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München 2006 20.07.2006
 
 
 
Die zwei Bichlers oder: Mach' Dich nackert, Sepp!

"Hier wird KUNST gemacht!"
Josef Bierbichler in WINTERREISE

 
 
 
 

Zum Eröffnungsfilm WINTERREISE

In der Theorie, ja in der Theorie, da ist das eine gute Sache: Als Eröffnungsfilm mal nicht irgendwas gediegen Kunsthandwerkliches, Internationales, bei dem ein Boulevard-Berichterstattungs-tauglicher Star auftritt. Sondern ein einheimisches Gewächs, mit engeren Beziehungen zum Münchner Filmfest, was Schwieriges und Kantiges. Sepp Bierbichler statt Scarlett Johanssen: Ein Statement, ein Zeichen, eine programmatische Erklärung, Kampfansage. (Wenngleich in Wahrheit möglicherweise eine Notlösung, weil man was Internationales, Gefälliges mit Star nicht mehr bekommen hat - aber auch dann eine durchaus bekenntnishafte Wahl aus dem vorhandenen Pool an Filmen.)
Eine weitere wichtige Station des beharrlichen Reformkurses, mit dem Andreas Ströhl das Filmfest von seinen eingefahrenen Strukturen weglenkt und ihm eine neues - und uns persönlich deutlich sympathischeres - Profil verpasst. Wir halten es ja für keinen Zufall, dass Ströhl mit seinem Vollbart äußerlich immer mehr Hans Hurch zu ähneln beginnt, dem Leiter der Viennale, unseres erklärten Lieblings-Filmfestivals.

Aber: Die Praxis. Tja, die Praxis. Die heißt WINTERREISE, ist der zweite Film von Hans Steinbichler, dessen Debut HIERANKL 2003 in München den "Förderpreis Deutscher Film" zugesprochen bekam.
Und wie sollen wir sagen... Vielleicht so: Bei der Pressevorführung im Filmmuseum letzte Woche waren die Toiletten kaputt, was sich bis in den Vorführsaal olfaktorisch bemerkbar machte.
Uns schien's wie die perfekte Umsetzung der alten Idee vom Geruchskino.

Jetzt mögen wir freilich alle den Bierbichler Sepp narrisch gern. Und schauen ihm bereitwillig bei allem zu, was er auf Bühne und Leinwand zu tun beliebt. Aber just da liegt das Problem. Regisseur Steinbichler geht's offenbar genauso; in einem Interview hat er unlängst gesagt, seine einzige Idee zu diesem Film sei zunächst gewesen: "Sepp Bierbichler".
Und Bierbichler ist - so ungefähr wie damals Klaus Kinski selig - auf der gefährlichen Grenze zwischen echtem Schauspieler und "bloßem" Phänomen. Sich von der Leine, sein Repertoire an Typischem vom Stapel lassen, das kann er nur zur leicht. Er braucht Stücke und Regisseure, die dagegenhalten. Die einbremsen, in Bahnen lenken, ihm Subtilität abverlangen und echte darstellerische Arbeit. Steinbichler aber will nur die große Sepp Bierbichler-Show.
Und die kriegt er, und präsentiert sie, dass man nicht weiß, welcher von den beiden -bichlern, der Bier- oder der Stein-, da verliebter ist in all die Manierismen und gewollten, vorhersehbaren Exzesse. Das ist alles besoffen von einer Begeisterung für sich selbst, von einem ständig sich selbst auf die Brust klopfenden Gefühl von "Mei, san mir krass." Der Bierbichler Sepp sagt bestimmt fünzig Mal "Arschloch", weil's halt so schön ist, ihn "Arschloch" sagen zu hören; der Bierbichler Sepp macht sich nackert, und zwar zweimal, weil's halt so krass ist, wenn er sich nackert macht; der Bierbichler Sepp haut gegen Bleche und schmeißt Regale um (teils nackert! krass!), und schnauft und schnaubt und tobt und schreit.
Und man nimmt es (zumindest anfangs) amüsiert hin - aber fast nix davon geht tiefer, berührt, tut weh. Weil es eben nur ein Bierbichlersches Schaulaufen ist statt echter Schauspielerei, weil es sich viel zu wenig drum kümmert, eine wirklich glaubhafte Film-Figur entstehen zu lassen.

