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Völlig losgelöst am Lido: Schwule Cowboys, Heinrich Heine
und deutsche Weltflucht - Venedig-Tagebuch, 3. Folge von Rüdiger
Suchsland
Es geht früh los in diesem Jahr mit den ersten kleinen
Ausfallserscheinungen, dem ersten Einnicken im Kino. Gewiss,
der letzte lange Abend, der Wein und die kurze Nacht waren
sicher auch dran schuld, aber Philip Garrel, der für
besondere Strenge - andere würden sagen: Ödnis -
bekannte Filmemacher, tat seinen Teil dazu, und Festivalboss
Marco Müller den Rest. Warum muss man ausgerechnet den
Drei-Stunden-Film eines als, vorsichtig gesagt, "schwierig"
bekannten Regisseurs auf 8.30 Uhr morgens programmieren? Und
direkt danach den zweiten Drei-Stunden-Film des Festivals,
auch nicht gerade ein kurzweiliger Knaller, auf den wir noch
kommen werden. Klar: Konzentration, das cinephile Einlassen
auf sperrige Stoffe und Erzählweisen kann, muss man hier
von jedem verlangen. Verlangen muss man aber von einem Festival
auch, dass es Bedingungen schafft, die die Konzentration fördern
und das optimale Einlassen auf einen Film ermöglichen.
Ernsthaft berichten können wir daher von Garrels LES
AMANTS REGULIERS nichts, außer der Tatsache, dass die
wenigen Erinnerungsfetzen uns nicht so mitgerissen haben,
dass wir in eine der Wiederholungsvorstellungen rein gehen.
Gewinnen wird Garrel, darauf jede Wette, nichts.
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Im letzten Tagebuch haben wir schon von den vielen chinesischen
Filmen und der Retrospektive berichtet. Gestern erlebten wir
dann vor einem Retro-Film eine Einführung durch den Festivalchefs
höchstpersönlich. Spürbar von der eigenen Begeisterung
mitgerissen, redete Müller, seine händeringenden
Begleiter ignorierend, zehn Minuten am Stück und - auf
Italienisch! Wir hörten gern zu, verstanden kein Wort,
waren froh, als es vorbei war und dachten, vielleicht hätte
man all das, auch mit Rücksicht auf die vielen chinesischen
Zuschauer, doch ins Englische übersetzen können.
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Auch ein westlich-asiatischer Grenzgänger ist Ang Lee:
Der Amerikaner, der aus Taiwan stammt, und diese doppelte
Zugehörigkeit immer wieder thematisiert, erzählt
in BROKEBACK MOUNTAIN zunächst scheinbar einen stinknormalen
Spätwestern über zwei junge Männer, die im
Jahr 1963 den Sommer über in den Bergen von Wyoming Schafe
hüten. Alles ist still und langsam, es passiert nicht
viel, außer dass mal ein Kojote auftaucht und irgendwann
die Bohnendosen ausgehen. Dabei schaut man durchaus gerne
zu, und denkt, man hätte sich an deren Stelle wohl ein
Buch mitgenommen. Doch die Tage sind einsam und die Nächte
kalt, und so erfährt man endlich, was Cowboys nachts
im Zelt eigentlich sonst so getrieben haben. Es bleibt nicht
beim einmaligen Ausrutscher, sondern die beiden werden - auch
für sie selbst überraschend - ein Liebespaar. Und
dies bleiben sie während der folgenden 20 Jahre, trotz
Heirat und Kindern, immer für ein paar "Angelausflüge"
am Wochenende.
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BROKEBACK MOUNTAIN wäre ein konventioneller Ehebruchsfilm,
doch weil es um Homosexualität geht, wird alles doppelbödig.
