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Venedig 2005 09.09.2005
 
 
Tagebuchnotitzen, 6. Folge
Houellebecq am Lido
WHERE THE TRUTH LIES
Ab in den Süden - VERS LE SUD von Laurant Cantet
 
 
 
 

Der Süden ist gefährlich, um das zu erfahren, muss man nicht nach Venedig fahren. Manchmal genügt dafür schon Bayern, und mit dem unproletarisierten Super-Edi hat das jetzt ausnahmsweise gar nichts zu tun, sondern damit, dass die klügsten Menschen der Republik jetzt - diese Nachricht bekam Kollege und WG-Mitbewohner Josef Schnelle aus der Heimat - ein Bier erfunden haben, dass 25 Prozent Alkoholgehalt hat. Schnelle, der außer Kölsch nur noch heimlich Prosecco trinkt, meinte noch verwundert: "Das kann man ja anzünden."

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VERS LE SUD, südwärts heißt auch der neue Film von Laurent Cantet, der vor drei Jahren mit L'EMPLOIS DU TEMPS einen der besten Filme des Festivals gedreht hatte. Eigentlich könnte er auch "vers le ouest" heißen, denn er spielt auf Haiti, aber seine Hauptfiguren sind gar keine Franzosen, sondern Amerikaner, also stimmt die Himmelsrichtung wieder. Und außerdem ist mit dem Titel, so verstehen wir ihn jedenfalls, eher die Idee des Südens gemeint, die das französische Kino in letzter Zeit schon öfters fasziniert hat, etwa vor einem Jahr in Claire Denis' großartigem L'INTRUS: Sonne, Strand, Hitze, Aussteigen, auch die Faszination für das Exotisch-Andere, für fremde Kulturen, fremde Haut. Schon wenn sich die - vor allem französischen - Schriftsteller des 19. Jahrhunderts auf Orientreise begaben, suchten sie im Schatten der Pyramiden nicht zuletzt dunkelhäutige Knaben und leichtbekleidete Mulattinnen. Heute heißt das schlicht Sextourismus und ist massentauglich geworden. Mit Moralismen und den tiefen Rinnen des Geschlechterdiskurses ist man da schnell zur Hand. Cantet versucht zumindest, es sich schwerer zu machen. Die Sextouristen in diesem Fall sind nämlich Frauen, die sich, selbst 40 Jahre und aufwärts, in Haiti den Sex holen, den sie daheim nicht bekommen. Und manchmal auch die Liebe, oder was sie dafür halten. Man mag es pessimistisch finden, aber es ist vielleicht nur genau beobachtet, wenn VERS LE SUD zeigt, dass es hier keine unschuldigen Verhältnisse gibt, dass Ausbeutung - ökonomische, sexuelle, kulturelle - Lebensbedingung ist - selbstverständlich auch bei den Haitianern untereinander. Der Film spielt übrigens in den 70er Jahren, als die Stunde der Komödianten und alle Graham-Greene-Romantik schon längst passé waren, aber noch die blutige, aber stabile Diktatur des "Baby Doc" Duvalier und seiner Tonton Macute-Schergen das Land dominierte - vor mehreren Umstürzen und der US-Invasion.

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Im Zentrum stehen aber die verschiedenen Frauen, vor allem zwei von ihnen, die sich in den gleichen Jüngling "verlieben." Treffend zeigt Cantet den Machismo, der auch unter Frauen verbreitet ist, die subtilen Hierarchien, die die Ordnung des Urlauberlebens bestimmen, und untersucht Tourismus als geistige Lebensform. "We all change, when we are here." sagt eine der Frauen. Unweigerlich denkt man an Szenarien aus Michel Houellebecqs Romanen. "Tourists never die", sagt ein Haitianer am Ende dieser impressionistischen Kino-Reise. Mit seinen einfachen, klar kadrierten Bildern, seinem Erzählen ohne große Mätzchen und einer gewohnt glänzenden Charlotte Rampling in der Hauptrolle katapultierte sich VERS LE SUD am Mittwoch schnell in die Reihe der Favoriten.

