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Liebe & Revolution: Träumer in Peking, THELMA &
LOUISE an der Atlantikküste und die Russen als Russen
Es gibt Schlimmeres, als in Cannes aufzuwachen und gleich
ins Kino zu gehen. Eine frische Morgenbrise weht an diesen
ersten Stunden eines normalen Cannes-Tages über das Meer,
die Schwaden der Parties, die erst vor wenigen Stunden zuende
gingen, haben sich verzogen und die Promenade der Croisette
ist frisch mit Wasser abgespritzt und duftet noch feucht.
Sie ist noch fast leer, in wenigen Stunden aber werden hier
die Menschen dicht an dicht nebeneinandergehen, sich anrempeln
und abstoßen. Und immer wieder stehen bleiben, gucken,
zu Trauben formen. In diesen Minuten kurz vor halb neun, wenn
die ersten, zumeist "obligatorischen" Pressevorführungen
beginnen, liegt der Tag noch ganz unschuldig vor einem, gibt
sich all dem hin, was auch immer man mit ihm vorhaben mag,
und wogegen er später seinen Widerstand setzt, gegen
das, was ihm zugemutet werden soll. Alles scheint einfach
und möglich in diesen Augenblicken auf dem Weg ins Kino.
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Trotzdem sind die ersten Minuten die schwersten des Tages.
Hinterher kann man im Kino notfalls wieder schlafen, aber
erstmal muss man überhaupt hinkommen. Manche, wie die
Kollegin der Süddeutschen, brauchen unbeneidenswerte
zwei Stunden Vorlauf, um es in die erste "Séance"
zu schaffen, für uns selbst genügt eine Stunde.
Aber auch das ist leichter gesagt, als getan, wenn man bis
um vier im Petit Majestic an der Ecke stand, wo selbst dann
immer noch einer da ist, mit dem man ein paar Minuten verbringen
möchte. Duschen und zwei Tassen Kaffee in sich hinein
schütten ist leicht. Frühstücken schwerer,
ein Akt der Disziplin, nicht nur, weil es schnell gehen muss.
Nichts sollte vergessen werden: Ein paar Schokoriegel - twix
- Banane und Weintrauben für den Tag, eine Flasche Wasser,
Energiedrinks für den Fall der Fälle. Dann ist der
Rucksack schon drei Kilo schwer. "Jackett oder nicht
Jackett?" ist weniger eine Frage der Außentemperatur
als des Auftretens. Tagsüber stört die Jacke nur.
Abends vermittelt sie genau jenes Quäntchen Seriosität,
die einem hilft, manche Tür zu überwinden. Aber
bis dahin ist es noch weit. Der Morgen in Cannes ist schön.
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Vor dem Kino führt der Weg noch an einem jener Hotels
vorbei, in denen man sich mit Zeitungen versorgen kann. Das
Wichtigste sind die sogenannten "Dailys" der Business-Magazine:
"Variety", "Screen" sowieso, in diesem
Jahr haben wir auch den "Hollywood Reporter" schätzen
gelernt. Jeder trägt sie hier irgendwann unter dem Arm,
hier liest man neueste Nachrichten wie Filmdeals, die gerade
auf dem Markt abgeschlossen wurden, vor allem aber die ersten
Kritiken der Vortagsfilme. Wenn hier einer zum Flop erklärt
wurde, wird er kämpfen müssen. Umgekehrt hilft ein
Lob aber nicht unbedingt.
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So weiß man zum Beispiel, dass Woody Allen wieder mit
Scarlett Johansson dreht. Dass Naomi Watts in David Cronenbergs
neuem Film eine Hauptrolle spielt. Und auch die Hauptrolle
in Michael Hanekes erstem Hollywood-Film. Es soll ein Remake
von FUNNY GAMES werden, und noch vor einem Jahr hatte sich
Haneke sehr skeptisch über die Möglichkeit geäußert,
von Hollywood jene Freiheiten zu erhalten, auf die er Wert
legt. In Olivier Assayas' neuem Film, der ab August gedreht
wird, werden Asia Argento und Michael Madsen die Hauptrollen
spielen. Da ist man schon jetzt gespannt auf die Premiere
in einem Jahr.
