KINO MÜNCHEN FILM AKTUELL ARCHIV FORUM LINKS SITEMAP
Venedig 2005 05.09.2005
 
 
Tagebuchnotitzen, 3. Folge
Please come knockin'
WHERE THE TRUTH LIES
"Größtmögliches Schweigen" - DIE GROSSE STILLE von Philip Gröning
 
 
 
 

Völlig losgelöst am Lido: Schwule Cowboys, Heinrich Heine und deutsche Weltflucht - Venedig-Tagebuch, 3. Folge von Rüdiger Suchsland

Es geht früh los in diesem Jahr mit den ersten kleinen Ausfallserscheinungen, dem ersten Einnicken im Kino. Gewiss, der letzte lange Abend, der Wein und die kurze Nacht waren sicher auch dran schuld, aber Philip Garrel, der für besondere Strenge - andere würden sagen: Ödnis - bekannte Filmemacher, tat seinen Teil dazu, und Festivalboss Marco Müller den Rest. Warum muss man ausgerechnet den Drei-Stunden-Film eines als, vorsichtig gesagt, "schwierig" bekannten Regisseurs auf 8.30 Uhr morgens programmieren? Und direkt danach den zweiten Drei-Stunden-Film des Festivals, auch nicht gerade ein kurzweiliger Knaller, auf den wir noch kommen werden. Klar: Konzentration, das cinephile Einlassen auf sperrige Stoffe und Erzählweisen kann, muss man hier von jedem verlangen. Verlangen muss man aber von einem Festival auch, dass es Bedingungen schafft, die die Konzentration fördern und das optimale Einlassen auf einen Film ermöglichen. Ernsthaft berichten können wir daher von Garrels LES AMANTS REGULIERS nichts, außer der Tatsache, dass die wenigen Erinnerungsfetzen uns nicht so mitgerissen haben, dass wir in eine der Wiederholungsvorstellungen rein gehen. Gewinnen wird Garrel, darauf jede Wette, nichts.

+++

Im letzten Tagebuch haben wir schon von den vielen chinesischen Filmen und der Retrospektive berichtet. Gestern erlebten wir dann vor einem Retro-Film eine Einführung durch den Festivalchefs höchstpersönlich. Spürbar von der eigenen Begeisterung mitgerissen, redete Müller, seine händeringenden Begleiter ignorierend, zehn Minuten am Stück und - auf Italienisch! Wir hörten gern zu, verstanden kein Wort, waren froh, als es vorbei war und dachten, vielleicht hätte man all das, auch mit Rücksicht auf die vielen chinesischen Zuschauer, doch ins Englische übersetzen können.

+++

Auch ein westlich-asiatischer Grenzgänger ist Ang Lee: Der Amerikaner, der aus Taiwan stammt, und diese doppelte Zugehörigkeit immer wieder thematisiert, erzählt in BROKEBACK MOUNTAIN zunächst scheinbar einen stinknormalen Spätwestern über zwei junge Männer, die im Jahr 1963 den Sommer über in den Bergen von Wyoming Schafe hüten. Alles ist still und langsam, es passiert nicht viel, außer dass mal ein Kojote auftaucht und irgendwann die Bohnendosen ausgehen. Dabei schaut man durchaus gerne zu, und denkt, man hätte sich an deren Stelle wohl ein Buch mitgenommen. Doch die Tage sind einsam und die Nächte kalt, und so erfährt man endlich, was Cowboys nachts im Zelt eigentlich sonst so getrieben haben. Es bleibt nicht beim einmaligen Ausrutscher, sondern die beiden werden - auch für sie selbst überraschend - ein Liebespaar. Und dies bleiben sie während der folgenden 20 Jahre, trotz Heirat und Kindern, immer für ein paar "Angelausflüge" am Wochenende.