Bierbichlers vorgeblicher Filmcharakter ist der alternde Wasserburger Baumarkt-Zulieferer Franz Brenninger, dessen Geschäfte zunehmend schlecht laufen - die Großen der Branche schanzen sich die Aufträge gegenseitig zu, die Zahlungsmoral seiner Kunden ist miserabel. Seine Frau (Hannah Schygulla - eine ambivalente Person...) droht zu erblinden, bräuchte eine Operation. Was ihn alles nicht daran hindert, seine Freizeit mit Huren zu verbringen. Dazu kommen psychische Probleme - was vielleicht mal als typisch bayerisch-grantige, kompromissunbereite Art Brenningers begann, artet immer mehr aus, auch wenn er das nicht einsehen will. Brenninger steigert sich in die Vorstellung hinein, ein dubioses Geldverschiebe-Angebot aus Kenia könnte ihm den Ausweg zumindest aus der finanziellen Krise bringen; selbstverständlich ist es eine dieser im Internet üblichen Trickbetrügereien, die ihn auch noch die letzten stillen Reserven zu kosten droht.
Eigentlich also keine uninteressante Figur - wenn es den Film halt interessieren würde, sie stimmig zu zeichnen, statt sie nur als Austob-Sprungbrett für Bierbichler zu nutzen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Dieser Mann um die Sechzig aus der Handwerkerbranche in der Provinz hört in dem Film daheim zeitgenössischen Indie-Rock, einen schlechten Radiohead-Abklatsch mit dem ach so symbolträchtigen Refrain "I'm going insane". Nicht, weil es irgendwie glaubhaft zu dem Charakter passen könnte, sondern weil es Bierbichler die Gelegenheit gibt, rumzuschreien "Des is da Wahnsinn!".
Solcher falscher Töne sind in WINTERREISE unzählige - und selbst da, wo etwas stimmig sein könnte, ist immer erstmal das Bedeutungsgehubere und der aufdringlich zur Schau gestellte Kunstwille da, bevor sich etwas entfalten könnte. Kaum eine Einstellung, die nicht plärren würde "Hier wird KUNST gemacht!" - und wie meist ist das der sicherste Weg zum bloßen Kunsthandwerk, dem die Prätention nur so aus dem Mund schäumt.

Zu dieser Prätention gehört - der Titel läßt's hinreichend ahnen -, dass auch der arme Franz Schubert herhalten muss, um Brenningers Abstieg in Wahn, Verzweiflung, Tod zu begleiten und zu mystifizieren. (Wem Schubert nix bedeutet, der darf diesen Absatz überspringen und es ungerührt hinnehmen, was für eine Hin- und Herrichtung der radikalste aller Liederzyklen in Steinbichlers Film widerfährt.)
Das geht los damit, dass Brenninger bei einer nächtlichen Autofahrt geradezu überfallen wird von einer Aufnahme von "Der Wegweiser", sie ihn fast buchstäblich aus der Bahn wirft. Soweit ist das, wenn man für Schubert empfänglich ist, durchaus plausibel. Aber was eine garstige Aufnahme, die der Film da verwendet - offenbar eigens für den Soundtrack eingespielt, um Lizenzgebühren zu sparen: Ein larmoyantes Gesülze mit Fischer-Dieskau-Allüren (und Fischer-Dieskau im Original wäre schon schlimm genug gewesen...). Genau an dem vorbei, was Schubert groß macht - seine erbarmungslose Klarsichtigkeit, diese Ausweglosigkeit jenseits jeden Melodrams und Greinens zur Schnulzigkeit umgebogen.
Später muss man noch eine "Interpretation" des Eröffnungslieds des Zyklus von Hannah Schygulla über sich ergehen lassen, die so gewollt, unverständig und daneben ist, dass wir uns lieber gar nicht nochmal genauer dran erinnern wollen. Und dann gibt's gegen Ende noch von einem zufällig nach Kenia verschlagenen deutschen Schubert-Fan einen kleinen Volkshochschul-Vortrag über die "Winterreise", der zielstrebig alles zu beschreiben vermeidet, was wirklich an den Kern von Schuberts Genie rankäme. Plus eine melodielose, aber im neuneinhalbten Monat bedeutungsschwangere Rezitation des "Nebensonnen"-Gedichts, als wäre es Müllers zweifelhafte Lyrik, in der die Größe der "Winterreise" läge und nicht in dem, was Schuberts Musik damit und daraus macht.
Der einzige halbe Lichtblick ist dabei der Bierbichler Sepp, der auch zum Liedvortrag kommt, u.a. des "Leiermanns". Bierbichler hat ja mit dem Uri Caine-Ensemble schon Liederabend-Projekte gemacht, die relativ gelungen manch bittere Perle des (spät-)romantischen Repertoires vom Schleier des Schmalzes und der Schönheit befreit haben. Und auch hier ist Bierbichlers brüchige Fistel-Gesangsstimme nicht ganz fehl am Platze, geht's schon in die richtige Richtung. Wenn's auch noch einen Tick zu gewollt, zu inszeniert, zu wenig schlicht und von Herzen ist, um wirklich zu erschüttern.