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Worüber man mehr wissen möchte: Was es mit den
drei Filmen auf sich hat, die Jurypräsident Wong Kar-wei
gerade plant. Am mit Filmplakaten vollgepflasterten Rand der
Promenade hängt ein Bild von MY BLUEBERRY NIGHTS, ein
großer Kopf der schönen Hauptdarstellerin, der
Sängerin Norah Jones. Auch von den anderen zwei Projekten
kennt man nur die Arbeitstitel und die Hauptdarsteller: THE
LADY FROM SHANGHAI mit Nicole Kidman und THE GRANDMASTER mit
Tony Leung.
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Für uns ist das Zeitungs-Hotel das Noga-Hilton, wo später
auch die Vorführungen der "Quinzaine" laufen.
Tageszeitungen gibt es hier extra, englische, wie den Guardian
und die Times. Le Monde dagegen muss man kaufen, an einem
der Kioske auf der Promenade.
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Die Business-Magazine erinnern einen auch wieder daran, dass
Cannes in erster Linie ein Markt ist, ein Ort, an dem beide
Teile der Filmkultur, die Industrie und die Kunst zu gleichen
Teilen und in gleicher Konsequenz ihr Recht bekommen. In der
Mitte der Hefte findet man das Marktprogramm, zu dem man hier,
im Gegensatz zu Berlin, auch als Journalist unbeschränkten
Zugang hat.
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"Am dritten Tag bin ich so deprimiert, dass ich auf
den Markt gucke und denke, ich höre auf mit meinem Job."
- aufgeschnappt am Nebentisch im deutschen Pavillon; soviel
zu den Leiden der deutschen Produzenten.
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Im Markt auch der erste Film von heute, ein Franzose mit
dem Titel WASTED! Pariser Stadtjugend in den Mid-Twenties,
Parties, Drogen und Sex, vor allem die Frauen sind skrupellos
und "wissen was sie wollen" - mit anderen Worten
ein ziemlich uninteressanter Film, der seinen eigenen Klischees
verfällt. Unter der amoralischen Oberfläche ist
die Message dann doch abgestanden moralisierend. Wirklich
im Gedächtnis bleibt nur die Frage aus einem Partygespräch,
ob es nicht rassistisch sei, dass Chewbacca in STAR WARS am
Ende als einziger keine Medaille bekommt. Aber auch diese
Frage haben die Fans sicher schon seit Jahren gelöst.
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Weitaus besser geht der Certain-Regard-Film MEURTRIERS von
Patrick Grandperret mit dem Thema Amoral um. Nach einem Stoff
von Maurice Pialat erzählt er in seinem modernen Märchen
von Nina, einem rätselhaften Mädchen, die sich in
einer unklaren Notlage befindet und von einer älteren
lesbischen Frau mit eindeutigen Absichten aufs Land bei La
Rochelle eingeladen wird. Irgendetwas stimmt mit Nina nicht.
Sie ist ängstlich und sauer, redet türkisch am Telefon,
und einen an ihr interessieren Jüngling stößt
sie arg unmotiviert zurück: "Ich kann es nicht erklären,
es hat nichts mit Dir zu tun." Sie hat Erinnerungsflashes
an ihren Vater, Missbrauch und dessen Tod, an dem sie sich
schuldig fühlt.
Dieser GIRL INTERRUPTED-Plot wandelt sich, als Nina in einer
psychiatrischen Klinik Lizzy begegnet, die einen Selbstmordversuch
hinter sich hat. Beide freunden sich an, brechen eines Abends
aus der Klinik aus und beginnen eine Reise in die Nacht -
THELMA & LOUISE an der Atlantikküste. Leider nicht
ganz so gut. Ein Touch of Houllebecq, aber nicht konsequent
und durchdacht genug. Immer wieder gefällt einem der
Film, hält einen im Saal, macht neugierig, doch dann
leiert er wieder aus. Inszeniert ist es zwar sauber, aber
auch nicht wirklich interessant. Irgendwann sitzen sie in
einer Dschunke und tragen Piratenklamotten. Vor allem aber
werden sie von ihrer Umgebung gedemütigt und ausgenutzt.
