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Smaller than life: die neuen Kleider des europäischen
Autorenfilms und die Deutschen als Franzosen
Es ist schön in Cannes. Man muss das einmal betonen,
denn mitunter klingen die journalistischen Berichte an die
Heimat ja wie Krankenakten. In den Vorjahren litten vor allem
die Hamburger Kollegen, Lars-Olav Baier vom SPIEGEL etwa,
unter dem Wetter, weswegen man ihn diesmal prompt in die Certain-Regard-Jury
gesteckt hat, und Herrn Teichmann vom Stern ging es nicht
viel besser - was vielleicht auch damit zu tun hatte, dass
er für ein Ressort arbeitet, das "kultur & unterhaltung"
heißt. Diesmal muss man vor allem mit dem Kollegen einer
unallgemeinen Frankfurter Zeitung Mitleid haben. Vielleicht
sollte er seinen Chefredakteur bitten, ihn gar nicht mehr
hier hinzuschicken - so schlecht wie es ihm hier geht, mit
den ganzen furchtbaren Filmen.
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Wir machen das hier natürlich ganz, ganz anders. Aber
so positiv und optimistisch wir uns auch gern geben, und auch,
wenn man mit einem, der in Cannes sein darf, eigentlich wirklich
kein Mitleid haben muss, heute müssen wir zunächst
auch etwas mitschimpfen, ab morgen kommt dann das Positive,
versprochen.
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"Volver" also "komm wieder" oder "Rückkehr"
- melancholisch erklingt der argentinische Tangosong, die
Musik gewordene Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit. Es ist
natürlich nur Zufall, aber dann doch ein mehr als bezeichnender,
dass gerade dieses Lied bisher schon zweimal zu hören
war in Cannes. Wenn auch in verschiedenen Arrangements erklang
er sowohl in LES LUMIERES DU FAUBOURG, dem neuen Film von
Aki Kaurismäki, wie auch bereits, sogar titelgebend in
Pedro Almodóvars VOLVER. Und tatsächlich wurde
die erste Hälfte des diesjährigen Wettbewerbs von
Cannes fast völlig von den leicht ergrauten Helden des
europäischen Autorenfilms aus den 80er und frühen
90er Jahren dominiert; sonderbar vergangenheitsfixiert erscheinen
deren neueste Filme, voller Nostalgie und Wiederholungszwang
im Blick aufs eigene Werk.
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Am besten gelingt so etwas noch Almodóvar, der schon
immer ein Meister des Selbstzitats war. Längst steht
sein eigener Kosmos aus Müttern und Tunten, starken Frauen
und schwachen Männern, bunten Räumen und noch bunteren
Kostümen fest am Firmament des Kinos - und der Regisseur
bedient sich daraus nach Gutdünken. VOLVER könnte
auch ALLES ÜBER MEINE MUTTER heißen, oder SCHLECHTE
ERZIEHUNG oder HABLE CON ELLA. Es beginnt - und für diese
ersten Bilder hat Almodovar immer ein Händchen - mit
einer wunderschönen Kamerafahrt über einen Friedhof:
Drei Frauen, zwei Töchter und eine Enkelin putzen die
Gräber der Eltern, ein scharfer Wind bläst ständig
übers Land und so wird er auch die Illusionen hinwegwehen,
die sich diese Töchter über ihre Familien doch so
gern bewahren würden. Drei weitere Menschen werden sterben
in dieser Ode auf das Matriarchat, eine Mutter wird wiederauferstehen,
was gar nichts macht, da der Regisseur sowieso überzeugt
ist, dass Mütter nicht totzukriegen sind, und dass die
Wahrheit jedenfalls befreiend wirkt. Ein kurzweiliger, intelligenter
Film mit dem Almodóvar mal wieder einer der Preisfavoriten
ist - aber nach den ersten tollen Bildern ist alles dann doch
eher Fernseh-Ästhetik als Kinobilder, jene Almodóvar-typische
Künstlichkeit aus billiger Studiopappmaché und
komplementärfarbenen Klamotten, bei der die Fans wissend
schmunzeln und der Rest sich fragt, ob man das irgendeinem
anderen Regisseur durchgehen ließe. Und, wenn man ehrlich
ist, jedenfalls überhaupt nichts Neues von diesem Regisseur.