+++

BROKEBACK MOUNTAIN wäre ein konventioneller Ehebruchsfilm, doch weil es um Homosexualität geht, wird alles doppelbödig. Dabei ist dieser Erzählstrang auch eine Ablenkung, weil er das, was womöglich das eigentliche Thema des Films ist eher verstellt: Wie nämlich einer sein Leben und sein Lebensglück verpasst, weil ihm der Mut fehlt, über den eigenen Schatten zu springen, seinen wirklichen Neigungen zu folgen. So gibt es gut verständliche "soziale und kulturelle Gründe" und überdies ein Kindheitstrauma mit Homophobiefolge. Erstaunlich gut spielt Heath Ledger diese Hauptrolle, er ist das einzig wirklich glänzende an einem Film, mit dem Ang Lee zwar nicht das Desaster von HULK wiederholt, aber doch zum zweiten Mal unter seinen Möglichkeiten bleibt. Erstmals erzählt Ang Lee von der Familie nicht als von etwas durchweg Positivem. Freiheit ist hier positiv besetzt als eine verpasste Chance und geheime Sehnsucht. Die Frauen, bisher bei diesem Regisseur immer im Zentrum als zumindest heimliche Hauptfiguren, kommen diesmal schlecht weg. Ihnen bleibt nur die dramaturgische Funktion, soziale Bedrohung ins Private zu verlängern, und von ihren Männern ziemlich mies behandelt zu werden - damit der Zuschauer auch deren Frust angemessen nachempfinden kann. Und weil Lee ein heimlicher Puritaner ist, müssen beide Frauen auch zumindest einmal zum Ergötzen des Heteropublikum den blanken Busen zeigen, während vom schwulen Sex so gut wie gar nichts zu sehen ist - man darf sich das nur vorstellen, wenn Heath Ledger seine Frau im Bett im entscheidenden Moment nicht schnell zum Analverkehr umdreht.
Visuell ist BROKEBACK MOUNTAIN gar gefällig. Ähnlich wie Wim Wenders in DON'T COME KNOCKIN' beschwört dabei auch Lee Landschaften und Bilder des Western in Form verfilmter Postkarten, ohne ihnen wirklich Neues abzugewinnen. Das white-trash-Portrait, das hier anfangs auch mit in der Luft schwebt, verfliegt schnell.

+++

Ein white-trash-Portrait ist auch BUBBLE, der neue, digital gedrehte und mit nur 73 Minuten überaus kurze Film von Steven Soderbergh. Fast eine Dokumentation, still und interessiert, ohne moralisch zu kommentieren, zeigt er drei Arbeiter, die West Virginia Plastikpuppen herstellen. Zwei Frauen, die eine hässlich, alt und unbeholfen, die andere, jung, hübscher und gerissen, bemühen sich um die Gunst eines jungen Mannes. Doch das ist nur einer von mehreren Gründen, die ein Geflecht bilden, in dem die hässliche dann irgendwann die hübsche erwürgt - so wenig wie sie selbst, kann der Zuschauer diese Tat letztlich "verstehen". Es ist, wie es ist, nicht nur in der Liebe.

+++

Über einer Wüste erklingt eine Opernarie, Windkraftwerke wachsen über den Horizont, und in wenigen Sekunden gelingt es Werner Herzog, einen wieder in die einmalige Atmosphäre seines Kinos eintauchen zu lassen: Wahnsinn trifft Übermut, die Leidenschaft eines neugierigen Spielers vermischt sich mit der kindlicher Poesie - man ist in einem Herzog-Film und man kann nur dort sein. Die Arie ist das gleiche Lied, das Fitzcarraldo hörte - und wir mit ihm im Kino -, als er sein Schiff über den Berg ziehen ließ, um mitten im Dschungel ein Opernhaus zu bauen. Der Kontrast zwischen wilder Natur und höchster Zivilisiertheit und das Streben von Tatmenschen, die sich "against all odds" dem ihnen scheinbar unerbittlich auferlegten Schicksal widersetzen, hat Werner Herzog schon immer fasziniert. Seit jeher ist der bayerische Sturkopf ein Regisseur gewesen, der aus der Haltung "Du hast keine Chance, aber nutze sie" immer neue ebenso künstlerische wie skurrile Funken schlägt. Diesmal sind Astronauten sein Thema, unsere Erde, die sie verlassen und der unermessliche Weltraum, den sie erobern wollen. Sein neuer Film THE WILD BLUE YONDER verbindet diese Elemente zu einem facettenreichen, auch stellenweise irren Essay.

+++

"Das ist schön bei den Deutschen", schrieb Heinrich Heine, "keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht." Und "We thank the NASA for their sense for poetry" schreibt Herzog am Ende. Dies ist auch ein Film, in dem die Wissenschafter, die u.a. von Shopping-Malls auf dem Mars träumen, genau so spinnert erscheinen, wie jene Zeitgenossen, die glauben, dass die Landung der Aliens längst erfolgt ist.

