. Wie die meisten von Sayles Filmen ist auch SILVER CITY zugleich ein Heimatfilm der anderen Art. Anspielungsreich und hintergründig dekonstruiert Sayles die Mythen der Silberminen, der Naturverbundenheit und des Frontierlebens. Was übrig bleibt, ist Selbstzerstörung. Der Film ist in den USA auf DVD erhältlich, ein Kinostart in Deutschland ist noch ungewiß.
(Das Gespräch wurde von Rüdiger Suchsland anlässlich der internationalen Premiere von SILVER CITY am Rande des Filmfestivals von San Sebastian Ende September geführt)

   
   
 
 
 
 

artechock: Der Gouverneurskandidat in Ihrem Film SILVER CITY wirkt überfordert und dumm, eine Marionette seiner Hintermänner. Trifft das auch Ihre Sicht auf Präsident Bush?

Sayles: Unübersehbar habe ich die Figur, die Chris Cooper spielt, mit einigen ganz offensichtlichen Anspielungen an George W. Bush ausgestattet, damit das Publikum keine Zweifel haben konnte, von wem hier die Rede ist. Ich habe einige klare Parallelen zwischen der Welt von SILVER CITY zu dem gezogen, was zur Zeit in unserem Land los ist.
Die Figur basiert auf Bushs erstem Wahlkampf für das Amt des Gouverneurs von Texas. Darum klammere ich Internationale Politik aus - aber es geht natürlich darum, wie dieser Typ die Welt sieht. Eine andere Filmfigur sagt über ihn: "He is a true believer" (Er ist ein wahrhaft Glaubender). Einer, der ein gottgleiches Vertrauen darin hat, wie er die Welt sieht, und dass er immer recht hat.
Das Problem dieser Figur ist, dass er nicht dumm ist. Er macht einfach seinen Job nicht gut. Für mich ist es ein Teil des Jobs, dass man sich klar ausdrücken kann, dass man etwas von der Welt da draußen weiß, über den eigenen Horizont hinausblicken kann. Bestimmt gibt es unter Politikern intelligentere und weniger intelligente. Aber das wichtigere sind seine Handlungen.
Es spielt keine Rolle, ob man schlau oder dumm ist. Einige Leute, die hinter George W. Bush stehen, sind in jedem Fall sehr schlau. Aber was sie mit der Welt und unserem Land tun wollen, ist meiner Ansicht nach sehr undemokratisch. Wenn wir in den USA eine Demokratie haben wollen, müssen wir uns als Bürger sehr anstrengen und unsere Bürgerrechte in Bezug auf unsere Kandidaten und unsere Informationsmedien sehr viel ernster nehmen.

Ihr Film dreht sich stark um das Verhältnis von Presse und Macht, um die moralische Korruption der Medienlandschaft.