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In einer Hinsicht aber gelingt dem in seiner Heimat bekanntlich
eher ungeliebten, in der Fremde über den grünen
Klee gehobenen Spanier aber Top-Niveau: In der Inszenierung
seiner Hauptdarstellerin. Penelope Cruz ist mit diesem Auftritt
eine Kandidatin auf den Darstellerpreis. Interessant ist,
dass bei Cruz offenbar viele Regisseure immer wieder ans Essen
denken - ich kenne keine lebende Darstellerin, die im Kino
so oft und so ausgiebig kochen muss, wie sie. Der Zuschauer
denkt bei Cruz auch an Anna Magnani, in ihrer Mischung aus
patent-sein und sexy-aussehen könnte sie über die
nächsten 20 Jahre eine spanische Mama/Moralistin-Ikone
werden, und Almodóvar ihr Rossellini.
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Apropos Mütter: In einer Dialogzeile aus Friedkins BUG
(vgl. gestern) lautet: "What's Matriarchy?" - "Did
you ever see 'Big Valley'? Barbara Stanwyk?" - "Yeah"
- "Like her."
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"Gorki, Tolstoi, Puschkin, Turgenjew, Chechow, Gogol
"
- ein Haufen Penner plappert gleich zu Beginn von LES LUMIERES
DU FAUBOURG höchst elaboriert über die berühmtesten
Söhne russischer Literatur. Einer fehlt in der Aufzählung,
und das nicht ohne Grund: Dostojewski. Denn dessen Bosheit
ist Aki Kaurismäki so fern, wie diesem die sentimentalen
Anwandlungen des Finnen. Oder etwa doch nicht?
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Noch deutlicher als Almodóvar bietet Kaurismäki
nur eine Wiederholung seiner selbst. Zum Abschluss seiner
sozialromantischen Erbauungs-Trilogie (zuvor WOLKEN und THE
MAN WITHOUT A PAST), die auch eine Trilogie über das
klassische Kino und schon insofern ganz bewusst aus zweiter
Hand ist, erzählt er sentimental wie Chaplin, aber ohne
dessen Situationskomik, von einem Tramp in Helsinki. Als Sicherheitsmann
bewacht er ein Schmuckgeschäft. Wir beobachten ihn, wie
er immer in pseudo-amerikanische Bars mit Spielautomaten Kaffee
trinkt, und im "Grilli", der Würstchenbude
widerlich schlabberige Bratwürste isst. Wir haben sofort
verstande, wer die Guten und die Bösen, was gut und was
schlecht ist, dieser Film bietet kein angestrengtes Hingucken-müssen,
sondern die wohlige Rückkehr an einen längst vertrauten
Ort. Die Farben sind blaurot und warm, das Format Cinesmascope,
und da unverkennbar ist, dass Kaurismäki viele amerikanische
Film-Noirs angeguckt hat, muss er wohl ein großer Filmkünstler
sein.
Eines Tages trifft den Tramp eine blonde Femme Fatale, die
gaukelt ihm Liebe vor, a la Rita Hayworth in Mankiewiczs ALL
ABOUT EVE, im Auftrag von Gangstern, die dann den Laden ausrauben.
Der Tramp landet im Gefängnis, weil er die Blonde selbst
dann noch deckt, als er längst ihren Verrat durchschaut
hat. Erst nach seiner Entlassung wird er um ein Haar zum Verbrecher,
doch kurz davor rettet ihn die dunkelhaarige Würstchenbudenverkäufern,
die ihn schon immer klammheimlich angeschmachtet hat. Liebe,
ach wie schön! Die Unschuld "der kleinen Leute"
geht bei Kaurismäki mit der Unschuld der Liebe einher.
Und nirgendwo im Gegenwartskino ist die Liebe so sentimental
wie bei ihm.
