Jedes Kulturverständnis und somit auch das Verstehen von Film ist erlernt und nicht naturgegeben. Üblicherweise erlernt man die hierzu notwendigen Fähigkeiten (wie so vieles andere auch) ganz nebenbei in der Kindheit und mit ähnlicher Selbstverständlichkeit, mit der man fortan etwa die komplizierte Grammatik der Muttersprache fehlerfrei anwendet, akzeptiert man auch die Gesetzmäßigkeiten des Kinos.
Manchen Menschen aber gelingt dieses Aneignung (aus welchen Gründen auch immer) nicht oder nicht vollständig. Zu ihnen zählt der Fragensteller. Im Gegensatz zu den meisten Zuschauern fehlt dem Fragensteller eine fundamentale Grundvoraussetzung für den Kinobesuch: Vertrauen in den Film.
Als Zuschauer vertrauen wir unbewusst darauf, dass nach und nach alle relevanten Fragen im Film geklärt werden. Wer war wer und wer hat was getan und warum. Nur selten wird dieses Vertrauen enttäuscht und wenn doch, steckt in der Regel Absicht oder Unfähigkeit des Filmemachers dahinter. Der Fragensteller aber will sich darauf nicht verlassen, weshalb er seine bedauernswerte Kinobegleitung mit Fragen konfrontiert, die (und das grenzt ihn vom üblichen nachfragenden Kinogeher ab) in der Regel (noch) nicht zu beantworten sind.
"Warum wurde der Mann ermordet?", fragt der Fragensteller nach einem Mord in der ersten Filmminute und will gerade das wissen, was der Film in den kommenden 90 Minuten in der Schilderung von Beziehungen, Ereignissen und Motivationen erklären wird. "Wer hat den Mann umgebracht?", fragt der Fragensteller und ignoriert dabei das Konzept ganzer Genres wie dem klassischen Krimi-Whodunit, die ihren Reiz daraus ziehen, Fragen zu beantworten, die sie selber aufgeworfen haben. "Warum hat der das gemacht?", fragt der Fragensteller, obwohl manche Filme eindeutige Erklärungen schuldig bleiben müssen, da gewisse Themen zu komplex sind, um sie endgültig und noch dazu in einem Spielfilm zu erklären. "Was bedeutet das?", fragt der Fragensteller und scheint zu Glauben, dass es selbst in der Kunst auf alles eine Antwort gibt. Doch wie sagte David Lynch einmal: "Alle wollen wissen, wofür der "rote Raum" in Twin Peaks steht (...) Ich weiß es selbst nicht so genau. (...) Selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht erklären, was er bedeuten, denn Intuition ist irrational."
"Wer ist das?", fragt der Fragensteller wenn eine neue Person auftritt und nicht sofort vorgestellt wird. Niemanden sonst im Publikum stört dies, da ja oft Spannung oder Komik daraus entstehen, eben nicht zu wissen, wer das ist und wie er in das Geschehen passt. "Wie geht es jetzt weiter?", will der Fragensteller wissen und wieder müsste man in die Zukunft blicken, um ihm antworten zu können. Zu erwidern: "Das wirst du schon sehen!", heißt das Wesen des Fragenstellers nicht zu verstehen, denn ihn plagt nicht die Ungeduld, sondern ein tiefsitzendes Misstrauen.
Unklar bleibt, ob der Fragensteller trotz seiner Besonderheit Gefallen an Filmen findet. Da er regelmäßig in Kinos anzutreffen ist, scheint er nicht all zu sehr darunter zu leiden.
Fragen nach Ende des Films über das wer, wie, was und warum deuten dagegen selten auf einen Fragensteller hin. Solche Fragen haben ihre Ursache entweder in einem schlechten Film oder mangelnder Aufmerksamkeit bzw. Überforderung des Zuschauers.
Das Gegenstück zum Fragensteller ist der Geschwätzige Habichschongesehen (bzw. ganz schlimm der Habichschonvorwochengesehen). Obwohl die beiden Arten eine perfekte Symbiose ergeben würden, treten sie erstaunlicherweise nie zusammen auf.
Im Umgang mit bedingungslosen Cinephilen sollte für den Fragensteller das bekannte Motto aus Lohengrin gelten: Nie sollst du mich befragen!
Michael Haberlander
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