Sayles: Sicher geht es mir in SILVER CITY nicht zuletzt um eine Verarbeitung meiner Enttäuschung über die amerikanische Mainstream-Medienlandschaft. Wenn Sie Michael Moores FAHRENHEIT 9/11 gesehen haben: Es sollte darüber gar keinen Film geben müssen. Die ganzen Informationen hätte man drei Jahre vorher in den Hauptabendnachrichten senden müssen. Sie waren allgemein verfügbar, die amerikanische Öffentlichkeit hätte darüber reden müssen.
Aber die Mainstream-Presse in den USA macht keinen guten Job. Sie dringen nicht sehr tief hinter die offizielle Version. Zum Teil geht es da auch um Einschüchterung. Der Satz, den die Billy-Zane-Figur, ein Lobbyist, spricht - "Don't tell us, how to stage the news, and we won't tell you, how to report it." - stammt original aus einer Pressekonferenz während der Reagan-Regierung. Man gab sich Mühe, Journalisten, die kritische Fragen stellten, oder Untersuchungen anstrengten, in den Ruf zu bringen, sie wären Teil einer liberalen Verschwörung, um die Regierung zu unterminieren. Es kam zu sehr gut organisierten Telefon- und E-mail-Kampagnien, wo Leuten in den Verlagsleitungen und Herausgebern suggeriert wurde: "Ihr habt da einen, der politisiert ist, und der hinter den falschen Leuten her ist."
Also: es gibt dort Einschüchterungen. Zur gleichen Zeit wurden die regulären Nachrichten- und Informationssendungen durch immer mehr Entertainment-Elemente verwässert. Aber je seichter sie wurden, um so besser die Quoten. Und dazu kommt: Richtige Nachrichten sind teuer. Es kostet Geld, Reporter fürs recherchieren zu bezahlen.
Also kommen zwei Dinge zusammen: Die, denen die Nachrichtensender gehören, wollen Profit machen. Und die, denen die Nachrichtensender gehören, sind große Firmen, die andere Firmen besitzen, und Angst haben, von der Regierung Schwierigkeiten zu bekommen.
In SILVER CITY trifft man auf ein halbes Dutzend Reporter von sehr unterschiedlichem Zuschnitt. Jeder von ihnen hat seine eigenen Ansichten, was ein Reporter ist, und wem ein Reporter dient. Auf der einen Seite der Linie hat man Leute, die nur noch ein Sprachrohr bestimmter Firmen sind, auf der anderen Seite einen, der wirklich nach der Wahrheit sucht - aber solche Typen sind in den USA derart marginalisiert worden, dass meine Figur, die von Tim Roth gespielt wird, tatsächlich in einem Keller wohnt. Also: Die Geräusche derjenigen, die sich weiterhin um die Wahrheit bemühen, sind sehr leise, während der Lärm des Mainstream alles übertönt. Am lautesten sind die Medien wie "Fox News". Sie wiederholen sich Tag um Tag um Tag. Es kann alles völlig gelogen sein, aber es erscheint einem irgendwann wie die Wahrheit, weil man es so oft gehört hat.

Fühlen Sie sich auch als marginalisiert, als Stimme in der Wüste?

Sayles: Dazu kann ich nur sagen: Man muss den meisten Lärm machen, wenn alle anderen still sind. Warum wir diesen Film gemacht haben, war ja unter anderem der Eindruck, dass die alltäglichen Gespräche in den USA sehr einseitig waren. Die Leute schienen Angst davor zu haben, etwas gegen die Regierung zu sagen - in jeder Hinsicht, nicht nur in Bezug auf den Irak-Krieg. Dieses Fehlen eines wirklichen Dialogs ist für eine Demokratie sehr schlecht. Es erschien mir darum als eine patriotische Pflicht, diesen Film zu drehen.

Wie würden Sie die Berichterstattung der großen Nachrichtensender Fox und CNN vergleichen?

Sayles: Es gibt eine sehr sehr gute Dokumentation über Fox, namens "Outfoxed", die man bei "amazon" kaufen kann - ins Kino kommt sie nicht. Fox ist im Prinzip ein Propagandaarm für Rupert Murdoch. Das ist ein sehr sehr rechter Typ. Die Kris-Kristofferson-Figur in SILVER CITY hat einige Parallelen zu Murdoch. Fox ist ein Sender, der mittels Nachrichten politische Botschaften verbreitet. Für mich ist das ein Propaganda-Sender.
CNN litt darunter, dass sie zuletzt in den Quoten von Fox überholt wurden. Darum haben sie damit begonnen, nicht nur immer konservativer zu werden, sondern auch immer simpler und weniger komplex. Die Vereinfachung von komplizierten Geschichten ist für mich ein großer Teil des Problems: dass etwa der Irak-Krieg als Kampf zwischen Gut und Böse präsentiert wird, nicht dagegen als Teil eines weitaus größeren Zusammenhangs.

Aber wo steht CNN im Vergleich?

