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01.06.2006
 
 
       
artechocks kleines Bestiarium der Kinogeher
Folge 14: Der Spontane
     
 
 
 
 

Von allen Arten, die den leidenschaftlichen Kinogeher mit Verwunderung und Unverständnis zurücklassen, ist der Spontane einer der Unbegreiflichsten.

Für den Cineasten kann ein Kinobesuch bereits Monate vor der eigentlichen Vorstellung beginnen. Ausgehend von ersten, neugierig machenden Pre-Production-Infos, verfolgt der Kinofreund die Entstehung des Films, seine ersten Aufführungen auf Festivals, die ankündigenden Trailer, die vorauseilenden Kritiken. Ist der Film schließlich im Kino gestartet und die bisher gesammelten Informationen haben nach reichlichem Abwägen einen überwiegend positiven Eindruck hinterlassen, gilt es noch gewissenhaft zu prüfen, welche Vorführung in welchem Kino die beste ist.
Steht der Cineast dann endlich in der Schlange vor der Kinokasse, muss er oft mit Erschrecken feststellen, dass es Menschen gibt, die bei der Auswahl ihres Kinovergnügens bedeutend leichtfertiger als er entscheiden.

Diese Exemplare aus der Spezies der Spontanen treten vor den Kartenverkäufer und stellen vorab die für den Cineasten schier unglaubliche Frage: "Was läuft denn gerade?"
Die Erwiderung des Kassenangestellten fällt meist knapp und sachlich aus: "Im Kino 1 THE GOOD GERMAN, im Kino 2 MITTEN INS HERZ und in 10 Minuten im Kino 3 der Film 300".

"Hmm...", macht der Spontane, runzelt nachdenklich die Stirn und fragt weiter: "Worum geht's denn in den Filmen?"
Spätestens hier möchte der Cineast laut schreien. Versteht er gerade noch, dass manche Menschen keine Lust haben, sich mit umfangreichen Programmzeittafeln auseinander zu setzen oder sich aus rein praktischen Gründen spontan für einen Filmbesuch entscheiden, so hält er es doch für schlichten Wahnsinn, sich einen Film anzuschauen, von dem man nicht das Geringste weiß.

An diesem Punkt des Verkaufsgesprächs zeigt sich dramatisch die Uninformiertheit bzw. die Unfähigkeit / der Unwille zur Kommunikation zahlreicher Kinoangestellter, weshalb brutalst mögliche Kurzbeschreibungen folgen:
"Der im Kino 1 ist mit George Clooney, irgendwas über den Krieg, der im Kino 2 ist eine Komödie mit Hugh Grant, der 300 ist glaube ich eine Comicverfilmung."

"Hmm...", macht der Spontane wieder und sucht vielleicht bei seiner Kinobegleitung mit den Worten "Und was meist du?" nach Entscheidungshilfe. Dummerweise lautet die Antwort der ähnlich unwissenden und gleichgültigen Begleitung mit 90prozentiger Wahrscheinlichkeit:
"Weiß nicht. Mir egal. Entscheid' du mal."

Setzt der Spontane seine peinliche Befragung des Kassenangestellten schließlich mit der Frage "Und, welcher ist gut?" fort, legt damit auf das Urteil eines gelangweilten 17jährigen mit Gesichtspiercing mehr Wert, als auf die Aussagen von zwei Dutzend professionellen Filmkritiken, die jederzeit im Internet abrufbar sind, ist der Punkt erreicht, an dem der Filmliebhaber erwägt, seinen bisher tapfer gehaltenen Platz in der Schlange aufzugeben und am nächstmöglichen Alkoholausschank nach Linderung seiner Pein zu suchen.

Wenn die Einschätzungen des Angestellten ("Ja, sind alle gut. Der eine ist halt lustiger.") nicht zu einer abschließenden Urteilsfindung ausreichen, entscheidet sich der Spontane meist nach den profanst möglichen Gesichtspunkten, etwa:
"Ich nehme den, der am frühesten anfängt / aufhört.", "Hugh Grant ist glaube ich ganz O.K.", "Welcher läuft denn im größten Saal?" oder "Das Plakat schaut ganz gut aus."

Unklar bleibt, ob der Spontane seinen derart zustande gekommenen Filmbesuch genießt. Einerseits kann jemand ohne jegliche Erwartungshaltung auch nicht enttäuscht werden. Andererseits besteht doch die nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit, dass er in einem Film landet, der überhaupt nicht seinem Geschmacksempfinden entspricht. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass er eines solchen Empfindens grundsätzlich ermangelt.

Dem Cineast bleibt nur die erbauliche Spekulation darüber, in welchem Ausmaß der Spontane von einem bestimmten Film überrascht, schockiert oder verstört wird.
Wie wird es etwa den beiden älteren Damen ergangen sein, die vor der Vorführung von BROKEBACK MOUNTAIN folgenden, authentisch überlieferten Dialog führten:
"Ist denn das ein lustiger Film?"
"Ja, ich glaube schon."

Michael Haberlander

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