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Der Süden ist gefährlich, um das zu erfahren,
muss man nicht nach Venedig fahren. Manchmal genügt dafür
schon Bayern, und mit dem unproletarisierten Super-Edi hat
das jetzt ausnahmsweise gar nichts zu tun, sondern damit,
dass die klügsten Menschen der Republik jetzt - diese
Nachricht bekam Kollege und WG-Mitbewohner Josef Schnelle
aus der Heimat - ein Bier erfunden haben, dass 25 Prozent
Alkoholgehalt hat. Schnelle, der außer Kölsch nur
noch heimlich Prosecco trinkt, meinte noch verwundert: "Das
kann man ja anzünden."
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VERS LE SUD, südwärts heißt auch der neue
Film von Laurent Cantet, der vor drei Jahren mit L'EMPLOIS
DU TEMPS einen der besten Filme des Festivals gedreht hatte.
Eigentlich könnte er auch "vers le ouest" heißen,
denn er spielt auf Haiti, aber seine Hauptfiguren sind gar
keine Franzosen, sondern Amerikaner, also stimmt die Himmelsrichtung
wieder. Und außerdem ist mit dem Titel, so verstehen
wir ihn jedenfalls, eher die Idee des Südens gemeint,
die das französische Kino in letzter Zeit schon öfters
fasziniert hat, etwa vor einem Jahr in Claire Denis' großartigem
L'INTRUS: Sonne, Strand, Hitze, Aussteigen, auch die Faszination
für das Exotisch-Andere, für fremde Kulturen, fremde
Haut. Schon wenn sich die - vor allem französischen -
Schriftsteller des 19. Jahrhunderts auf Orientreise begaben,
suchten sie im Schatten der Pyramiden nicht zuletzt dunkelhäutige
Knaben und leichtbekleidete Mulattinnen. Heute heißt
das schlicht Sextourismus und ist massentauglich geworden.
Mit Moralismen und den tiefen Rinnen des Geschlechterdiskurses
ist man da schnell zur Hand. Cantet versucht zumindest, es
sich schwerer zu machen. Die Sextouristen in diesem Fall sind
nämlich Frauen, die sich, selbst 40 Jahre und aufwärts,
in Haiti den Sex holen, den sie daheim nicht bekommen. Und
manchmal auch die Liebe, oder was sie dafür halten. Man
mag es pessimistisch finden, aber es ist vielleicht nur genau
beobachtet, wenn VERS LE SUD zeigt, dass es hier keine unschuldigen
Verhältnisse gibt, dass Ausbeutung - ökonomische,
sexuelle, kulturelle - Lebensbedingung ist - selbstverständlich
auch bei den Haitianern untereinander. Der Film spielt übrigens
in den 70er Jahren, als die Stunde der Komödianten und
alle Graham-Greene-Romantik schon längst passé
waren, aber noch die blutige, aber stabile Diktatur des "Baby
Doc" Duvalier und seiner Tonton Macute-Schergen das Land
dominierte - vor mehreren Umstürzen und der US-Invasion.
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Im Zentrum stehen aber die verschiedenen Frauen, vor allem
zwei von ihnen, die sich in den gleichen Jüngling "verlieben."
Treffend zeigt Cantet den Machismo, der auch unter Frauen
verbreitet ist, die subtilen Hierarchien, die die Ordnung
des Urlauberlebens bestimmen, und untersucht Tourismus als
geistige Lebensform. "We all change, when we are here."
sagt eine der Frauen. Unweigerlich denkt man an Szenarien
aus Michel Houellebecqs Romanen. "Tourists never die",
sagt ein Haitianer am Ende dieser impressionistischen Kino-Reise.
Mit seinen einfachen, klar kadrierten Bildern, seinem Erzählen
ohne große Mätzchen und einer gewohnt glänzenden
Charlotte Rampling in der Hauptrolle katapultierte sich VERS
LE SUD am Mittwoch schnell in die Reihe der Favoriten.