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Da gehörte eigentlich auch BACKSTAGE hin, liefe er nicht außer Konkurrenz - und sei es allein wegen seines furiosen Beginns, einem der besten des Festivals. Man befindet sich in einer französischen Vorstadtsiedlung, die auch aus einem Houellebecq-Roman stammen könnte. Erst glaubt man an den Sturm einer Polizeieinheit, dann merkt man: Es ist das Fernsehen, das hier eindringt. In irgendeiner TV-Trash-Show wird Teenager Lucie mit ihrem Lieblingsstar, der enigmatischen Popsängerin Lauren konfrontiert, eindrucksvoll und mit ikonischer Kraft als eine Mischung aus Debbie Harry und Patricia Kaas gespielt von Emmanuelle Seigner. Lucie, brillant portraitiert von Frankreichs Zukunftsstar Isild le Basco, bekommt eine Art Nervenzusammenbruch, und verbarrikadiert sich in ihrem Zimmer. Doch der Schock bewirkt eine noch größere Abhängigkeit von ihrem Star, und am nächsten Morgen, von einer "speziellen Beziehung" zwischen ihnen überzeugt, macht sie sich auf, um Lauren in ihrer Pariser Hotelsuite aufzusuchen. Das klappt nach einigem Hin und Her, und Lucie wird Teil des Zirkels aus Vertrauten, die den Star umgeben. Lauren befindet sich, das wird schnell klar, in noch weit schlechterem Zustand, als Lucie, ist überspannt, launisch, hysterisch, tablettensüchtig und paranoid - ständig am Rande des Nervenzusammenbruchs. BACKSTAGE, das Debüt der Schauspielerin Emmanuelle Bercot, ist ein dichtes, überraschend souverän inszeniertes Portrait von Starrummel und Fan-Dasein, auf angenehme Art trashy - vor allem scheren sich französische Liederautoren offenkundig nicht um Kitsch. Der Film wirft einen genauen Blick unter die Oberfläche des Glamours, der auch größere Teile dieses Filmfestivals prägt. Intelligentes, anspruchsvolles, über weite Strecken bezauberndes Kino.

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Auf die Franzosen ist also nicht nur in qualitativer Hinsicht - erinnern wir auch an Chereaus GABRIELLE, der immer noch unsere subjektiven Charts anführt - wieder einmal Verlass. Sie sorgen auch aufs Neue für ein bisschen expliziten Sex in den Festivalfilmen. Ein kleiner Nachtrag daher noch zu GABRIELLE. Interessant, wie der Film auch seine Anhänger spaltet: Hält man es nun mit dem gehörnten Ehemann, der leider vor Selbstgerechtigkeit strotzt und seine Frau am Ende des Films auf der Treppe vergewaltigt, und bezeichnet wie Kollege Schnelle Isabelle Huppert und daher auch Gabrielle als "kalten Fisch", oder sieht man, wie wir, wie auch Kollegin Julia Teichmann, hinter der kühlen Fassade eher ein Opfer?

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Darüber lässt sich lange streiten, etwa beim inoffiziellen Treffen der deutschen Filmkritiker in der Via Scutari. Das Treffen im Garten eines schönen Hauses ist zwar rein privat, hat aber schon soviel Tradition, dass manch ein Großkritiker todbeleidigt war, weil ihn keine Einladung erreicht hatte. "Ich fand ihn schon immer so, wie er jetzt ist", kommentierte einer der Gastgeber am nächsten Tag griesgrämige Blicke. Aber vielleicht hätte der Filmredakteur, statt allein seinem Charme zu vertrauen, den Gastgebern einfach in letzter Zeit mehr Aufträge geben sollen…

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Da stand sie am Lido im Sonnenschein und lächelte, parlierte fließend auf Englisch, machte dazu mit ihrer Hand wohlgestalte Bewegungen, die ein bisschen wie die Gunstbezeugungen einer Königin aussahen - 83 Jahre alt und eine noch ziemlich rüstige Dame ist Wei Wei heute, und sichtlich genoss sie diesen Moment. Kaum einer kennt sie im Westen, aber sie beim Festival von Venedig zu sehen, das ist eigentlich, als ob man Greta Garbo oder Anna Magnani noch einmal leibhaftig begegnen könnte. Denn Wei Wei ist, trotz - oder doch wegen? - ihrer nur 15 Filme eine der, vielleicht gar "die" Ikone des chinesischen Kinos, gefeiert zuletzt noch von jüngeren modernen Regisseuren wie Wong Kar-wei oder Stanley Kwan.

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Nun ist Wei Wei einer der Stargäste des Festivals. In der Retrospektive präsentiert sie SPRINGTIME IN A SMALL TOWN, in dem sie 1947 selbst die Hauptrolle spielte. Der Film ist ein Klassiker des chinesischen Kinos, eine Ehedrama, zugleich das Portrait einer desillusionierten Nachkriegsgeneration, in dem die Schrecken von Bürgerkrieg und japanischer Besatzung nachklingen, und die folgenden bleiernen Jahrzehnte unter Mao schon zu ahnen sind. Regisseur Fei Mu (1906-1951), der überhaupt nur drei Filme gedreht hat, gilt als einer der Meister der chinesischen Filmgeschichte - sein letzter Film ist zugleich ein Schwanengesang der großen Filmindustrie von Shanghai. Mit Maos Machtantritt ging sie unter, viele bedeutende Filme wurden während der Kulturrevolution zerstört, andere harren in den Regierungskellern ihrer Wiederentdeckung. Ein Schritt dahin ist die Venezianer Retrospektive, in der die Filme in frischrestaurierten Fassungen gezeigt werden.