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Man sollte das vielleicht einfach Kitsch nennen. Kollege
Josef Schnelle, erklärter Kaurosmäki-Fan, weist
allerdings zu Recht darauf hin, dass zumindest in Andeutungen
auch nahe gelegt wird, dass es eigentlich die Wurstverkäuferin
war, die dem Tramp eine Falle stellte, um ihn in jedem Fall
zur Liebe zu zwingen - so verstanden ist LES LUMIERES DU FAUBOURG
"ein abgrundtief böser Film" (Schnelle) über
bitterböse Frauen. Und dann eben keine Pseudo-Niedlichkeit,
sondern, s.o., doch Dostojewski.
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"He is loyal as a dog, a sentimental fool", sagt
der Gangsterboss über den Tramp, und das könnte
man auch über Kaurismäki sagen. Vielleicht ist ja
bei Kaurismäki wirklich alles derart doppelbödig.
Aber es erschließt sich nicht wirklich zwingend, und
es unterhält auch nicht besonders. In Bildern und Erzählweise
hat sich der Regisseur seit 15 Jahren nicht entwickelt; es
sind immer dieselben Variationen eines schon lange uninteressanten
selbsterschaffenen Kosmos, nicht bigger, sondern smaller than
life, ein anti-glamouröses Depressionskino ohne Temperament.
Und ein Regisseur, der offenbar wirklich glaubt, die Armen
seien die besseren Menschen. Das erzählt, wenn schon,
Hollywood besser, und warum diese totale Ödnis besser
sein soll, als Hollywood, verstehe ich nicht.
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Kaurismäkis Geheimnis ist allerdings wahrscheinlich
ein anderes: Er bedient eine Gemeinde. Erwartungsfroh sitzt
sie schon zu Beginn im Kino, es wird wissend geklatscht und
geschmunzelt, sobald mal wieder für einen kurzen Cameo
ein Darsteller auftaucht, den man schon aus anderen Kaurismäki-Filmen
kennt, am Ende klatscht man verzückt. Nun gut, wir möchten
hier niemandem seinen Spaß nehmen. Gemeindebildung ist
aber im Kino etwas Schlechtes, und Filme, die Gemeinden bilden
wollen, überaus unangenehm. Das gilt für die Almodóvars
und Kaurismäkis dieser Welt nicht weniger, als am Sonntag
für SOUTHLAND TALES.
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Immerhin streiten konnte man sich dagegen über zwei
andere Vertreter des europäischen Autorenkinos, die auch
ihre, wenn auch weniger großen und weit weniger dogmatischen
Gemeinden haben: CLIMATES vom Türken Nuri Bilge Ceylan
(UZAK) ist ein Liebesdrama, dessen Konzentration man schätzen
muss, das aber manchen Beobachtern zu dürftig inszeniert
war.
Ein Portrait des Künstlers als Arschloch. Ceylan spielt
selbst die Hauptrolle. Der Film ist in drei Teile unterteilt,
die drei Klimazonen entsprechen: Es beginnt in der Sommerhitze
des Südens. Ein Paar, er Wissenschaftler, sie TV-Journalistin,
macht Urlaub, von Anfang an ist Spannung in der Luft. Man
verfolgt die Tagträume der Frau, seine Gespräch
mit einem Freund, später macht er am Strand Schluß
mit ihr, auf der Rückfahrt mit dem Motorrad hält
sie ihm die Augen zu, und um ein Haar verunglücken sie
schwer. Dann Istanbul im Regen, er trifft die Frau seines
Freundes, mit der er schon früher ein Verhältnis
hatte. Beide schlafen miteinander, wild und gewalttätig,
einer Vergewaltigung nicht unähnlich. Im Winter des türkischen
Osten will er zu seiner Ex zurück, doch der versuchte
Neuanfang beginnt gleich mit einer Lüge, als sie fragt:
"Did you see Serap again?" - "No, of course
I didn't."
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Ein Portrait der Generation der knapp 50jährigen urbanen
Türken, ein bisschen auch das Selbstmitleid des türkischen
Machos, voller Selbstzitate des Regisseurs. Vor allem aber
eine Elegie existentiellen Ennuis und Langeweile, atmosphärisch
auch an einige der letzten Filme Ozons erinnernd, ber reduzierer.