Irgendwann läuft das Fass über, und Nina schneidet
einem zudringlichen Taxifahrer die Kehle durch. Was will uns
das sagen? Hoffentlich nichts sozialpädagogisches, und
vielleicht auch einfach zuwenig. Aber gut gespielt; ein Märchen
wie gesagt, mehrfach grundiert vom Allegretto aus Brahms 3ter
Symphonie, in den besten Momenten wie von Carax, aber manchmal
auch gar nicht.
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Viel beeindruckender ist Lou Yes SUMMER PALACE, der einzige
asiatische Beitrag, der im Vorfeld schon für Proteste
der chinesischen Regierung sorgte. Nach der Vorstellung fragte
man sich, wie es der Film überhaupt durch die Zensur
geschafft hat. Intensiv und sinnlich; superschöne Bilder,
alles ist eine Bewegung, die Erzählweise fragmentarisch.
Ein bisschen wirkt alles wie eine chinesische Version von
Bertoluccis DREAMERS, Träumer in Peking eben, Liebe und
Revolution, Masturbieren und Bücher klauen, Demos + Sex.
Der Höhepunkt kommt bereits nach etwa einer halben Stunde:
Die Szene, in der sich das Paar im Zentrum der Story erstmals
begegnet: Eine Party, zu US-Tanzmusik minutenlang kein Dialog,
alles ist Bild und Bewegung, Blicke, Gesten
Erzählt
wird von einer Liebe kurz vor der Studentenrevolte 1989. Der
Schatten des Kommenden liegt von Anfang an auf der Geschichte.
Aber Politik kommt wortwörtlich nur am Rande vor, das
Tiananmen-Massaker wird nicht gezeigt, sehr wohl aber indirekt
beschrieben, und bleibt ständig präsent: Man sieht
Soldaten, verwundete und traumatisierte Studenten, sieht Dokumentarszenen
aus dem Fernsehen, wird Zeuge der Repression der Zeit danach.
Die alte hartnäckige Illusion "Gemeinsam sind wir
stark", die durch Panzer widerlegt wird. Ein mutiger,
auch stilistisch herausragender Film über die Hoffnung
und ihre Zerstörung.
Georg Lukacs (oder so) hat mal gesagt: "Revolution ist
das Funkeln eines Augenblicks." Der Film fängt diesen
einen Moment der Bewegung ein und trauert ihm nach. Man würde
gerne mehr darüber wissen, länger in diesem einen
intensiven Zustand verweilen. Aber diese Momente sind auch
im wirklichen Leben kurz und diese Erfahrung ist es, von der
der Film auch in seiner Leere noch erzählt.
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Die, denen der Film nicht gefällt, mäkeln über
die unkonkrete Darstellung der Politik. Offenbar fehlt es
diesen Leuten an Phantasie, was Zensur bedeutet. Von Verleiherseite
höre ich, Lu Yes Drehbuch sei ursprünglich viel
politischer gewesen. Aber ich finde, dass der Film immer noch
sehr politisch ist. Über die Bilder und Aussparungen,
als Film, nicht über Dialog und Handlung.
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Ein Seitenaspekt des Films, der in der zweiten Hälfte
an Serienfilme wie HEIMAT, wie DIE BESTEN JAHRE erinnert:
Das Berlin-Bild der Chinesen, das aus den Elementen Punk,
Akkordeonspieler und Maoisten besteht.
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Die Frage, warum hier eigentlich in den offiziellen Reihen
so wenig Asiaten laufen, hatten wir bereits früher gestellt.