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Vom Venezianer Festivalleiter Marco Müller, einem studierten Sinologen und einstigen Maoisten, erzählt man hier, er sei auch irgendwann einmal für ein paar Monate aufs - italienische - Land gezogen, um "von den Landarbeitern zu lernen". Ursprünglich einmal angekündigt als "100 Jahre chinesisches Kino", wurde seine Retrospektive nun "Die geheime Geschichte des asiatischen Kinos", ein Titel, der angesichts des Programms auch nicht wirklich glücklich gewählt ist - es sei denn, Müller will hiermit eine regelmäßige Institution begründen. Denn zu sehen sind nur chinesische und japanische Filme, nichts aus den großen Kinoländern Korea und Thailand, auch nichts aus anderen Filmnationen, und sogar das chinesische Taiwan ist - gewiss aus politischen Gründen - ausgeschlossen.

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Film ohne den Blick auf die soziale und historische Wirklichkeit ist auch in China nicht denkbar. Ein prächtiger Beleg dafür ist SHIZI JIETOU (CROSSROADS) aus dem Jahr 1937, der Hochzeit der Shanghaier Filmstudios. Zwei Mieter in einem heruntergekommen Wohnblock, ihre Zimmer sind nur durch eine dünne Holzwand getrennt. Ohne dass sie sich je gesehen hätten, ärgern sie sich gegenseitig, lassen ihren Frust über ihr ärmliches Leben aneinander aus - und ahnen doch nicht, dass sie jeden Tag in der Straßenbahn miteinander flirten. Beide sind Studenten, für die sich das Versprechen eines besseren Lebens durch Bildung nach Abschluss des Studiums noch nicht erfüllt hat - die ein Dasein in Armut und ohne große Hoffnungen fristen. Die Geschichte ist an ihren Rändern voller Beobachtungslust: Das junge Mädchen unterrichtet die Arbeiter in der Fabrik, der junge Mann wird Journalist und hat Erfolg mit Reportagen über die Lage der Unterschichten und die Folgen der Arbeitslosigkeit - bevor er selbst entlassen wird. Und irgendwann wird sich natürlich auch das Paar finden.

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Regisseur Shen Xiling zeigt Großstadtschicksale der 30er Jahre und ist spürbar vom Kino der Weimarer Republik beeinflusst: Eine melodramatisch aufgeladene, gewissermaßen unschuldige neue Sachlichkeit, die den Neorealismus schon vorbereitet - filmisches Lumpensammeln am Morgen des Revolutionstages. Denn am Ende gehen vier Freunde Seite an Seite durch die Straße, und treten ohne Geld und Hoffnung, aber voller Optimismus ihren langen Marsch an: "Vorwärts, die Welt braucht uns!" Und man stellt sich vor, wie es wohl mit ihnen weitergegangen ist: Zehn Jahre später könnten sie Politkommissare geworden sein, ihre Kinder bei den Roten Garden marschieren, ihre Enkel demonstrierten vielleicht auf dem Platz des Himmlischen Friedens.

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Den Stil dieser Shanghaier Melodramen zu imitieren, versuchte Stanley Kwan mit EVERLASTING REGRET im Wettbewerb. Doch sein Film, der nach einem Romanbestseller den Lebensweg einer Frau von den späten 40ern bis in die frühen 80er nachzeichnet, scheiterte an einer Stofffülle, die sich auch in zwei Stunden nur mit zu großen Sprüngen und Brüchen auf die Leinwand bringen lässt: Verschenkt wurden gute Darsteller und ein prächtiges Set Design von Wong Kar-wei-Ausstatter William Chang.

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Die meditative Eindacht, die konzentrierten kleinen Gesten, und die Stille, die man im Westen gern mit China und chinesischem Kino assoziiert - und die von manchen Filmen aus China auch gern bedient wird - ist nämlich auch nur eine Manier, eine kulturelle Anbiederungsgeste: Wenn man uns schon im Klischeekäfig gefangen halten will, dann produzieren wir dieses Klischee doch lieber gleich selbst. Auch der Hang zum Symbolismus ist bei allen kulturellen Wurzeln vielleicht weniger chinesisch als der Situation des Filmemachens unter strengster Zensur geschuldet, in der man das Wesentliche, wenn überhaupt, nur indirekt und auf metaphorischer Ebene aussprechen kann.

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Zum Beispiel der bisher beste Film aus China, Ning Yings PERPETUOUS MOTION, ein Frauenportrait aus dem Peking der Gegenwart, von dem wir demnächst noch mehr erzählen. Glänzend in der Einfachheit, der Konsequenz, mit der hier erzählt wird, trifft "Sex in the City in Peking" auf das in China nach wie vor besonders aktuelle Thema der Identitätssuche und des Nationbuilding. Was heißt es heute eigentlich, chinesisch zu sein? Ironisch, knapp an der Zensur vorbei stellt Ning die Generation der 45-Jährigen vor, die zwischen Tradition und Moderne steht, die Enkelinnen von Wei Wei, die selbstverständlich bei der Premiere auch dieses Films im Kino saß.

Rüdiger Suchsland

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