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Die Grammatik der Kälte und der Karneval der Tiere: Sofia
Coppola rockt Versailles und Bruno Dumont seziert das Leben
und die Kulturgeschichte
Heute war wieder so ein Tag, wie man ihn nur in Cannes erleben
kann - die Sonne scheint und das Festival kocht. Endlich hat
der Wettbewerb die drögen Eigenzitate der selbstverliebten
"Cannes-Familie" um Almodóvar, Kaurismäki
und Loach hinter sich gelassen und das Niveau erreicht, das
man von diesem Festival verlangen muss.
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Dabei hatte es ganz furchtbar angefangen: Um 7.25 aus dem
Bett gequält um pünktlich zu BABEL von AMORRES PERROS-Regisseur
Alejandro González Inárritu zu kommen, doch
der Saal war schon eine Viertelstunde vorher "complet",
und selbst mein Pidgin-Französisch, das mich immerhin
gegenüber dem Pidgin-Englisch der Asiaten und dem Amerikanisch
der Amerikaner eindeutig für besondere Gefälligkeiten
des Festivals qualifiziert, konnte diesmal auch nichts mehr
bewirken. Also schnell herübergeeilt, ins Lumière
zur anderen Pressevorführung. Aber auch Sofia Coppola
war "complet". Offenbar ist ganz Cannes eine Stunde
als früher aufgestanden, um sich zwischen diesen beiden
Filmen aufzuteilen - eine Erklärung immerhin für
das gestern um Mitternacht schon verdächtig leere "Petit
Majestic".
Was für ein Tagesanfang. Da saß ich dann um 5 nach
halb 9 und hatte nichts zu tun. Erst um 9 öffnen die
Presseräume, erst um halb 10 der Markt, die Fächer
waren noch leer, und selbst das Festivalbüro öffnet
erst nach 9 - keine Chance also, sich jetzt mal kurz über
die Idiotie zu beschweren, diese beiden Filme zusammen zu
legen, und so seinen Zorn (und kleinere Selbstvorwürfe)
wieder auf Normalmaß herunterzufahren.
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Also erstmal noch ein Kaffee, dann ein Wasser, dann Zeitunglesen
- Momente der Leere, in denen man wieder einen Blick für
die Umgebung bekommt, für Menschen, Palmen, das Wetter
und das Meer. Dann in den Presseraum zum Schreiben und um
11 in GUISI von Su Chao Pin. Ein mäßiger Thriller,
der hier außer Konkurrenz läuft, und sich nicht
zwischen Mysteryhorror und Polizeifilm entscheiden kann -
und gerade darum vielleicht manchen als cineastisch gilt?
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Mit Coppola muss es jetzt um 14.30 Uhr klappen. Die nette
Pressefrau meint, dass ich früh da sein sollte, "am
besten vor 14 Uhr". So bin ich um 13.40 da, bekomme einen
Superplatz, warte 50 Minuten im Saal auf den Film, und sehe
- ein Meisterwerk!
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MARIE ANTOINETTE ist das Gegenteil einer BBC-Doku, obwohl
das Portrait von Ludwig XVI. als bemühter, aber spoileder
Nerd vermutlich ziemlich treffend ist. Coppola zeigt, wie
es sich anfühlt, erst Prinzessin und dann selbst eine
Königin zu sein, wie es ist, wenn man berühmt ist
und von allen und immerzu angeguckt wird. Sie zeigt aber ebenso,
dass es auch Spaß macht, Königin von Frankreich
zu sein, dass es schön sein kann, reich und im Luxus
zu leben. Man muss hier keine biografischen Parallelen zur
Regisseurin ziehen - die sie erwartungsgemäß auch
weit von sich weißt, um zu spüren, dass hier eine
kennt, was sie zeigt.
Modern daran ist, dass es Coppola gelingt, im Schicksal einer
vielleicht nicht einmal besonders sympathischen oder interessanten
Frau das Zeitlose zu entdecken, und nebenbei noch etwas vom
"Celebrity Kult" unserer Tage zu erzählen.