Sayles: CNN steht links von Fox, aber weit rechts von der Wahrheit. [Lacht] Dafür kriegen sie mich.

Wie würden Sie die Entwicklung in den USA während der Bush-Regierung beschreiben?

Sayles: Ein sehr wichtiger Satz in SILVER CITY lautet: "If you can't win the game, just change the rules." (Wenn man das Spiel nicht gewinnen kann, muss man die Regeln ändern.) Das ist es, was gerade in den USA passiert: Die Regeln werden geändert. Etwa die Trennung zwischen Kirche und Staat in der Verfassung: Sie war seit den Gründervätern sehr stark, und löst sich zunehmend auf. Die Rolle des Wählers in der Demokratie: Sehr viele Abgeordnete repräsentieren heute die Verbände, Organisationen und Unternehmen, die ihren Wahlkampf unterstützt haben, nicht die Menschen, die sie gewählt haben. Die Rolle der Presse: Journalisten machen so viele Kompromisse gegenüber den Firmen, denen ihre Auftraggeber gehören. Sie kümmern sich nicht um Wahrheit, sondern um Kassenerfolg und Umfragen, darum, was populär ist, was die Leute hören wollen. Oder was ihr Boss hören will.
Man interessiert sich nicht mehr für das Allgemeine. Eine zentrale Metapher meines Films sind die Linien, die der Detektiv aufmalt. Sie verbinden verschiedene Geschehnisse, Personen und Organisationen. Ich möchte, dass mein Publikum auch in der Lage ist solche Verbindungslinien zu ziehen - zwischen SILVER CITY und unserem Land zum Beispiel. Denn vieles, von dem ich hier spreche, hat etwas mit George W. Bush zu tun.

Die Hauptfigur von SILVER CITY, der Detektiv, den Danny Huston spielt, steht für den amerikanischen Durchschnittsmenschen, der allmählich erkennt: Man kann sich nicht zurücklehnen, und nur passiv sein…

Sayles: Wer wissen will, was in der Welt los ist, muss selbst zum Detektiv werden. Wir Bürger wissen nun: Wir müssen ins Internet gehen, wir müssen Bücher lesen, wir müssen mehr als eine Zeitung lesen. Das gilt für die ganze Welt: Man muss der offiziellen Darstellung gegenüber misstrauisch sein - selbst wenn sie von einer Quelle stammt, die wir der "freien Presse" zurechnen. Die meisten Medien gehören großen Firmen.
Als wir erstmals gegen den Irak-Krieg demonstrierten, gab es im Februar 2003 eine große Demonstration in New York. Da nahmen vielleicht 250.000 - 300.000 Leute teil. as war ein Samstag. Die "New York Times" hat davon erst am folgenden Mittwoch berichtet. Nachdem sie zig kritische Leserbriefe bekommen hat. Das ist die "New York Times", das sind "All the news, thats fit to print".
Nehmen sie diese beste und durchaus liberale, sehr kritische Zeitung für die eine Seite des Spektrums, während das andere Extrem durch "Fox News" repräsentiert ist, dann wissen Sie ungefähr, wie gut der Durchschnittsbürger informiert ist. Intelligente Leute lesen die "New York Times", der Rest sieht Fox.
Unser Land steckt in richtig großen Schwierigkeiten. Das ist die wichtigste Wahl, die wir je hatten. Wir haben eine Regierung, die an den "preemtive war", an vorbeugenden Krieg glaubt. Daran, dass man einen Krieg führen darf, wenn man nur glaubt, man könnte mal einen Gegner haben. Es gibt nicht Gefährlicheres für uns alle, als diese Regierung!

Wo hört unter diesen Umständen die Demokratie auf? Wo fängt die Diktatur an?

