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21.09.2006
 
 
       
artechocks kleines Bestiarium der Kinogeher
Folge 10: Der Bildungsbürger
     
 
 
 
 

Die Annahme, dass auffällige Kinogeher ausschließlich der gesellschaftlichen und intellektuellen Mittel- oder Unterschicht angehören, ist falsch. Das beweist unter anderem die Spezies des Bildungsbürgers.

Der Bildungsbürger verachtet Multiplexkinos, Popcorn, Cola und die zugehörigen massenwirksamen (vorwiegend amerikanischen) Mainstreamfilme. Er bevorzugt anspruchsvolle (überwiegend nicht-amerikanische) Kunstfilme in heimeligen Programmkinos, die Getränke in Gläsern und nicht in Flaschen verkaufen.

Bereits vor Filmbeginn kann man ihn und seine Begleitung oft schon erkennen, da er sich mit 90prozentiger Sicherheit über vergangene oder bevorstehende Reisen (deren Ziel wiederum mit 90prozentiger Wahrscheinlichkeit Italien ist) unterhält. Lauscht man diesem Gespräch ein wenig, erkennt man, dass der Bildungsbürger nicht nur gebildet, sondern auch belesen, weitgereist, kulturell sehr interessiert und in Geschmacksfragen äußerst kompetent ist. Im Lauf des folgenden Films wird er dies eindrucksvoll unter Beweis stellen.

Zuvor gilt es für den Bildungsbürger aber erst die Hürde der Werbung zu nehmen. Die Produkte (Boulevard-Zeitungen, Zigaretten, Erfrischungsgetränke, etc.), die hier beworben werden und die Art wie dies gemacht wird, stößt bei ihm auf die gleiche Ablehnung, wie manche der darauf folgenden, hektischen Kinotrailer für einen angekündigten Hollywoodfilm. Der Bildungsbürger kommentiert dies mal angewidert, mal süffisant, mal mitleidig, verpackt in vermeintliche Bonmots und Apercus.

Zufriedenheit macht sich bei ihm breit, wenn all diese Profanität überstanden ist und er mit Beginn des Hauptfilms endlich sein über Jahre mühsam erworbenes Wissen, das im Alltag viel zu selten Anwendung findet, hier endlich auf ein konkretes Ziel richten kann. Die Devise bei der Betrachtung des Films lautet dabei "Erkennen, erinnern, erläutern", was sich dann ungefähr so äußert:

"Ist das nicht die Piazza di Trevi in Rom? Aber natürlich und gleich nebenan die Via Poli, in der wir 1986, 1992, 1999 und 2001 immer in diesem versteckten, kleinen Lokal gegessen haben. Mit dem freundlichen Kellner, der immer einen Grappa spendiert hat."

"Oh und dieser wunderbare Schauspieler, das ist doch Bruno Ganz. In dem Wenders Film DER AMERIKANISCHE FREUND war er hervorragend. Ein ganz Großer natürlich vor allem auf der Bühne, Träger des Ifflandrings, unvergessen als Franz Moor in Zadeks Inszenierung von 'Die Räuber'. Als Hitler in DER UNTERGANG war er beeindruckend, auch wenn der Film dem Buch von Joachim Fest nicht gerecht wird."

"Die trinken einen Chateau Leoville Barton, das Etikett ist unverkennbar. Letztes Jahr erst einen 1990er davon getrunken, große Klasse. Der 2005er ist leider unbezahlbar."

"Das Musikstück ist von Arvo Pärt. Ganz bekannt, heißt 'Spiegel im Spiegel'. Die Aufführung vor drei Jahren in Luzern war fürchterlich, der Pianist vollkommen überfordert. Pärt ist ja einer der wenigen ganz modernen Komponisten, die man noch anhören kann."

"Diese starken Frauenrollen sind absolut typisch für Almodovar. Das war schon in seinen frühen Filmen so, wie bei FRAUEN AM RANDE DES NERVENZUSAMMENBRUCHS. Carmen Maura spielt solche Rollen einfach am besten."

Nicht zu vergessen: "Die Kommode ist ganz eindeutig Louis XV; das Zitat stammt von Tennessee Williams; das Bild im Hintergrund ist von Francis Bacon; der Taxifahrer sieht aus wie Gabriel Garcia Marquez; das Haus erinnert an den Stil von Frank Lloyd Wright; die Kostüme sind sicher von Gaultier; die selbe Einstellung gibt es auch in 8 ½ von Fellini; diese Szenerie erinnert stark an Hieronymus Bosch; das ist kein Ferrari sondern ein Maserati; die Stimmung des vorrevolutionären Paris ist sehr präzise eingefangen; das ist Naxos..."

Als unfreiwilliger Zuhörer kann man hier nur staunen. Staunen über die profunde Kenntnis auf so vielen Gebieten. Staunen über diese unglaubliche Lebenserfahrung. Staunen über eine solch weitgestreute Bildung. Staunen, dass der Bildungsbürger trotzdem in dem Film kein sich selbst erklärendes Kunstwerk, sondern ein (bewegtes) Bildersuchrätsel sieht.

Dass ihm sein ungeheures Wissen hin und wieder die Sicht auf den eigentlichen Kern des Films verstellt, stört ihn dabei kaum und es gilt: Wir müssen uns den Bildungsbürger als einen glücklichen Menschen vorstellen.

Michael Haberlander

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