Sie zeigt ein Bild des 18. Jahrhunderts, das weder Kubrick
noch Renoir wiederholt, MARIE ANTOINETTE zeigt keine Tragödie,
noch bietet sie Systemanalyse. Ihre Königin, von Kirsten
Dunst nuanciert gespielt, ist ein Teenager voller Sehnsüchte
und Unsicherheit, später ein einsamer, verletzlicher
Mensch, der erst dem Hof, dann der Yellow Press und am Ende
der Masse ausgesetzt ist, eine junge Frau, die in die Kälte
kam. Da ist ihr Blick dann doch Kubrick-haft kühl, aber
er richtet sich aufs Private und nimmt dann wieder Anteil,
identifiziert sich mit der Figur im Zentrum.
Die Erfahrungen einer jungen Frau mögen zu allen Zeiten
gleich sein. Insofern könnte ein zweites Ansehen des
Films, durch die Brille des Feminismus hier wohl auch fündig
werden, besonders wenn es um das Rollenspiel und das aus der
Rolle fallen geht. Sofort begreift man, dass MARIE ANTOINETTE
ein Little Girl Lost ist, wie Coppola es in ihrem ersten,
vom Vater verfilmten Kurzfilmscript LIFE WITHOUT ZOE schon
beschrieb, dass der Film vor allem von Einsamkeit handelt,
und man darf sicher sein, dass viele Kritiken später
mit "Lost in Versailles" überschrieben sein
werden - tatsächlich sind Ähnlichkeiten zu Coppolas
letztem Vorgänger unübersehbar.
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Trotzdem erweckte der Film gespaltene Reaktionen, denn er
vergrault all jene, die LOST IN TRANSLATION vor allem lustig
fanden. Das ist MARIE ANTOINETTE nämlich kaum. Allenfalls
wo die Absurdität des Hof-Zeremoniells aufs Korn genommen
wird. Aber wenn dann Dialogsätze fallen wie "This
is rediculous." - "This Madame is Versailles"
dann lachen zwar die Leute erleichtert auf, aber der Fim verrät
seine differenzierte Atmosphäre einen von Unverständnis
geprägten amerikanischen Blick. Denn dieser Dialog wäre
nur dann klug, wenn er keine Lacher beim Publikum provozierte,
sondern diesem irgendwie vorher klargemacht wäre, was
Versailles eigentlich damals war, dass dieser Satz für
seinen Sprecher einen Sinn machte, über den nur diejenigen
höhnisch lachten, die der Königin später den
Kopf abschlugen.
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Ich würde eher "Rocking Versailles" titeln.
Denn der Hof ist in Coppolas Augen vor allem ein Glam-Paradies.
Der Vorspann des Films zeigt pinkrosa Schrift auf schwarzem
Grund, der weitere Verlauf bietet ein Popmärchen, dass
immer wieder die scheinbar vorgegeben Formen überschreitet,
und nicht akzeptieren will, wie "man von Marie Antoinette
zu erzählen hat." Drei Bilder überragen alle
anderen: Im ersten, in den Vorspann eingeschnittenen liegt
Marie Antoinette im Nachthemds auf einem Sofa. Eine Dienerin
pedikürt sie, und im Raum in beigen Pastellfarben stehen
lauter rosafarbene Torten. Kirsten Dunst schaut direkt, verführerisch
und ironisch lächelnd in die Kamera, so als wolle sie
sagen: "Das mit dem 'dann sollen sie doch Kuchen essen'-Spruch
wäre dann schon mal erledigt."
Das zweite Bild ist ein Maskenball. Die Gesellschaft tanzt
zu moderner Popmusik, fast wirkt es wie ein Rave. Plötzlich
ist der Film wilder geschnitten, bekommt die schon zuvor immer
präsente Ekstase durch die Bilder Luft. Da zeigt der
Film deutlicher, dass es ihm auch um Leidenschaft geht, darum,
dass auch im 18. Jahrhundert Girls manchmal einfach fun haben
und eine Nacht durchmachen wollten.