Sayles: Nun, alle Demokratien haben große Probleme. Und Information und Medien sind eines der größten Probleme für jede Demokratie. Wir haben weiterhin das Potential, eine Demokratie zu sein. Unsere Geschichte handelt von Menschen, die sich aus eigenem Antrieb entschließen, eine Demokratie zu sein, und dann immer wieder Demokratie neu definieren.
In der ursprünglichen Verfassung steht: alle weißen Männer dürfen wählen. Das steht in der Verfassung, aber das haben wir abgeschafft, und die Verfassung entsprechend modernisiert. Demokratie bedeutet dieses ständige Modernisieren und Neudefinieren der Verfassung. Es ist ein Prozeß, eine Bewegung. Manchmal bewegen wir uns in Richtung zu mehr Demokratie, manchmal in die Gegenrichtung. Zur Zeit sicher in die Gegenrichtung.
Aber wir leben nicht in einer Diktatur. Wir können diesen Film machen, wie wir wollen, und wir können ihn herausbringen. Hollywood ist politisch mehrheitlich liberal, allerdings geben da die Kooperationen den Ton an. Deswegen versucht man Politik möglichst aus den Filmen herauszuhalten, und FAHRENHEIT 9/11 kommt nur in einem kleinen Verleih heraus. Aber er kommt heraus. Disney sagt nur: Wir wollen selbst keinem auf die Füße treten.
Umgekehrt glaube ich nicht, dass wir bisher je irgendwo eine perfekte Demokratie erreicht haben. Aber wir glauben an sie, und wir kämpfen dafür. Und wie sie sehen können, wenn sie ins Internet gucken: Es gibt starken Druck von Leuten, die mehr Demokratie wollen.

Ihr Film ist trotzdem etwas pessimistischer. Der Gute siegt nicht. Der klassische Western erzählt dagegen vom Triumph des ehrlichen Individuums, er entwickelt einen liberalen Heroismus…

Sayles: …meine Filme sind nie sehr heroisch. Sie haben immer sehr viele Figuren. Einige von ihnen können zwischendurch mal etwas Heroisches tun, aber dann wieder nicht.
Am Beginn ist der Ton von SILVER CITY fast parodistisch, jedenfalls sehr heiter und ironisch. Nehmen sie die Hauptfigur, Danny-Hustons-Charakter. Er ist der schlechteste Detektiv der Welt. Er vernachlässigt seinen Job. Aber am Ende nimmt er ihn ernst, da hat er sein moralisches Gespür zurückgewonnen. Er hat begriffen, dass er nicht mehr zynisch sein kann. Er ist wütend über das, was er herausgefunden hat.
Und das andere Positive: Die Wahrheit wird immerhin aufgedeckt. Ob das was nützt, bleibt offen, aber immerhin.
Aber diese heroische Idee: Ein Einzelner kann gegen das Böse kämpfen, und er kann sogar siegen, die ist eher ein Problem unserer amerikanischen Gesellschaft.
Meine Filme sagen meistens eher: Du kannst das Böse nicht allein schlagen, also tut euch zusammen, oder versucht wenigstens, das Problem zu begreifen. Die Idee des einzelnen Helden, allein gegen alle, die Ronald Reagan als Politiker gespielt hat, und die auch Kerry manchmal aufgreift, wenn es um seinen Militärdienst geht, ist überholt.
Was Bush angeht, wenn er sich in Pilotenuniform auf den Flugzeugträger stellt, dann glaube ich, dass er das aus dem Film INDEPENDENCE DAY geklaut hat. Er glaubt, er ist der Typ aus dem Film, der gegen die Aliens kämpft, während die USA in Trümmern liegen.
Das andere Problem ist Entertainment. Als ich ein Kind war, war die "News Hour" eine Stunde Nachrichten. Heute ist es eine Stunde minus 20 Minuten Entertainment: Promis, Stars, Musik, Film. Hinzu kommt die Idee des "Entertainment-News". Da sieht man dann zwei Typen, die sich gegenseitig anschreien. Das kommt einem vor wie eine Variante des Freistil-Catchens.
Auf die aktuelle Lage bezogen, wo es nur noch darum geht, wer die Wahl gewinnt, und die Weltgeschichte am Morgen des 3.November zuende ist, denke ich aber auch, dass man über den Tellerrand dieser kommenden Wahl in jedem Fall hinausblicken muss. Auf den Einfluß der großen Kooperationen, die ganze Regierungen kaufen, und die Macht des Volkes verkaufen, auch ihre Rechte, ihre Güter.