+++

Zwei der drei diesjährigen deutschen Venedig-Beiträge erlebten an diesem Wochenende in der Nebenreihe "Horizonte" ihre Premiere. Und bei allen Unterschieden ihrer Herangehens- und Erzählweise, zeigen die Dokumentationen der beiden als Spielfilmregisseure bekannt gewordenen Werner Herzog und Philip Gröning (DIE TERRORISTEN, L´AMOUR) auch auffällige Gemeinsamkeiten. Während Herzog von Astronauten erzählt, ihren Erfahrungen und von den Träumen der Menschheit, den Weltraum zu erobern, stellt Gröning mit DIE GROSSE STILLE eine Dokumentation vor, die er vor 21 Jahren erstmals plante, an der er sieben Jahre arbeitete, und sechs Monate lang drehte. Sie handelt von den Kathäusermönchen, einem katholischen Orden, dessen Angehörige eine Gelübde ablegen, das sie zwar nicht zu absolutem Schweigen aber zu größtmöglichem Verstummen verpflichtet.

+++

"Jetzt sag ich Dir mal, wie ich diesen Film erlebt habe", erzählt Kollege Josef Schnelle von seiner ganz persönlichen Gröning-Erfahrung: "Nach fünf Minuten dachte ich, ich geh gleich wieder. Nach 'ner Viertelstunde dachte ich: Was ein Scheiß. Nach ‚ner Dreiviertelstunde: Ich bleib noch 'nen bisschen. Nach eineinhalb Stunden wusste ich, was ich schreibe, und nach zwei Stunden fand ich's schade, dass ich früher rausgehen musste."

+++

Fast drei Stunden lang folgt DIE GROSSE STILLE dem Leben in der "Grand Chartreuse", dem 1000 Jahre alten größten Karthäuserkloster der Welt in den französischen Alpen. Die Dreharbeiten, während denen der Regisseur selbst im Kloster nach den Regeln der Mönche lebte, wären eine eigene Dokumentation wert. Gröning interessiert sich für die Einzelheiten und spontane Eindrücke des Klosterlebens, nicht für Abläufe, Ordnung und Strukturen, sondern für das Chaos. Das verbindet ihn mit Herzog, der Bilder des Astronautenlebens mit Aufnahmen etwa der "Galileo"-Sonde verbindet, deren Photos ferner Galaxien weniger an wissenschaftliche Forschung, als an psychedelische Wahnbilder erinnern.

+++

Beide Filme sind vor allem Betrachtungen der Stille und des Schweigens, Meditationen über das Wegdriften in Weltferne und ein Leben in Sehnsuchtslandschaften; auch Essays über die Schwierigkeit, für die hierzu unweigerlich gehörenden inneren Vorgänge und Erlebnisse Bilder zu finden. Man könnte natürlich auch sagen: Es sind antimoderne Botschaften, die diese Filme versenden, anstatt etwas von der konkreten Welt zu erzählen, beschwört man in Zeiten der Krise die Weltflucht, träumt sich in ein Posthistoire, einen Zustand in dem, wie bei Gröning, die Menschen in der ewigen Wiederkehr des Immergleichen leben wie vor 1000 Jahren, oder, wie bei Herzog, wo am Schluss die Vision einer prähistorischen Welt beschworen wird. Nicht, dass wir beiden Filmemachern diese Absicht unterstellen - auch Herzog hat dafür zuviel Sinn für Absurdismen - doch verräterisch blinzelt in dieser Venezianer Zufallspaarung das kollektive Unbewusste: Der alte deutsch-romantische Taumel holt uns wieder ein, das "Luftreich des Traums", von dem Heine auch mal schrieb, dass dort wenigstens die Herrschaft der Deutschen unbestritten sei. Oder sollen wir doch glauben, es sei eigentlich ein subversiver und kein eskapistischer Gedanke, dass unser Alltagsleben nicht das letzte Ziel menschlichen Seins ist. Immerhin sind die Menschen in diesen beiden Filmen anständige Kantianer: das moralische Gesetz in und den gestirnten Himmel über sich, brauchen sie keinen Boden mehr unter den Füssen. Von diesem abgehoben, völlig losgelöst, teilen Astronauten und Mönche nicht nur ein klösterliches, strenger Disziplin unterworfenes Leben, sondern auch ihr letztes Ziel: das Himmelreich.

Rüdiger Suchsland

  top
   
 
 
[KINO MÜNCHEN] [FILM AKTUELL] [ARCHIV] [FORUM] [LINKS] [SITEMAP] [HOME]