Das dritte Bild ist ein schneller Zusammenschnitt von Luxusgütern,
vor allem Schuhen. Mitten in den ganzen kostbaren 18-Jahrhundert-Schuhen
sieht man einen kurzen Sekundenbruchteil lang ein hellblaues
Paar Converse-Schuhe. Auch wenn sich so ein Moment - sofern
ich nichts übersehen habe - nicht wiederholt, sagt er
alles über die Haltung der Regisseurin.
MARIE ANTOINETTE ist, wie von Coppola gewohnt, nicht sehr
plottig. Sie erzählt nach seltsam zögerlichem Beginn
lässig, driftet durchs 18. Jahrhundert, reiht Szenenfragmente
aneinander ohne die von Dramaturgen gern verlangten Emotionskurven
und Höhepunkte. Sie verwendet fast nur moderne Musik,
und für ihre Vorliebe für Pastellfarben gibt die
Epoche reichlich Nahrung.
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Wie gesagt, die Reaktion ist gespalten. Aber das ist besser,
als die früher erwähnte Gemeindebildung oder das
lauwarme Einverständnis, das hier viele Filme erfahren.
"Da versteht man wenigstens, warum es eine Revolution
gegeben hat." sagt zum Beispiel Knut Elstermann nach
dem Film, ein völliges Missverständnis, denn die
Dekadenz, die Coppola natürlich mit dieser Versailler
Überflussgesellschaft auch beschreibt, ist unsere eigene.
Mit Pop meint Knut könnte man natürlich alles entschuldigen.
Stimmt, aber mit so einem Satz kann man sich auch alles vom
Leib halten. Und um Gefühle müsste es doch gehen,
so etwas wie Erschütterung, Wonne, oder meinetwegen eben
auch Ekel. Hauptsache nicht lauwarm.
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Im Wettbewerb gab es auch noch Lucas Belvaux' LA RAISON DU PLUS FAIBLE
("Das Recht der Schwachen"). Von Belvaux hatte man
vielleicht etwas mehr erwartet, als das. Es beginnt zwar hervorragend,
fast als Dokumentarfilm: Ein Riesenmagnet hebt tonnenschwere
Stahlplatten in einen LKW. Dann werden Arbeitsverhältnisse
gezeigt, das Leben von vier Menschen, Geldnöte, Arbeiterstolz,
als Kartenspieler in der Kneipe lernen sie sich kennen. Eine
Situation wird beschrieben - hier zeigt sich die Meisterschaft
dieses Regisseurs. Zum running gag wird, dass Maschinen nicht
funktionieren. Der Vater hilft dem Sohn, lehrt ihn Psalme.
Aber zu klein, zu neckisch und zu niedlich ist das Glück
der Arbeiter, als dass wir es wirklich glauben können
(und wollen). Pathetisch, sozialmoralisch, pädagogisch
fließt der Film dahin und mutiert zum Genrestoff, den
man zwar gern sieht, den aber so die Asiaten 1000mal besser
inszenieren. Denn das Recht der Schwachen ist die Freiheit
zu einem Raubüberfall, der vorhersehbar schief läuft.
Der letzte Räuber wirft das Geld von einem Hochhaus den
Schaulustigen zu, und wird dann von Scharfschützen der
Polizei wie ein Wild abgeknallt, und die Kamera reißt
auf und fliegt über die Stadt - so ist alles hier, heißt
das wohl - die Welt ist böse, das Kapital erst recht.
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Das Gegenteil solcher Herzenswärme garantiert schon
der Name Bruno Dumont. Bisher mein persönlicher Favorit.
FLANDRES ist eine Ehrenrettung des europäischen Autorenfilms,
gerade weil er unter anderem auch ein Gegenkino ist zu allem,
was man bisher hier gesehen hatte: Keine bloße Selbstwiederholung
und keine Niedlichkeit der reinen guten Menschen in einer
bösen, bösen Welt. Und keine wiederauferstehenden
Mütter. Dumont zeigt ganz nebenbei, wie unbedeutend diese
Luxusprobleme und Luxuskonflikte im Grunde sind, die die anderen
Filme beschäftigen. Und dass man den Krieg auch ganz
anders zeigen kann, als Ken Loach.