Dabei ist dieser Erzählstrang auch eine Ablenkung, weil
er das, was womöglich das eigentliche Thema des Films
ist eher verstellt: Wie nämlich einer sein Leben und
sein Lebensglück verpasst, weil ihm der Mut fehlt, über
den eigenen Schatten zu springen, seinen wirklichen Neigungen
zu folgen. So gibt es gut verständliche "soziale
und kulturelle Gründe" und überdies ein Kindheitstrauma
mit Homophobiefolge. Erstaunlich gut spielt Heath Ledger diese
Hauptrolle, er ist das einzig wirklich glänzende an einem
Film, mit dem Ang Lee zwar nicht das Desaster von HULK wiederholt,
aber doch zum zweiten Mal unter seinen Möglichkeiten
bleibt. Erstmals erzählt Ang Lee von der Familie nicht
als von etwas durchweg Positivem. Freiheit ist hier positiv
besetzt als eine verpasste Chance und geheime Sehnsucht. Die
Frauen, bisher bei diesem Regisseur immer im Zentrum als zumindest
heimliche Hauptfiguren, kommen diesmal schlecht weg. Ihnen
bleibt nur die dramaturgische Funktion, soziale Bedrohung
ins Private zu verlängern, und von ihren Männern
ziemlich mies behandelt zu werden - damit der Zuschauer auch
deren Frust angemessen nachempfinden kann. Und weil Lee ein
heimlicher Puritaner ist, müssen beide Frauen auch zumindest
einmal zum Ergötzen des Heteropublikum den blanken Busen
zeigen, während vom schwulen Sex so gut wie gar nichts
zu sehen ist - man darf sich das nur vorstellen, wenn Heath
Ledger seine Frau im Bett im entscheidenden Moment nicht schnell
zum Analverkehr umdreht.
Visuell ist BROKEBACK MOUNTAIN gar gefällig. Ähnlich
wie Wim Wenders in DON'T COME KNOCKIN' beschwört dabei
auch Lee Landschaften und Bilder des Western in Form verfilmter
Postkarten, ohne ihnen wirklich Neues abzugewinnen. Das white-trash-Portrait,
das hier anfangs auch mit in der Luft schwebt, verfliegt schnell.
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Ein white-trash-Portrait ist auch BUBBLE, der neue, digital
gedrehte und mit nur 73 Minuten überaus kurze Film von
Steven Soderbergh. Fast eine Dokumentation, still und interessiert,
ohne moralisch zu kommentieren, zeigt er drei Arbeiter, die
West Virginia Plastikpuppen herstellen. Zwei Frauen, die eine
hässlich, alt und unbeholfen, die andere, jung, hübscher
und gerissen, bemühen sich um die Gunst eines jungen
Mannes. Doch das ist nur einer von mehreren Gründen,
die ein Geflecht bilden, in dem die hässliche dann irgendwann
die hübsche erwürgt - so wenig wie sie selbst, kann
der Zuschauer diese Tat letztlich "verstehen". Es
ist, wie es ist, nicht nur in der Liebe.
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Über einer Wüste erklingt eine Opernarie, Windkraftwerke
wachsen über den Horizont, und in wenigen Sekunden gelingt
es Werner Herzog, einen wieder in die einmalige Atmosphäre
seines Kinos eintauchen zu lassen: Wahnsinn trifft Übermut,
die Leidenschaft eines neugierigen Spielers vermischt sich
mit der kindlicher Poesie - man ist in einem Herzog-Film und
man kann nur dort sein. Die Arie ist das gleiche Lied, das
Fitzcarraldo hörte - und wir mit ihm im Kino -, als er
sein Schiff über den Berg ziehen ließ, um mitten
im Dschungel ein Opernhaus zu bauen. Der Kontrast zwischen
wilder Natur und höchster Zivilisiertheit und das Streben
von Tatmenschen, die sich "against all odds" dem
ihnen scheinbar unerbittlich auferlegten Schicksal widersetzen,
hat Werner Herzog schon immer fasziniert. Seit jeher ist der
bayerische Sturkopf ein Regisseur gewesen, der aus der Haltung
"Du hast keine Chance, aber nutze sie" immer neue
ebenso künstlerische wie skurrile Funken schlägt.
Diesmal sind Astronauten sein Thema, unsere Erde, die sie
verlassen und der unermessliche Weltraum, den sie erobern
wollen. Sein neuer Film THE WILD BLUE YONDER verbindet diese
Elemente zu einem facettenreichen, auch stellenweise irren
Essay.
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"Das ist schön bei den Deutschen", schrieb
Heinrich Heine, "keiner ist so verrückt, dass er
nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht."
Und "We thank the NASA for their sense for poetry"
schreibt Herzog am Ende. Dies ist auch ein Film, in dem die
Wissenschafter, die u.a. von Shopping-Malls auf dem Mars träumen,
genau so spinnert erscheinen, wie jene Zeitgenossen, die glauben,
dass die Landung der Aliens längst erfolgt ist.