Ihre Filme sind amerikanische Heimatfilme - der anderen Art. Sie zeigen immer ein sehr präzises Bild sehr bestimmter amerikanischer Landschaften und Orte. Sie drehen sozusagen Bundesstaaten-Filme. LONE STAR handelte von Texas, LIMBO von Alaska, RUMBLE FISH von Louisiana, SUNSHINE STATE von Florida. SILVER CITY ist Ihr Colorado-Film. Können Sie Ihre Herangehensweise genauer beschreiben?

Sayles: Was mich an diesen verschiedenen Landschaften und Orten vor allem interessiert: Sie sind zweigeteilt. Sie haben eine reale, physische Seite, und eine imaginäre Seite. Die imaginäre ist mindestens so stark, eher stärker. Diese Mythen gehen dann auch untereinander Beziehungen ein, verstärken und verändern sich wiederum selber.
Bei SILVER CITY ging es nun offenkundig um die Mythen des Westens. Nehmen Sie zum Beispiel die berühmten Western-Filme von Anthony Mann: da gibt es immer wieder diese Idee "des Westens". Diese enthält immer auch implizit eine bestimmte Vorstellung von Individualismus, die ein sehr sehr starker Bestandteil der amerikanischen Kultur ist: Der einsame Mann, der in die Stadt kommt; und die Stadt versteht ihn nicht richtig, und die Bad Guys sind hinter ihm her, und er bekommt nicht wirklich Hilfe von anderen. Und er löst jedermanns Probleme und dann reitet er allein wieder weg. Dieses Muster wurde in Hunderten von Western variiert. Es gibt linke und rechte Western, linke und rechte Billy-the-Kid-Filme, usw.
Was mich besonders am Bundesstaat Colorado interessierte, ist, dass die Mentalität dort, das Selbstbild, weiterhin das eines Ortes ist, wo Rinderzucht und Bergbau betrieben wird: "Wir ziehen das Vieh groß, pflegen es und verkaufen es dann. Wir graben uns tiefer und tiefer in die Erde hinein, und bringen dann Gold und Silber nach Hause." - aber weniger zwei Prozent des Wirtschaftprodukts von Colorado basiert tatsächlich auf Rinderzucht oder Bergbau! [Lacht] Das hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun, ein Mythos!
Eigentlich verdient man dort das Geld mit Telekommunikation, Immobilienhandel und Brauereien. Ein Charakter wie die Kris-Kristofferson-Figur zieht sich weiterhin wie ein Cowboy an, aber er ist, wenn es ums Geldverdienen geht, genau so gerissen und mit allem Wassern gewaschen, wie jeder Firmenboss und CEO an der Ostküste.
Was mich an diesem Teil des Westens auch interessierte, und was essentiell für SILVER CITY war, ist, dass viele Leute hierherziehen, weil es so schön ist, wegen der Berge und Seen und Flüsse. Aber zum Erbe des Bergbaus gehört auch, dass es 15 Meilen von Denver entfernt es eine riesige Masse Giftmüll gibt, der dort einfach abgeladen wurde - knapp unter der Erde. Manches liegt sogar auf der Erde.
Für mich ist das die Aufgabe eines Detektivs: Unter die glänzende Oberfläche der Dinge zu sehen. Nehmen Sie die klassischen Geschichten, die Raymond Chandler für Hollywood schrieb. Sie handeln immer von der glänzenden Oberfläche, dem Schein, und der dunkleren Seite, die darunter liegt. Eben weil ich wollte, dass SILVER CITY wie eine Detektiv-Story im Stil von CHINATOWN funktioniert, gibt es auch im Film diese Spannung zwischen der wunderschönen Natur, angesichts derer jeder ausruft: "Oh mein Gott, da sind die wunderbaren Colorado-Mountains" - aber wenn man drunter schaut, dann sieht man giftigen Müll.