Die Geräusche, der Ton ist ganz wichtig bei ihm. Gemeinsam
mit dem Chinesen SUMMER PALACE - auf den wir noch kommen werden,
ist CLIMATES der bisher beste Film im Wettbewerb, zugleich
ein wenig enttäuschend, weil man nach UZAK von diesem
Regisseur und diesem Film novch mehr erhofft hatte. Ceylans
bester Film ist CLIMATES nicht.
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Ken Loachs THE WIND THAT SHAKES THE BARLEY ("Der Wind,
der in die Gerstev weht") verschränkt im gewohnten
Loach-Stil das Private mit dem Politischen und beschreibt
den irischen Unabhängigkeitskampf in den 1920er Jahren
und seine Folgen für die Familien. Einmal mehr zeigt
sich Loach als nachsichtiger Moralist, dessen Moralismus vor
der Kraft des Lebens kapituliert - aber diesmal auch vor der
Politik. Böse Briten quälen gute Iren, und das quält
dann irgendwann auch den Zuschauer. Dabei ist alles zuerst
interessant, weil Loach zeigt, wie man Terroristen macht.
Aber Loach missversteht den britisch-irischen Konflikt als
Klassenkampf, und seine Anspielungen auf die irakische Gegenwart
wirken auch etwas deplatziert, ebenso wie der emotionale Freispruch
für die IRA. Am interessantesten sind noch die beiden
Kapitalisten-Figuren, die das Drehbuch allerdings um die Ecke
bringt. Der eine nennt die IRA hübsch treffend "Cornerboys
with delusions of glamour", und das ist noch verharmlosend,
und sagt zu recht "Gott behüte, dass Irland in solche
Hände fällt." Die letzten Worte dieses Kapitalisten
sind dann: "You'ill never beat us!"
Daneben die übliche, immer richtige Kirchenkitik. "The
church sides with the rich." Das ist alles richtig, aber
nicht spannend. Und im Gegensatz zu dem großartigen
"Land and Freedom" über den spanischen Bürgerkrieg,
ist Loach diesmal zu undifferenziert.
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Die Zukunft des Kino liegt schon aus Altergründen jedenfalls
anderswo. Ihr kann man in der "Quinzaine" begegnen,
jeder traditionsreichen Nebenreihe, die einst auch Almodóvar
und Kaurismäki entdeckte. Zuletzt hing das Programm schwach
zwischen den Stühlen, weil der Wettbewerb selbst die
Besten unter den Jungen entdeckte. Nachdem in den letzten
zwei Jahren das Methusalem-Komplott nun auch Cannes erobert
hat, ergreift die Quinzaine nun wieder ihre Chance - obwohl
natürlich auch einer wie William Friedkin erstmal unter
Gerontokratieverdacht steht.
Schon der Trailer beschwört mit Pathos die eigene Tradition:
Bresson, Oshima, Fassbinder, liefen hier Haynes, Asia Argento,
Wong Kar-wai, Todd Solondzz wurden entdeckt.
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Nun läuft mit THE HOST vom bekannten Koreaner Bong Joon-ho
(MEMOIRES OF MURDER) ein Film, der vor zwei Jahren noch mit
Sicherheit im Wettbewerb gelandet wäre: Zur einleitung
lobt man die "nervous direction" was man hier positiv
meint. Nach der Ableitung giftiger Substanzen in den Han-Fluss
wird Seoul von einer Mutatation tyrannisiert. Die bösartige
Kreatur frisst Menschen und gibt so diesen Gelegenheit, sich
ihrerseits von ihrer unangenehmsten Seite zu zeigen. Wunderbar
inszeniert wird das Chaos auf einem Platz, der Film zeigt
den inherenten Faschismus und die US-Rolle im Gegenwartskorea,
es gibt Anspielungen auf SARS. Dynamisch und konsequent inszeniert
ist THE HOST eine boshafte, hochironische Satire über
die koreanische Gegenwartsgesellschaft, eine zeitgenössische
Comedie Humaine - dagegen sehen die Filme der "Selection
offizielle" in diesem Jahr sehr alt aus.