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Zwei der drei diesjährigen deutschen Venedig-Beiträge
erlebten an diesem Wochenende in der Nebenreihe "Horizonte"
ihre Premiere. Und bei allen Unterschieden ihrer Herangehens-
und Erzählweise, zeigen die Dokumentationen der beiden
als Spielfilmregisseure bekannt gewordenen Werner Herzog und
Philip Gröning (DIE TERRORISTEN, L´AMOUR) auch
auffällige Gemeinsamkeiten. Während Herzog von Astronauten
erzählt, ihren Erfahrungen und von den Träumen der
Menschheit, den Weltraum zu erobern, stellt Gröning mit
DIE GROSSE STILLE eine Dokumentation vor, die er vor 21 Jahren
erstmals plante, an der er sieben Jahre arbeitete, und sechs
Monate lang drehte. Sie handelt von den Kathäusermönchen,
einem katholischen Orden, dessen Angehörige eine Gelübde
ablegen, das sie zwar nicht zu absolutem Schweigen aber zu
größtmöglichem Verstummen verpflichtet.
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"Jetzt sag ich Dir mal, wie ich diesen Film erlebt habe",
erzählt Kollege Josef Schnelle von seiner ganz persönlichen
Gröning-Erfahrung: "Nach fünf Minuten dachte
ich, ich geh gleich wieder. Nach 'ner Viertelstunde dachte
ich: Was ein Scheiß. Nach ner Dreiviertelstunde:
Ich bleib noch 'nen bisschen. Nach eineinhalb Stunden wusste
ich, was ich schreibe, und nach zwei Stunden fand ich's schade,
dass ich früher rausgehen musste."
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Fast drei Stunden lang folgt DIE GROSSE STILLE dem Leben
in der "Grand Chartreuse", dem 1000 Jahre alten
größten Karthäuserkloster der Welt in den
französischen Alpen. Die Dreharbeiten, während denen
der Regisseur selbst im Kloster nach den Regeln der Mönche
lebte, wären eine eigene Dokumentation wert. Gröning
interessiert sich für die Einzelheiten und spontane Eindrücke
des Klosterlebens, nicht für Abläufe, Ordnung und
Strukturen, sondern für das Chaos. Das verbindet ihn
mit Herzog, der Bilder des Astronautenlebens mit Aufnahmen
etwa der "Galileo"-Sonde verbindet, deren Photos
ferner Galaxien weniger an wissenschaftliche Forschung, als
an psychedelische Wahnbilder erinnern.
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Beide Filme sind vor allem Betrachtungen der Stille und des
Schweigens, Meditationen über das Wegdriften in Weltferne
und ein Leben in Sehnsuchtslandschaften; auch Essays über
die Schwierigkeit, für die hierzu unweigerlich gehörenden
inneren Vorgänge und Erlebnisse Bilder zu finden. Man
könnte natürlich auch sagen: Es sind antimoderne
Botschaften, die diese Filme versenden, anstatt etwas von
der konkreten Welt zu erzählen, beschwört man in
Zeiten der Krise die Weltflucht, träumt sich in ein Posthistoire,
einen Zustand in dem, wie bei Gröning, die Menschen in
der ewigen Wiederkehr des Immergleichen leben wie vor 1000
Jahren, oder, wie bei Herzog, wo am Schluss die Vision einer
prähistorischen Welt beschworen wird. Nicht, dass wir
beiden Filmemachern diese Absicht unterstellen - auch Herzog
hat dafür zuviel Sinn für Absurdismen - doch verräterisch
blinzelt in dieser Venezianer Zufallspaarung das kollektive
Unbewusste: Der alte deutsch-romantische Taumel holt uns wieder
ein, das "Luftreich des Traums", von dem Heine auch
mal schrieb, dass dort wenigstens die Herrschaft der Deutschen
unbestritten sei. Oder sollen wir doch glauben, es sei eigentlich
ein subversiver und kein eskapistischer Gedanke, dass unser
Alltagsleben nicht das letzte Ziel menschlichen Seins ist.
Immerhin sind die Menschen in diesen beiden Filmen anständige
Kantianer: das moralische Gesetz in und den gestirnten Himmel
über sich, brauchen sie keinen Boden mehr unter den Füssen.
Von diesem abgehoben, völlig losgelöst, teilen Astronauten
und Mönche nicht nur ein klösterliches, strenger
Disziplin unterworfenes Leben, sondern auch ihr letztes Ziel:
das Himmelreich.
Rüdiger Suchsland
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