Sie mögen bekanntlich Mexiko sehr gern, in vielen Ihrer Filme geht es um Hispanics, auch hier kommen Mexikaner vor, in diesem Fall ist einer der "Bad Guys" ein Mexikaner…

Sayles: Meine Filme haben oft mit Mexikanern zu tun, weil ihre Kultur ein Teil der Vereinigten Staaten sind. Ein gutes Drittel des US-Territoriums gehörte früher lange Zeit zu Mexiko. Man hat einfach eine neue Grenze gezogen, viele Mexikaner wurden US-Bürger. In den letzten Jahrzehnten gab es das, was einige die "Reconquista" [Rückeroberung, analog zur spanischen reconquista des Mittelalters] nennen: eine Menge Mexikaner wanderten in die USA ein, und besiedelten die südlichen Gebiete. Das ist ein langer, schwieriger Prozeß.

Viele US-Filmemacher interessieren sich für die Hispanos in den USA. Aber die meisten entwerfen ein ziemlich folkloristisches Bild - sie nicht. Ihr Bild der Hispanos ist ehrlicher…

Sayles: Zunächst geht es einmal darum, ob man sich dafür interessiert, wer die Leute wirklich sind, oder ob man nur ein exotisches Interesse hat, in der Art: Ah, das sind die Leute, die Mariachi spielen, oder die Salsa tanzen. Seit dem Auftritt von Afonso Bedoja in John Hustons DER SCHATZ DER SIERRA MADRE muss jeder mexikanische Bandit in einem US-Film viel grinsen, lachen und sonderbar-verrückte Dinge tun. Das ist zum Klischee eines Latino geworden.
Ich kenne viele Hispanos, und weiß, wie verschieden sie sind. In Miami zum Beispiel leben längst nicht nur Kubaner. Dort gibt es Leute aus El Salvador, aus Puerto Rico, aus Mexiko.
In Los Angeles gibt es zwar ein klares Übergewicht der Mexikaner, aber es kommt sehr darauf an, aus welchem Teil in Mexiko sie kommen. Die Leute tendieren dazu, in eine Gegend zu ziehen, wo man den gleichen Akzent spricht, den gleichen Geschmack hat. Für mich ist das wichtige nicht zu sagen: Das sind Latinos. Sondern: Was für Latinos sind es? Darum zeige ich Leute, die schon lange in den USA leben, und illegale Saisonarbeiter, und welche, die irgendwo dazwischen stehen, in ihren unterschiedlichen Verhaltensweisen und Identifikationen.
Fast alle Amerikaner sind Emigranten. Meine Vorfahren kamen um 1900 nach Amerika. Mich interessiert, wie Assimilation funktioniert. Wann hört man auf zu denken: "Ich bin in einem fremden Land." und beginnt zu sagen: "Das ist meine Heimat."? Oder passiert das erst bei den Kindern, die im Land geboren werden?
Einwanderung ist für uns Amerikaner ein großes Thema. Unsere gesamte Wirtschaft ist von Einwanderung und von illegalen Arbeitern abhängig. Erst wenn wir beginnen, uns einzugestehen, dass illegale Arbeiter das Fundament unserer Wirtschaft sind, jedenfalls eines wichtigen Teils, können wir beginnen, unsere Wirtschaftsprobleme zu lösen.
Sicher können wir nicht über Arbeitsbedingungen und die Rolle der Gewerkschaften sprechen, bevor wir nicht zugeben, dass wir uns die Dinge, die wir uns leisten, zum Teil nur leisten können, weil wir Niedriglöhne an Illegale zahlen.