Eine Antwort, die hier auf dem Festival öfter zu hören
ist: Marco Müller, Direktor vom Filmfestival Venedig,
Sinologe und erklärter Asiatenversteher hat sie den Franzosen
weggeschnappt. Angeblich werden nun sechs bis acht Asiaten
in Venedig im Wettbewerb laufen, manche sollen zudem sogar
schon für Berlin 2007 im Blick sein. Es fehlen also nicht
die guten Filme, im Gegenteil, man reißt sich um sie.
"Screen" titelte gestern "asias upraise"
und bezog dies auf das Geschehen im Markt von Cannes, wo angeblich
mehr asiatische Filme angeboten werden, denn je.
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Ein türkischer Verleiher fragt mich, ob ich glaube,
dass Hanekes FUNNY GAMES-Remake ein guter Film werden könnte.
Unbedingt, finde ich, und sage, dass Haneke immer noch nicht
satt ist, etwas will, nicht zuletzt endlich einmal hier eine
Goldene Palme gewinnen. Und dass er weiß, was er tut.
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Im Markt, wo man eben Filme sehen kann, die man nie wieder
zu Gesicht bekommt, auch ein russischer Film, dessen Titel
wir sofort wieder vergessen haben: verführerische Frauen,
trinkende miesepetrige Männer, lovely loser, dilettantisch
in schlechtem Licht inszeniert. Irgendwann erklingt, zum Sex,
das Lied "Oh Mamy. Oh Mamy Mamy blue, oh Mamy blue."
Viele Parties kommen vor, mit Wodka und Opernmusik, und die
Mafia natürlich. Und immer wieder der häufigste
Dialogsatz: "Let's drink!" Wohlgemerkt, das ist
nach seinem Selbstverständnis kein Trash, sondern ein
realitätssatter Film aus dem Russland von heute, von
einem russischen Otör.
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Der Beweis folgt postwendend. Plötzlich finde ich mich
im 7. Stock des "Hotel Carlton" wieder. Die Bedienungen
tragen weiße Reizwäsche, mit freigelegtem Hintern.
Der Gastgeber ist fett und hat lange schwarze Locken. Es gibt
Kir Royal und Wodka, und Kaviarhügel und Lachshügel,
und Fois Gras-Hügel und frische-Erdbeer-Hügel auf
Silbertabletts, es müssen jedenfalls Hügel sein
- ist eh' klar, man darf sich darüber keine Illusionen
machen: Es ist genau, ganz genau, wie man es sich vorstellt.
Und während man noch überlegt, womit man sich jetzt
den Bauch vollschlägt, merkt man plötzlich, dass
es sich bei der hübschen Russin, mit der man seit zwei
Minuten in einen klassischen Smalltalk verstrickt ist, um
das Supermodel Natalia Vodianova handelt, die offenbar nicht
weiß, wer ich (nicht) bin.
Auch sonst junge Frauen, die einen Kopf größer
sind, als ihre männlichen Begleiter, und im Gegensatz
zu diesen einen Hals haben, und zumeist etwa so aussehen,
wie Nastassja Kinski zu Zeiten von Petersens Tatort "Reifezeugnis",
etwas zu dick geratene goldene Lederarmbanduhren tragen, die
"echt" sind und weil sie von Bulgari stammen, nochmal
das Doppelte kosten. Am Handy ein goldener Bulgari Ring, die
Feuerzeuge aus Weißgold (oder Platin, nicht dass ich
den Unterschied erkennen würde). Das muss die Russenmafia
sein, denn womit sie hier eigentlich handeln, ist auch nach
einer Stunde nicht herauszubekommen. Mit zukünftigen
Studiodeals, mit Kapazitäten, mit Luft. Auch das ist
Cannes.
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"Wenn die den Namen Almodóvar hören, dann
denken die, das ist ein neuer Cocktail." Ein schöner
Satz von unser immer gut aufgelegten Kollegin Margret Köhler
über Menschen, mit denen sie gemeinsam Interviews machen
muss. In diesem Sinne: "Drei Almodóvar bitte!"
Rüdiger Suchsland
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