Tränen, politische Rauchschwaden und die Sehnsucht nach
Cinephilie: GRBAVICA gewinnt auf der 56. Berlinale - eine
erste Festival-Bilanz.
GRBAVICA von der bosnischen Filmemacherin Jasmila Zbanic
ist der nicht völlig überraschende, aber am Ende
doch unerwartete Gewinner des diesjährigen Goldenen Bären
von Berlin. In einem guten Berlinale-Wettbewerb, der keine
ganz schwachen, aber auch kaum überragende Filme zeigte,
und vor allem künstlerisch nichts Neues brachte, bildet
dieses Werk einen recht repräsentativen Kompromiß.
Weder ist es wirklich ästhetisch bedeutend, noch politisch
so unbequem wie Michael Winterbottoms THE ROAD TO GUANTANAMO,
der immerhin den Regiepreis bekam.
+++
Eindimensional, aber bewegend erzählt GRBAVICA von einer
Mutter, die ihrer Tochter vorgaukelt, der verstorbene Vater
sei ein Kriegsheld, während diese in Wahrheit die Frucht
einer Vergewaltigung während des Bürgerkriegs ist.
Der Film wurde in Österreich vom international überaus
renommierten "Coop99"-Kollektiv produziert, dessen
eigene Filme - NORDRAND, BÖSE ZELLEN von Barbara Albert,
LOVELY RITA und HOTEL von Jessica Hausner - allerdings stilistisch
weitaus präziser und innovativer sind. Doch richtigen
Erfolg hat "Coop99" immer mit Filmen, die, wie Weingartners
DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI, gar nicht den eigenen Vorlieben
entsprechen.
+++
GRBAVICA ist wieder ein Fall jener Filme, denen es im Zweifel
um Tränen und Moral geht, um schlimme Dinge in fernen
Ländern, die man heute sowieso nicht mehr ändern
kann, nicht aber um wirklich brennende Aktualität. "Small
Country, small Budget, small movie" jubelte sogar die
Regisseurin freudestrahlend auf der Bühne - womit sie
vielleicht die Erwägungen der Jury präzis auf den
Punkt brachte, aber gewiss nicht die Kriterien für einen
der wichtigsten Filmpreise. Und manch einer fragte am Samstagabend,
ob der Westen nicht besser Karadzic endlich vor Gericht zwingen
sollte, als sich mit Preisen wie diesem ein gutes Gewissen
zu verschaffen.
+++
Etwas anders liegen die Dinge bei dem iranischen OFFSIDE
("Grosser Preis der Jury"). Im Gegensatz zu Jasmila
Zbanic zwingt Regisseur Jafar Panal seine Zuschauer immer
dazu, selbst eine Position einzunehmen. Man verfolgt eine
Gruppe junger Mädchen, die sehnsüchtig versuchen,
ins Fußballstadion von Teheran zu kommen, wo gerade
das entscheidende WM-Qualifikationsspiel läuft. Frauen
sind Stadienbesuche durch die Sittenpolizei der Mullahs streng
verboten. Mit Leidenschaft und guter Laune erzählt der
Film davon, was in den Köpfen echter Fußballfans
vorgeht, aber er lässt dem Zuschauer auch kaum Illusionen
über den repressiven Alltag im Iran. Doch immer bleiben
verschiedene Lesarten möglich: Idyllisiert OFFSIDE -
am Ende geht alles gut aus, wird die Einheit der Nation im
Fußballrausch beschlossen, läuft überm Abspann
die Nationalhymne - nun die Zustände im Iran und macht,
indem er die menschliche Maske des Fundamentalismus zeigt,
indirekt Propaganda für den Gottesstaat? So argumentierten
manche auf der Pressekonferenz zum Film. Oder zeigt OFFSIDE
gerade soviel Kritik, wie man unter Zensurbedingungen aus
dem Iran zeigen kann?