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Da gehörte eigentlich auch BACKSTAGE hin, liefe er nicht
außer Konkurrenz - und sei es allein wegen seines furiosen
Beginns, einem der besten des Festivals. Man befindet sich
in einer französischen Vorstadtsiedlung, die auch aus
einem Houellebecq-Roman stammen könnte. Erst glaubt man
an den Sturm einer Polizeieinheit, dann merkt man: Es ist
das Fernsehen, das hier eindringt. In irgendeiner TV-Trash-Show
wird Teenager Lucie mit ihrem Lieblingsstar, der enigmatischen
Popsängerin Lauren konfrontiert, eindrucksvoll und mit
ikonischer Kraft als eine Mischung aus Debbie Harry und Patricia
Kaas gespielt von Emmanuelle Seigner. Lucie, brillant portraitiert
von Frankreichs Zukunftsstar Isild le Basco, bekommt eine
Art Nervenzusammenbruch, und verbarrikadiert sich in ihrem
Zimmer. Doch der Schock bewirkt eine noch größere
Abhängigkeit von ihrem Star, und am nächsten Morgen,
von einer "speziellen Beziehung" zwischen ihnen
überzeugt, macht sie sich auf, um Lauren in ihrer Pariser
Hotelsuite aufzusuchen. Das klappt nach einigem Hin und Her,
und Lucie wird Teil des Zirkels aus Vertrauten, die den Star
umgeben. Lauren befindet sich, das wird schnell klar, in noch
weit schlechterem Zustand, als Lucie, ist überspannt,
launisch, hysterisch, tablettensüchtig und paranoid -
ständig am Rande des Nervenzusammenbruchs. BACKSTAGE,
das Debüt der Schauspielerin Emmanuelle Bercot, ist ein
dichtes, überraschend souverän inszeniertes Portrait
von Starrummel und Fan-Dasein, auf angenehme Art trashy -
vor allem scheren sich französische Liederautoren offenkundig
nicht um Kitsch. Der Film wirft einen genauen Blick unter
die Oberfläche des Glamours, der auch größere
Teile dieses Filmfestivals prägt. Intelligentes, anspruchsvolles,
über weite Strecken bezauberndes Kino.
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Auf die Franzosen ist also nicht nur in qualitativer Hinsicht
- erinnern wir auch an Chereaus GABRIELLE, der immer noch
unsere subjektiven Charts anführt - wieder einmal Verlass.
Sie sorgen auch aufs Neue für ein bisschen expliziten
Sex in den Festivalfilmen. Ein kleiner Nachtrag daher noch
zu GABRIELLE. Interessant, wie der Film auch seine Anhänger
spaltet: Hält man es nun mit dem gehörnten Ehemann,
der leider vor Selbstgerechtigkeit strotzt und seine Frau
am Ende des Films auf der Treppe vergewaltigt, und bezeichnet
wie Kollege Schnelle Isabelle Huppert und daher auch Gabrielle
als "kalten Fisch", oder sieht man, wie wir, wie
auch Kollegin Julia Teichmann, hinter der kühlen Fassade
eher ein Opfer?
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Darüber lässt sich lange streiten, etwa beim inoffiziellen
Treffen der deutschen Filmkritiker in der Via Scutari. Das
Treffen im Garten eines schönen Hauses ist zwar rein
privat, hat aber schon soviel Tradition, dass manch ein Großkritiker
todbeleidigt war, weil ihn keine Einladung erreicht hatte.
"Ich fand ihn schon immer so, wie er jetzt ist",
kommentierte einer der Gastgeber am nächsten Tag griesgrämige
Blicke. Aber vielleicht hätte der Filmredakteur, statt
allein seinem Charme zu vertrauen, den Gastgebern einfach
in letzter Zeit mehr Aufträge geben sollen
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Da stand sie am Lido im Sonnenschein und lächelte, parlierte
fließend auf Englisch, machte dazu mit ihrer Hand wohlgestalte
Bewegungen, die ein bisschen wie die Gunstbezeugungen einer
Königin aussahen - 83 Jahre alt und eine noch ziemlich
rüstige Dame ist Wei Wei heute, und sichtlich genoss
sie diesen Moment. Kaum einer kennt sie im Westen, aber sie
beim Festival von Venedig zu sehen, das ist eigentlich, als
ob man Greta Garbo oder Anna Magnani noch einmal leibhaftig
begegnen könnte. Denn Wei Wei ist, trotz - oder doch
wegen? - ihrer nur 15 Filme eine der, vielleicht gar "die"
Ikone des chinesischen Kinos, gefeiert zuletzt noch von jüngeren
modernen Regisseuren wie Wong Kar-wei oder Stanley Kwan.
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Nun ist Wei Wei einer der Stargäste des Festivals. In
der Retrospektive präsentiert sie SPRINGTIME IN A SMALL
TOWN, in dem sie 1947 selbst die Hauptrolle spielte. Der Film
ist ein Klassiker des chinesischen Kinos, eine Ehedrama, zugleich
das Portrait einer desillusionierten Nachkriegsgeneration,
in dem die Schrecken von Bürgerkrieg und japanischer
Besatzung nachklingen, und die folgenden bleiernen Jahrzehnte
unter Mao schon zu ahnen sind. Regisseur Fei Mu (1906-1951),
der überhaupt nur drei Filme gedreht hat, gilt als einer
der Meister der chinesischen Filmgeschichte - sein letzter
Film ist zugleich ein Schwanengesang der großen Filmindustrie
von Shanghai. Mit Maos Machtantritt ging sie unter, viele
bedeutende Filme wurden während der Kulturrevolution
zerstört, andere harren in den Regierungskellern ihrer
Wiederentdeckung. Ein Schritt dahin ist die Venezianer Retrospektive,
in der die Filme in frischrestaurierten Fassungen gezeigt
werden.