In letzter Zeit ist die grundsätzliche Offenheit gegenüber Einwanderern ja wiederholt in Frage gestellt worden, gerade in Bezug auf die Latinos. Samuel Huntington, der Autor der berühmten "Clash of Civilisations"-These warnt in seinem neuesten Buch vor dem wachsenden Einfluß der Hispano-Kultur. Sie werde, behauptet er, die USA essentiell verändern - im Gegensatz zu früheren Einwandererwellen…

Sayles: Das ist alles eine riesige Heuchelei. Wir geben Unsummen für Grenztruppen aus, für Patrouillen, die nachts durch die Wüste streifen, um alle aufzugreifen, die im Süden über den Zaun klettern. Aber in dem Moment, wo sie im Land sind, hängen wir von ihnen ab: Die Restaurant-Industrie, die Bau-Industrie, die Landwirtschaft könnten ohne diese Leute gar nicht existieren.
Meiner Meinung nach ist das nur ein Trick der Besitzenden, um das Mindest-Einkommen künstlich niedrig zu halten. Denn nur dann kann man sagen: Wir haben genug Leute, die für weniger Geld arbeiten, oder ohne Überstunden-Zahlungen oder was auch immer.
Also: Es ist eine große Lüge zu behaupten, die Hispanics würden Amerika schaden. Was wahr ist: es gibt einige, die hätten gerne, dass die Hispanics nie das Bürgerrecht bekämen. Dass man ihnen kaum etwas bezahlen muss, ihre Arbeitskraft ausbeuten kann, und sie dann wieder nach Hause schickt. Und sich um keinerlei Gesundheitsversorgung oder Ausbildung kümmern muss.

Wird sich die US-Einwanderungspolitik zum Schlechteren verändern, wird man die Grenzen noch dichter ziehen?

Sayles: Nein, was gerade passiert, ist dass immer mehr Menschen mit Latino-Abstammung öffentliche Ämter übernehmen. Wo immer sie in den USA hingehen: Sie hören überall Spanisch. Es ist eine US-Muttersprache. Das ist ein Teil unserer Kultur geworden. Vor allem hört man oft "Spanglisch". Es wird immer schwieriger, die Hispanics zu missachten. Das ist ein evolutionärer Prozeß. Zur Zeit gibt es so viele Lügen - die angeblichen Bedrohungen durch Terroristen sind ein beliebter Vorwand für alle möglichen Verschärfungen der Einwanderungsgesetze.

Sie müssen gezwungenermaßen sehr billig produzieren. Wie haben Sie es geschafft, derart viele bekannte Leute zur Zusammenarbeit zu bewegen: Richard Dreyfus, Darryl Hannah, Kris Kristofferson aber auch hinter der Kamera Haskell Wexler?

