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18.01.2007
 
 
       
artechocks kleines Bestiarium der Kinogeher
Folge 12: Die Platzhalterin
     
 
 
 
 

Zu den wenigen rein weiblichen Kinogeherarten (vgl. Folge 3 – Die Empathische) gehört die sich in zwei Unterarten gliedernde Platzhalterin.

Ihre erst Unterart erkennt man in Kinos ohne Sitzplatzreservierung vor dem Filmbeginn an einem scheinbar unmäßigen Platzbedarf.
Mit Kleidungsstücken, Taschen, Zeitschriften und sonstigen Utensilien belegt die Platzhalterin drei, vier oder mehr zusätzliche Sitzplätze in ihrer Reihe.
Schnell wird klar, dass dies nicht Ausdruck einer sozialen Phobie ist, sondern der Reservierung dieser Plätze dient. Die Platzhalterin wurde von einer Gruppe vorgeschickt, um trotz fehlender Platzkarten die gewünschten Sitze zu sichern.

Bei genauer Betrachtung stellt man fest, dass sich die Platzhalterin in ihrer Situation und Funktion nicht wohl fühlt. Obwohl an und für sich ein zurückhaltender, durchsetzungsschwacher Mensch, muss sie hier heldenhaft gegen zahlreiche, mit zunehmender Platzbelegung immer aggressiver werdenden, Okkupationsversuchen anderer Kinogeher ankämpfen. Die Anfragen steigern sich dabei von einem netten "Ist hier noch irgendwas frei?" über ein genervtes "Ist das alles reserviert?" zu einem unmissverständlichen "Kannst du mal deine Tasche da weg tun!"

Mehr als den Unmut dieser platzsuchenden Kinogeher fürchtet die Platzhalterin aber ihrer vertrauensvollen Aufgabe nicht gerecht zu werden, weshalb sie alle Anfragen freundlich aber so bestimmt als möglich ablehnt, gegebenenfalls ein entschuldigendes "Sorry" hinterherschickt und dann einmal mehr den Kopf nach hinten dreht, um nach der von ihr erwarteten Gruppe Ausschau zu halten.
Diese alle 30 Sekunden wiederholte Übung könnte sie sich eigentlich ersparen, da ihre (überwiegend männlichen) Bekannten grundsätzlich erst eine Minute vor Filmbeginn das Kino gut gelaunt, laut feixend, mit einem frischen Getränk in der Hand, betreten. Endlos kann man darüber rätseln, was sie wohl so lange aufgehalten haben mag.

Falsch wäre es jetzt, neugierig diese Gruppe in Augenschein zu nehmen. Vielmehr sollte man weiterhin aufmerksam die Platzhalterin beobachten, denn auf ihrem Gesicht sind in den kommenden Sekunden mehr Emotionen zu erkennen, als möglicherweise im gesamten nachfolgenden Film.
Zweifel, Erkennen, Freude und schier grenzenlose Erleichterung durchfahren die wild winkende Platzhalterin, die von der Gruppe mit einer gewissen Beiläufigkeit begrüßt wird.
Dass ihre Aufgabe keine adäquate Würdigung erfährt, erkennt man an den Kommentaren ihrer Begleiter, etwa an den nach Filmende an sie gerichteten Sätzen: "Ach hallo Moni, bist du auch da?! Ich hab dich gar nicht gesehen."

Die zweite Platzhalterin-Unterart trifft im Kino verhältnismäßig spät ein und wird selten von einer Gruppe, sondern meist von einem einzigen Mann begleitet.
Da das Platzangebot zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich eingeschränkt ist, überblickt die Platzhalterin den Kinosaal und beginnt mit entsprechendem Fingerzeig und Worten wie "Da drüben sind noch zwei" oder "Weiter vorne wäre noch was frei" ihrem Begleiter mögliche Sitzoptionen vorzuschlagen.

Dieser legt meist eine ähnliche Haltung wie beim gemeinsamen Hosenkauf an den Tag, was vereinfacht gesagt einem genervten Desinteresse mit eingestreuter destruktiver Kritik entspricht ("Ist mir egal, wo wir sitzen. Nein, nicht so weit hinten").

Sind endlich passende Sitzplätze bestimmt, beginnt die Platzhalterin mit der beliebten Cineasten-Rochade. Vorsichtig tritt sie an die fragliche Reihe heran, klärt mit kurzen Zurufen und nicht immer eindeutigen Handzeichen den Belegungsstatus verschiedener Plätze und richtet dann mit einem freundlichen Lächeln ihr Wort an einzelne, meist männliche Kinobesucher: "Wenn Sie einen Platz weiter rücken könnten und der Herr da drüber nach links rutsch, das wäre echt super." Meist gelingt unter leisem Murren der Betroffenen dieses Manöver und zwei Plätze in bester Lage werden frei.
Erkundigt sich die Platzhalterin nach dem Setzen bei ihrem Begleiter nach seiner Meinung zu der Sitzposition, gilt ein knappes "Passt schon" als Maximum der positiven Zustimmung.

Ähneln sich die beiden Arten der Platzhalterin auch kaum, so erkennen sie bei einem Aufeinandertreffen doch intuitiv ihre Zugehörigkeit zur gleichen Familie, weshalb zwischen ihnen keine Konflikte entstehen und Begegnungen auffällig harmonisch ablaufen.
"Entschuldigung, sind hier vielleicht noch zwei Plätze frei?"
"Nein, tut mir leid, da kommt noch jemand. Sorry".
"Kein Problem."
"Aber ich glaube da drüben sind noch zwei frei."
"Super, danke."
"Gerne."

Michael Haberlander

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