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In der Quinzaine läuft auch Stefan Krohmers SOMMER 04
AN DER SCHLEI, einer von zwei deutschen Beiträgen. Getragen
von einer großartigen Martina Gedeck, die sich mit ihrem
nuancierten Spiel in diesem Film, ihrem ersten in Cannes,
endlich anschickt, zum internationalen Star zu werden, wandelt
dieses subtile Drama auf den Spuren Rohmers: Eine Sommergeschichte
mit Tiefgang, eine beiläufig und fragmentarisch erzählte
Geschichte über eine Lolita, die in aller Unschuld, durch
schiere Präsenz eine Patchwork-Familie gehörig durcheinander
bringt. Langsam implodieren die unter der Oberfläche
aufgeladenen Verhältnisse. Sofort, von der ersten Minute
an sieht man: das ist gut, das sieht toll aus, das ist zwingend.
SOMMER 04 ist ein moralischer Thriller, der nach Verantwortung
fragt, nach Ignoranz und nach Schuld, und nur am Ende etwas
ins Melodram abgleitet, die Kurve zum Leben nicht bekommt.
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Ein interessantes Interview gab Martina Gedeck dem "Hollywood
Reporter". Ein Plädoyer für Gelassenheit, gegen
die verbreitete Hysterie der Deutschen im Umgang mit diesem
Festival. Zu verbreitet sind bei uns die entsprechenden Verschwörungstheorien,
verklemmte Anspruchshaltung und Kino-Nationalismus.
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Erinnern wir uns: Der Jubel war groß. Schließlich
hatte es auch lange genug gedauert. Elf Jahre lang, um genau
zu sein. Dann lief im Mai 2004 Hans Weingartners Film DIE
FETTEN JAHRE SIND VORBEI als erster Beitrag nach quälend
langer Durststrecke im Wettbewerb des Filmfestivals von Cannes.
So gewaltig war die Begeisterung über diese Tatsache,
dass manchem da vor lauter Freude schon die Urteilsfähigkeit
ein wenig abhanden kam. "Wir haben den Durchbruch geschafft."
triumphierte etwa die damalige Kulturstaatsministerin Christina
Weiß in der Diktion eines Erster-Weltkriegs-Generals,
als hätte sie persönlich gerade die Marneschlacht
gewonnen - pikanterweise nachdem sie, was auch nicht viel
besser war, im Vorjahr erst auf einer Pressekonferenz am gleichen
Ort verkündet hatte, Cannes und "der Autorenfilm"
hätten ihre Bedeutung ja längst verloren: "Dass,
was sie in Cannes wollen, ist nicht das, was wir liefern wollen."
Andere standen offenbar mit der Stoppuhr im Festivalpalais
und meldeten nach Hause, es habe "über zehn Minuten
Applaus" gegeben - was in Cannes keineswegs so ungewöhnlich
ist. Und die meisten sonst sehr objektiven Berichterstatter
der deutschen Tageszeitungen verwandelten sich in Fans und
übertrieben nicht nur systematisch die Qualität
von Weingartners Film, sondern spekulierten über seine
Chancen auf einen Preis, wie es sonst nur Sportjournalisten
tun, wenn es um die Fußballweltmeisterschaft oder ein
Schumi-Rennen geht. Dass Weingartner Österreicher ist,
und der Film von den dortigen Förderinstiutionen als
eindeutig österreichischer Beitrag präsentiert wurde,
wurde dafür konsequent übersehen.
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Als dann 2005 mit Wim Wenders DON'T COME KNOCKIN' gleich
wieder ein deutscher Film - wenn auch mit US-Darstellern,
auf englisch und komplett in den USA gedreht - im Wettbewerb
lief, waren die Reaktionen schon weitaus gelassener. Man freute
sich einfach, und berichtete etwas ausführlicher, als
über die anderen Filme. Dies ist der größte
Erfolg von DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI: Nun ist der Druck
weg. Beim Blick auf Cannes gibt es keinen Anlass mehr zu gekränkter
Eitelkeit und nervösen Diskussionen über den "Stellenwert
des deutschen Films im Ausland", oder gar zu Verschwörungstheorien
über angebliche französische Abneigung. Eigentlich
gab es ihn nie. Und die Fixierung auf eine deutsche Wettbewerbsteilnahme
- die renommierten Nebenreihen sind offenbar nicht genug -
war genauso falsch, wie die verkrampfte Ignoranz, die sich
zuletzt breit gemacht hatte. Die jetzige neue Gelassenheit
ist die allererste Voraussetzung, um - über Cannes hinaus
- dem deutschen Film wieder international größere
Aufmerksamkeit zu verschaffen.