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Vom Venezianer Festivalleiter Marco Müller, einem studierten
Sinologen und einstigen Maoisten, erzählt man hier, er
sei auch irgendwann einmal für ein paar Monate aufs -
italienische - Land gezogen, um "von den Landarbeitern
zu lernen". Ursprünglich einmal angekündigt
als "100 Jahre chinesisches Kino", wurde seine Retrospektive
nun "Die geheime Geschichte des asiatischen Kinos",
ein Titel, der angesichts des Programms auch nicht wirklich
glücklich gewählt ist - es sei denn, Müller
will hiermit eine regelmäßige Institution begründen.
Denn zu sehen sind nur chinesische und japanische Filme, nichts
aus den großen Kinoländern Korea und Thailand,
auch nichts aus anderen Filmnationen, und sogar das chinesische
Taiwan ist - gewiss aus politischen Gründen - ausgeschlossen.
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Film ohne den Blick auf die soziale und historische Wirklichkeit
ist auch in China nicht denkbar. Ein prächtiger Beleg
dafür ist SHIZI JIETOU (CROSSROADS) aus dem Jahr 1937,
der Hochzeit der Shanghaier Filmstudios. Zwei Mieter in einem
heruntergekommen Wohnblock, ihre Zimmer sind nur durch eine
dünne Holzwand getrennt. Ohne dass sie sich je gesehen
hätten, ärgern sie sich gegenseitig, lassen ihren
Frust über ihr ärmliches Leben aneinander aus -
und ahnen doch nicht, dass sie jeden Tag in der Straßenbahn
miteinander flirten. Beide sind Studenten, für die sich
das Versprechen eines besseren Lebens durch Bildung nach Abschluss
des Studiums noch nicht erfüllt hat - die ein Dasein
in Armut und ohne große Hoffnungen fristen. Die Geschichte
ist an ihren Rändern voller Beobachtungslust: Das junge
Mädchen unterrichtet die Arbeiter in der Fabrik, der
junge Mann wird Journalist und hat Erfolg mit Reportagen über
die Lage der Unterschichten und die Folgen der Arbeitslosigkeit
- bevor er selbst entlassen wird. Und irgendwann wird sich
natürlich auch das Paar finden.
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Regisseur Shen Xiling zeigt Großstadtschicksale der
30er Jahre und ist spürbar vom Kino der Weimarer Republik
beeinflusst: Eine melodramatisch aufgeladene, gewissermaßen
unschuldige neue Sachlichkeit, die den Neorealismus schon
vorbereitet - filmisches Lumpensammeln am Morgen des Revolutionstages.
Denn am Ende gehen vier Freunde Seite an Seite durch die Straße,
und treten ohne Geld und Hoffnung, aber voller Optimismus
ihren langen Marsch an: "Vorwärts, die Welt braucht
uns!" Und man stellt sich vor, wie es wohl mit ihnen
weitergegangen ist: Zehn Jahre später könnten sie
Politkommissare geworden sein, ihre Kinder bei den Roten Garden
marschieren, ihre Enkel demonstrierten vielleicht auf dem
Platz des Himmlischen Friedens.
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Den Stil dieser Shanghaier Melodramen zu imitieren, versuchte
Stanley Kwan mit EVERLASTING REGRET im Wettbewerb. Doch sein
Film, der nach einem Romanbestseller den Lebensweg einer Frau
von den späten 40ern bis in die frühen 80er nachzeichnet,
scheiterte an einer Stofffülle, die sich auch in zwei
Stunden nur mit zu großen Sprüngen und Brüchen
auf die Leinwand bringen lässt: Verschenkt wurden gute
Darsteller und ein prächtiges Set Design von Wong Kar-wei-Ausstatter
William Chang.
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Die meditative Eindacht, die konzentrierten kleinen Gesten,
und die Stille, die man im Westen gern mit China und chinesischem
Kino assoziiert - und die von manchen Filmen aus China auch
gern bedient wird - ist nämlich auch nur eine Manier,
eine kulturelle Anbiederungsgeste: Wenn man uns schon im Klischeekäfig
gefangen halten will, dann produzieren wir dieses Klischee
doch lieber gleich selbst. Auch der Hang zum Symbolismus ist
bei allen kulturellen Wurzeln vielleicht weniger chinesisch
als der Situation des Filmemachens unter strengster Zensur
geschuldet, in der man das Wesentliche, wenn überhaupt,
nur indirekt und auf metaphorischer Ebene aussprechen kann.
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Zum Beispiel der bisher beste Film aus China, Ning Yings
PERPETUOUS MOTION, ein Frauenportrait aus dem Peking der Gegenwart,
von dem wir demnächst noch mehr erzählen. Glänzend
in der Einfachheit, der Konsequenz, mit der hier erzählt
wird, trifft "Sex in the City in Peking" auf das
in China nach wie vor besonders aktuelle Thema der Identitätssuche
und des Nationbuilding. Was heißt es heute eigentlich,
chinesisch zu sein? Ironisch, knapp an der Zensur vorbei stellt
Ning die Generation der 45-Jährigen vor, die zwischen
Tradition und Moderne steht, die Enkelinnen von Wei Wei, die
selbstverständlich bei der Premiere auch dieses Films
im Kino saß.
Rüdiger Suchsland
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