Sayles: Wexler hat bereits einen der großen Politfilme Amerikas gemacht: MEDIUM COOL, der 1969 herausgekommen ist. Da gab es auch einige dokumentarische Elemente. Er hat im Prinzip einen Fiction-Film an einem öffentlichen, dokumentarisch interessanten Ort gedreht - dem Wahlkonvent der Demokratischen Partei 1968. Irgendwann hat die Polizei angefangen, auf die Leute mit Knüppeln loszugehen und mit Tränengas zu schießen. Wexler hat das dann einfach aufgenommen und zu einem Teil des Film gemacht.
Das ist der vierte Film, den ich mit ihm gemacht habe. Ich denke, er sucht einfach nach guten Geschichten. Es ist keine Frage, dass es für ihn sehr schwierig ist, unter den Bedingungen zu arbeiten, unter denen ich zwangsläufig arbeiten muss: Wirb hatten nur sechs Wochen - das ist sehr wenig für einen so anspruchsvollen Film. Aber sein Talent, in so kurzer Zeit so viel aus den Möglichkeiten zu machen - aufgrund seiner Erfahrung - ist unglaublich.
Was die Darsteller angeht: Ich denke in den letzten 15 Jahren ist es für Schauspieler nicht nur akzeptabel geworden, in einem small-budget-Film mitzuspielen - die Agenten reißen sich geradezu darum. Denn es sind oft die besseren Rollen.
Man kann zwar in Hollywood mehr Geld machen, aber die Rollen tendieren dazu, sehr einseitig zu sein. Besonders, wenn man über 40 ist. Und manchmal nervt es einen, immer das Gleiche spielen zu sollen. In Independent-Filmen kann man mal etwas anderes machen, abseits der Klischees. Und seine Möglichkeiten erweitern. Wie Charlize Theron das in MONSTER gemacht hat, und den Oscar gewann. Sie hätte niemals einen solchen Part von Hollywood angeboten bekommen.

Fühlen Sie sich als der Anarchist des US-Kinos?

Sayles: Nein, das nicht. Aber ich bin in der Lage, abseits von Hollywood Filme zu machen. Ich kann die Geschichte erzählen, die ich erzählen will. Das ist nicht der leichte Weg, aber es ist möglich.
In Hollywood zu arbeiten, ist dagegen mehr wie Produktdesign. Man denkt an das, was das Publikum vermeintlich will, nicht an das, was man selber erzählen will. Sondern an das, was verkäuflich ist. Zuviele Leute reden mit. Und sie fragen: Was wird die Mode dieses Sommers? Und fast immer lügt man über irgendetwas, um es populärer zu machen.
Ich mache das Gegenteil. Und dann wird der Film komplizierter. Ich bin ganz sicher, dass die größte Differenz meiner Filme zu Mainstream-Filmen nicht der ist, dass sie politischer sind, sondern ihre Komplexität. Dass sie eine Welt zeigen, die nicht nur aus Gut und Böse besteht.

Sie werden oft als Independent-Regisseur bezeichnet. Der Ausdruck "Independent" hat etwas Virtuelles - es ist unklar, was das überhaupt bedeutet. Was heißt das für sie?

Sayles: Für mich ist es eine bestimmte Haltung. Es gibt darum auch bestimmte Regisseure, die innerhalb des Studiosystems ihre Unabhängigkeit bewahrt haben: Martin Scorsese, Spike Lee, die Coen-Brüder, Oliver Stone…

Ich finde Ihre Filme auch bei allem Ernst oft durchaus humorvoll. Ich würde SILVER CITY als Polit-Satire bezeichnen. Wie wichtig sind Ihnen Satire und Ironie?

Sayles: Von den Filmen, die ich bei der Arbeit an SILVER CITY im Kopf hatte, war wohl der wichtigste DR.STRANGELOVE ("Dr.Seltsam oder wie ich lernte die Bombe zu lieben") von Stanley Kubrick. Einerseits ein sehr witziger Film, aber sehr dunkel und depressiv auf der anderen Seite. So ähnlich muss man auch SILVER CITY sehen: Der Film beginnt als Parodie und Satire, den Gouverneurs-Kandidaten kann man genauso wenig ernst nehmen, wie den Privatdetektiv, der von Danny Huston gespielt wird. Der stolpert so durch die Gegend und ist so ziemlich der schlechteste Detektiv der Welt. Aber je länger der Film weitergeht, um so ernster muss man auch die Figuren nehmen: Der Kandidat wird wirklich gefährlich. Und auch Danny Hustons Charakter gewinnt an Gewicht. Er findet sich wieder, seinen Sinn für Moral, den er verloren hatte.
Ironie ist eine Weise, etwas zu präsentieren. Das Besondere an Ironie ist, dass hinter dem Witz der Punkt kommt, an dem etwas nicht mehr lustig ist.

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