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Cannes ernst zu nehmen, ist natürlich richtig und verdient.
Denn man sollte nicht drum herumreden: Da mag Dieter Kosslick
seine Berlinale noch so sehr aufpolieren, anders präsentieren
und um weitere Randevents ergänzen - Cannes bleibt nicht
nur das größte Filmfestival der Welt, es ist das
Mekka des Kinos. Wenn einer, der ernsthaft mit Film zu tun
hat, überhaupt irgendwohin muss, dann hierher, einmal
im Jahr an die Croisette. Und dies nicht, weil die Kulisse
mit Strand, Palmen, rotem Teppich und frühlingsblauem
Himmel trotz allem Rummel einmalig schön ist, sondern
weil dies und nur dies der Ort ist, an dem man das Herz des
Weltkinos schlagen hört. Hier kann man Trends frühzeitig
ausmachen, strengster wie verspieltester Filmkunst genauso
begegnen, wie dem Treibstoff von allem, dem Geld. Und wer
nicht - auch als Journalist - mindestens einmal im Jahr den
Markt besucht, hat von dem, was Cannes und was das Kino eigentlich
ist, nichts verstanden. Denn Cannes ist, wie das Kino, natürlich
beides: Kunst und Geschäft. Aber eben beides: Auch Kunst.
+++
In Cannes wie überhaupt in Frankreich ist der Sinn dafür
schärfer ausgeprägt, als bei uns, dass Film in erster
Linie ein Kulturgut und keine Handelsware ist. Und dass der
deutsche Film über ein Jahrzehnt in Cannes auch in Nebenreihen
kaum vertreten war, lag vor allem daran, dass er vielleicht
als Handelsware taugen und der deutsche Markt mag sein mag,
dass das Kino aber einfach nicht gut genug war.
+++
Natürlich kann man über Kriterien immer streiten.
Grundsätzlich gilt: Um in Cannes zu reüssieren,
muss eine Haltung erkennbar sein, ein Bewusstsein auch für
Filmtradition. Weil ein solches Bewusstsein und seine Pflege
bei uns immer noch zu schwach ausgeprägt sind, haben
in Cannes oft gerade Filme Erfolg, die es in Deutschland schwer
haben: Ein gutes Beispiel ist Christoph Hochhäuslers
FALSCHER BEKENNER, der 2005 im "Certain Regard"
lief. Der deutschen Öffentlichkeit ist Hochhäusler
im Gegensatz zur französischen kaum bekannt, und so wie
sein Debüt MILCHWALD, dem trotz Berlinale-Erfolg und
feststehenden Frankreichstart von der zuständigen Kommission
des bayerischen FilmFernsehFonds (in der so unumstritten verdiente
Alleskönner sitzen wie Trashkini Eckard Schmidt) jede
Verleihförderung versagt wurde, wurde sein neuer Film
von den meisten Förderern - bis auf die Filmstiftung
NRW - verschmäht, ebenso von zwei deutschen Weltvertrieben.
Hochhäusler gilt als "zu schwierig", und fraglos
ist er nicht stromlinienförmig genug. Gerade das fasziniert
die Franzosen. Darum mag man in Cannes auch Angela Schannelec.
Doch seien wir ehrlich: Selbst Wenders wird im Ausland mehr
geschätzt als bei uns. Und Oskar Roehler, den heute alle
schon immer gemocht haben, hatte es hier so lange schwer,
bis DIE UNBERÜHRBARE wo gelaufen war? In Cannes!