+++
Die deutschen Filmemacher können mit drei Preisen mehr
als zufrieden sein. Jedenfalls numerisch. Im Gegensatz zum
Silberbär für Jürgen Vogel - in seiner Dreieinigkeit
als Produzent, Autor, Schauspieler von DER FREIE WILLE - und
für Sandra Hüllers fulminantes Debüt, bleibt
der Preis für Moritz Bleibtreu das Geheimnis der Jury.
Weitaus angemessener wäre ein Preis für Hans Christian
Schmids Regieleistung in REQUIEM gewesen. Mit Valeska Griesebachs
neosymbolistischem SEHNSUCHT ging auch der einzig ästhetisch
radikale Film des Wettbewerbs leer aus.
+++
So kann Berlinale-Chef Dieter Kosslick mit der diesjährigen
Berlinale zufrieden sein; zur Euphorie besteht aber kein Anlass.
Nach zwei miserablen Jahren und viel Kritik an der Filmauswahl
hat sich die Berlinale konsolidiert. Die Stimmung war besser,
auch wegen einer cleveren Dramaturgie, die die stärksten
Filme überwiegend an den Anfang platzierte und mit stargemästetem
Hollywoodkino umkränzte - das nur außer Konkurrenz
antrat. Trotzdem konnte auch organisatorische Tünche
nicht verbergen, dass Berlin nach wie vor stark darunter leidet,
viele Filme nicht zu bekommen - während die Konkurrenz
aus Cannes ihre ersten Einladungen boshaft kurz vor Berlinale-Start
veröffentlichte.
Zudem hat Kosslicks Hätscheln der Deutschen - über
50 von rund 400 Filmen aller Sektionen kamen aus dem eigenen
Land - auch den Nachteil, das anderes vernachlässigt
wird. Das traf vor allem die Franzosen: Erstmals seit über
zehn Jahren gab es nur einen französischen Wettbewerbsfilm,
auch sonst war der Nachbar schwach vertreten. Das zweite Opfer
ist Asien: War Berlin unter Kosslicks Vorgänger de Hadeln
noch Europas Zentrum dieser wichtigsten Region des Weltkinos,
gab es 2006 wenig aus China und noch weniger aus Japan - eine
lächerliche, wohl persönlichen Vorlieben geschuldete
Ignoranz, die den Film-Standort Berlin schwächt. Denn
die Filme sind da, sie liefen im Januar in Rotterdam oder
werden im Mai in Cannes gezeigt. Und hervorragende Filme aus
China und Korea waren statt im Wettbewerb im Forum zu sehen:
Den Stilwillen von Zhang Mings kühl-bezwingende Antonioni-Hommage
BEFORE BORN vermisste man dort ebenso wie den Zauber von IN
BETWEEN DAYS von So Yong Kim, der von nichts erzählt
als vom Alltag einer Studentin, dies aber in einer kristallklaren
direkt inszenierten Weise, die den Zuschauer wie weniges berührt
und von der ersten Sekunde an gefangen hält. Gerade das
Forum glänzte nach schwächeren Jahren diesmal mit
einer konzentrierten, konzisen Auswahl, zu der auch einige
der besten deutschen Filme gehörten, und fand zu gewohnter
Stärke zurück.
+++
So galt auf der diesjährigen Berlinale einmal mehr:
Der Wettbewerb ist nicht durchweg "must see"; echte
Entdeckungen macht man im Forum. Das kann aber nicht das Ziel
aller Wünsche bei einem Festival wie diesem sein. Während
Kosslicks Verkaufstalent und organisatorische Stärke
unbestritten sind, und er seine inhaltliche Handschrift -
politischer Moralismus, eine Verbindung aus gutem Gefühl
und aktuellem Manifest - vom ersten Tag an gefunden hatte,
fehlt der Berlinale auch im fünften Jahr unter seiner
Leitung die künstlerische Linie. Kompromissloser Stil
und ästhetische Haltung, Intensität und spürbare
cinephile Leidenschaft aber sind es, die vor der Filmgeschichte
Bestand haben, wenn die politischen Rauchschwaden längst
verzogen sind.
Rüdiger Suchsland
|