Was einen an all dem Kunst- und Bedeutungsanspruch, den WINTERREISE schubkarrenweise vor sich herschiebt, aber letztlich wirklich so fuchsig machen kann, das ist, wie feige er sich mit seinem Hyper-Poetisieren vor allem drückt, wo's wirklich interessant würde.
Es ist ja schlimm genug, die Schygulla solch Bleisätze aufsagen zu hören wie "Franz. Was ist in Dir drin? Lass es heraus. Dann können wir es teilen". Aber wenn's schon sein muss, dann doch bitte in einem Film, den's wirklich interessiert was drin ist, im Franz.
Die Widmung des Films lautet "Für unsere Väter", und man darf vermuten, dass Steinbichler, Jahrgang 1969, und Drehbuchautor Martin Rauhaus, wohl ein Generationsgenosse, in einem Alter sind, wo man sich tatsächlich damit auseinandersetzen muss wie's ist, wenn die Väter alt werden und vielleicht auch sonderbar. Es gibt ein paar wenige Szenen, in denen Brenningers Monomanie wirklich in den Kontext seiner Familie gestellt wird, wo man ihn mit seinen ratlosen, erwachsenen Kindern sieht, die ihn nicht einmal soweit bringen können, dass er eingestünde, dass er ein Problem hat.
Da keimt eine Ahnung davon auf, dass Brenningers psychische Krankheit eben nicht nur im romantischen Bild des irgendwie immer heiligen, attraktiven Wahns abzuhandeln wäre, sondern dass es reale Schmerzen, reale Komplikationen gäbe, denen nachzugehen den Film auf wirklich krasses Terrain führen hätte können.

Aber da will er nicht hin. Statt dessen setzt sich diese Winterreise lieber nach Afrika ab.
Vorgeblich, weil Brenninger sein Geld zurück will. Wobei er sich von der jungen Laila als Dolmetscherin begleiten lässt (die bezaubernde Sibel Kekilli hat leider kaum mehr als dekorative Funktion, ihre Filmfigur so gut wie keine eigene Geschichte - außer, dass sie en passant kurz auch noch etwas Kurdenproblematik in den Film bringt, weil sich das ja immer gut macht).
Aber in Wirklichkeit ist das alles bloß eine Flucht ins Mythische, Pseudopoetische. Wobei paradoxerweise in den Sequenzen in Kenia erstmals ein Gefühl von wahrem Leben zumindest in die Ränder der Bilder kommt. Und zwar einfach, weil sich dort die Produktionsbedingungen offenbar weniger kontrollieren ließen, weil man dort wirklich auf offener Straße ohne Absperrungen gedreht hat. Man wird dabei den Verdacht nicht los, dass eine Doku über das deutsche Drehteam mit seinen Prätentionen in Konfrontation mit der afrikanischen Wirklichkeit eine Polt-würdige Realsatire abgeben würde.
Dem Film ist aber diese Wirklichkeit im besten Fall egal, im zweitbesten unangenehm. Im schlimmsten Fall versucht er, sie für seine verstiegenen Zwecke zu missbrauchen. Es gibt eine Szene, da wird das vollends bäh: Da sitzen in einer Seitengasse ein alter, anscheinend kranker Mann und ein kleiner Junge in einem Haufen Dreck, und Bierbichler gesellt sich zu ihnen, lehnt sich neben ihnen in halber Hocke an die Wand, will sich aber offensichtlich nicht ganz zu ihnen setzen, sei es, weil es ihm vor dem Müll am Boden graust, sei es, weil ihm selbst zu peinlich ist, wie da das echte Leiden zweier Menschen zum bloßen Schauwert gemacht wird für diese "Kunstscheiße" (um mal ein schönes Kaurismäki-Wort für diese Art von Filmen zu verwenden).
Von solchen unfreiwilligen Statisten abgesehen, ist das Fantasie-Kenia von WINTERREISE nur von Pappkameraden bevölkert - einem fiesen deutschen Botschafter, der einem trashigen '70er-Jahre-Thriller entflohen sein könnte; dem schon oben erwähnten Schubert-Sammler, der eher wie die Schultheater-Version einer Graham Greene-Figur wirkt; und den bösen afrikanischen Trickbetrüger.
Was der Film aber eigentlich sucht in Kenia, das ist die Kitschvorstellung vom "Mythos Afrika", ein Land der Magie, Weisheit, Natürlichkeit, also das volle Programm postkolonialistischer Romantisierung.
Und in dieser "poetischen" Kulisse kann der Brenninger sich dann (offscreen) aufhängen, und es ist super. Weil die Familie daheim bekommt ja noch ein Geld, wird also bestimmt total happy sein. Und Lailas Stimme verzapft uns beim Panorama eines afrikanischen Sonnenuntergangs, dass der Tod der eigentliche Beginn des Lebens sei. Somit der Brenninger also sein Glück gefunden hat und alles ganz wunderbar ist.
Und das schwurbelt so rührend und versöhnlich und lyrisch daher, dass man sich tatsächlich für ein paar Zehntelsekunden einlullen lassen könnte - bis einem schlagartig klar wird, wie sehr gelogen und falsch das alles ist, und wie feige es alles unter den Teppich zu kehren versucht, was es sich anfangs an Themen auf's Tablett geladen hat. Nein, nein und nochmals nein: Der Tod IST nicht der Anfang des Lebens. Und dass Brenninger Selbstmord begeht, wird nicht dadurch gut und schön, dass er es in beeindruckenderer Landschaft tut als in Wasserburg am Inn.
Aber an diesem Ende ist halt kein Bierbichler mehr in dem Film, der täte, was nötig wäre. Nämlich mal ganz laut "Scheiße!" schrein.

Thomas Willmann

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