+++
Vorurteile gegenüber deutschen Filmen weist Thierry
Fremaux, der Leiter des Festivals jedenfalls im Gespräch
weit von sich. Aber natürlich will er von den üblichen
Verdächtigen, den immer gleichen Namen weg, will Cannes
für neue Filmsprachen, und das Kino von Morgen öffnen
- eine Überlebensbedingung des Festivals. Asien steht
zu recht ganz oben auf seiner Agenda. Es wird also nicht mehr
Platz für den deutschen Film geben in Zukunft.
Was für Filme werden gewünscht? Auch nach vier Jahren
als Korrespondent der traditionsreichen Semaine de la Critique"
- wo übrigens noch länger kein deutscher Film lief,
als im Wettbewerb, erst 2006 wurde von der deutschen Öffentlichkeit
unbemerkt auch dieser "Durchbruch geschafft" - fällt
es schwer, hier eine ganz klare Antwort zu geben. Aber wenn
man einen Film sieht, weiß man, ob er für Cannes
in Frage kommt. Nur manchmal bleibt ein Rest Unverständnis,
und beim alljährlichen Blick auf die endgültige
Auswahl der verwunderte Stoßseufzer: "Die Franzosen!"
+++
In jedem Fall geht es um klare Handschriften, um Autorenkino;
Kommerzfilme nur dann, wenn sie Weltstars mitbringen und Niveau.
Die Filme dürfen nicht geschwätzig sein, keine Fortsetzung
des Romans mit den Mitteln der Leinwand, sondern eher wie
eine Skizze, eine Etüde, eine Pop-CD, auf der man nicht
alles mögen muss, sondern sich ein paar Lieblingsmomente
herauspickt. Im Zweifelsfall sollte mit Bildern erzählt
werden, und wichtiger, als die deutschen Götter "Inhalt"
und "Message", ist die Atmosphäre eines Films,
ist, wie er sich anfühlt.
+++
Wie wenig sich das alles leider immer noch herumgesprochen
hat, kann man dem Gemecker entnehmen, dass einem hier immer
wieder am Rand begegnet - wenn auch manchmal nur von interessierter
Seite, wie der Berlinale, verbreitet. Komplexe, Komplexe.
Dumm auch zu glauben, dass DAS LEBEN DER ANDEREN eine ernsthafte
Chance auf Wettbewerbsteilnahme haben könnte - nicht
wegen dem Filmstart und noch nicht mal wegen vier Bayerischen
Filmpreisen, sondern wegen seines konventionellen Stils ist
der Film hier ohne Chance.
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Das Schönste haben wir dagegen natürlich wieder
mal verpasst: RP Kahl, zu dessen bemerkenswertesten Talenten
es gehört, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, berichtet
von einem Islid del Basco im Markt. Wolfgang Höbel von
einer Party für einen Bai Ling-Film, den es noch nicht
gibt. Und RP bleibt seit Jahren erstmal nicht zur deutschen
Party, sondern flog schon am Montag zurück - beneidenswerterweise
mit Meike Hauck, Theaterautorin und Drehbuchautorin des zweiten
deutschen Films, PING PONG von Matthias Luthardt, der es in
die strenge Auswahl der "Semaine de la Critique"
geschafft hat. Neben den gleichfalls tollen Darstellern liegen
die Stärken dieses Films weniger in der Kamera - wie
bei Krohmer - als eben in besagtem Drehbuch (co-geschrieben
von Luthardt): Auch dieser Film erzählt eher eine Konstellation,
als ein forciertes Drama: Ein Kammerspiel über vier Personen,
deren individuelle Universen sich nur gelegentlich berühren,
fast französisch, wie man sich das deutsche Kino viel
öfter wünschen würde.
+++
Während die verzückten Gemeinden also in Cannes
Kaurosmäki und Almodóvar - diese Liebe scheint
ja auch eher ein Generationsding zu sein - und in Deutschland
den Film der Anderen gucken, gibt sich das deutsche Kino mit
PING PONG und SOMMER 04 also wohltuend unangestrengt und beiläufig
- Tugenden, zu denen man, nachdem die Retrospiele der Alten
vorbei sind, in den nächsten Tagen mit Sicherheit auch
im Wettbewerb wieder zurückkehren wird.
Rüdiger Suchsland
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