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Denn um den Krieg geht es, unter anderem. Dumont, der sich
bereits mit LA VIE DE JESUS, L'HUMANITÉ und 29 PALMS
um die Nachfolge von Michael Haneke bemüht hat, zeigt
Reflexionen über die Gewalt und Desastres de la Guerra.
Vielleicht heißt der Film auch schon darum FLANDRES,
weil man an den Ersten Weltkrieg denken soll, und an die gefürchteten
flandrischen Landsknechte aus dem 30jährigen Krieg. Später
wird man auch Soldaten sehen, die reiten, wie die Soldaten
auf Bildern des Barock. Dumont beginnt mit Szenen aus dem
Bauerleben in Nordfrankreich. Tatsächlich erinnern sie
in Komposition und Farbumgang auch an niederländische
Landschaftsmalerei. Das Leben ist primitiv und stupide. Es
ist kalt, es ist feucht, die Leute sitzen im Matsch, am Feuer.
Man sieht André, einen jungen Bauern. Er füttert
die Schweine, fährt Traktor, putzt den Stall und schläft
ab und zu mit Barbe, seiner Freundin aus der Jugendzeit. Er
liebt Barbe, die aussieht, wie die Mädchen bei Vermeer,
kann das aber nicht sagen, wie er sowieso nicht viel sagt.
Und wenn ihn die Leute darauf ansprechen - "Ich denke
ihr seid ein Paar" - leugnet er seine Liebe. Barbe liebt
auch André, aber weil er es nicht sagen kann, und sie
sein Schweigen nicht erträgt, schläft sie auch mit
anderen Männern, und im Dorf sagt man, sie eine Schlampe.
Dabei ist sie eigentlich das Gegenteil, ganz unschuldig.
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Dann werden André und Blondel, Barbes neuer Lover,
zum Militär eingezogen. Am letzten Abend sitzt sie zwischen
den zweien und knutscht mit beiden: "I don't want you
to leave, I don't want you to leave."
Am nächsten Morgen singen sie die Marseillaise. Dann
dienen sie in irgendeinem schmutzigen Krieg - den die amerikanischen
Zeitungen als Golfkrieg identifizieren, aber da kämpfen
die Franzosen nicht - als Kavallerie in der Wüste. Man
erinnert sich an Claire Denis' BEAU TRAVAIL, so verloren sieht
der Haufen in der Landschaft aus. Es könnte all das im
19. Jahrhundert spielen, man assoziiert Koloniales, Imperiales,
ein Hauch von Malicks THE NEW WORLD auch, der Film benutzt
diese Impressionen, um sie zu brechen.
Denn er zeigt kurz und lakonisch den Krieg gegen Kindersoldaten,
einen Hinterhalt, französische Soldaten, die töten
und morden und vergewaltigen - wie im Roman "Blood Meridian"
ein sinnloses gewalttätiges Dasein aus Zufälligkeit
und Amoral; Facetten der Brutalität, wie vorher Facetten
der Weißtöne in der flandrischen Winterlandschaft.
Jetzt werden sie gefangen, viele getötet, gefoltert,
André und Blondel entkommen, Blondel verwundet, André
lässt ihn zurück. Barbe zuhause hat derweil auf
beide gewartet. Als sie André sieht ruft sie: "
I hab gesehen, was Du getan hast. Du hadt Zivilisten getötet
und hast ihn zurückgelassen." Er leugnet. Dann gibt
er zu: "You were right, I am a bastard." Sie umarmt
ihn. Er: "Je t'aime." - "Moi aussi." Und
der Film ist aus.
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Man muss es sehen, hier mehr noch als sowieso. Eine Geschichte
über die Unschuld am Anfang. Den Sündenfall. Die
Beichte am Ende, die Befreiung und Liebe zur Folge hat - ein
Film, der von Bresson stammen könnte, aber eigentlich
noch besser ist. Das alles in Dumonts Stil, aber atmosphärisch
dichter denn je, traumwandlerisch und emotional, mit Anspielungen
und Verweisen souverän spielend, ein Film, den man lässig
nennen müsste, wäre er nicht so streng. Ein Meisterwerk
und eine logische Goldene Palme.
Rüdiger Suchsland
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