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Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Bring ihn aus seinem
vertrauten Rhythmus, und er reagiert schnell verstört
oder unwirsch.
Slebstverständlich war es die einzig richtige Entscheidung,
mit dem diesjährigen Filmfest München der Fußball-WM
auszuweichen. Alles andere wäre - mal von logistischen
Fragen wie der Unterbringung der Gäste ganz abgesehen
- für ein erklärtes Publikumsfestival grenzsuizidaler
Unfug gewesen.
Trotzdem: Die Verschiebung nach hinten hat dem Filmfest auch
nicht wirklich gutgetan. Zum einen, weil die meisten wohl
einen Gutteil unseres ungeahnt großen Euphorie-Reservoirs
im Zuge der WM doch ziemlich gründlich ausgeschöpft
hatten, und es nicht leicht war, jetzt schon wieder - und
für ein solch deutlich insuläreres Ereignis - einen
neuen Begeisterungsschub aufzubringen. Zum anderen, und entscheidender,
aber einfach, weil man halt doch auch übers Jahr hinweg
eine innere Uhr hat, und auf dieser der über Jahre hinweg
angewöhnte Zeitpunkt fürs Münchner Filmfest
und das damit verbundene "Freuen Sie sich jetzt!"
schon durch war. Im unterbewussten Kalender war man schon
beim Eintrag "Sommer!!!" angelangt, vom Wetter auch
prächtigst bestätigt. War ähnlich wie Geburtstag
ein, zwei Monate später nachfeiern: Geht schon, wenn's
sein muss, aber es wirkt viel weniger wichtig, viel beliebiger
als zum eigentlich gegebenen Zeitpunkt - man hat sich innerlich
schon damit abgefunden, dass es auch mal ein Jahr ausfallen
könnte, und dass das gar nicht so tragisch wäre.
(Dass ab Mitte des "normalen" Filmfests zeitgleich
auch noch das etwas vorverlegte Fantasy Filmfest mit einem
der stärksten Programme seit Jahren anlief, half im übrigen
auch nicht, sich wirklich auf das Ereignis zu konzentrieren.)
Kurz: Man wurde nie so recht den Eindruck los, dass insgesamt
das entscheidende Quäntchen Lust fehlte, dass vielem
eher ein "going through the motions" anhaftete als
dass es von einem inneren, freudigen Bedürfnis angetrieben
würde.
Freilich ist so ein Eindruck höchst selektiv und subjektiv.
Und er wäre bei mir wohl auch so zumindest deutlich weniger
stark entstanden, wenn osteuropäisches Kino und das Gesamtwerk
des Makhmalbaf-Clans - zwei der Schwerpunkte dieses Jahr -
nicht so ganz und gar nicht meine cineastischen Baustellen
wären. Immerhin machten Vorstellungen und Feiern tatsächlich
einen spürbar weniger stark besuchten Anschein als in
den letzten Jahren, und diverse Freunde und Kollegen, mit
denen ich gesprochen habe, hatten auch das Gefühl, dass
diesmal das richtige Prickeln von vornherein gefehlt hat.
Insofern war's also zumindest ein INTERsubjektiver, selektiver
Eindruck...
Das Gute daran aber war, wie angenehm positiv man sich dann
vom eigentlichen Programm überraschen lassen konnte.
Denn zugegeben: Ein zum Enthusiasmus-Mangel ebenfalls beitragender
Faktor war, dass der Vorab-Blick auf's Filmangebot bei mir
nur eine sehr kleine "Sehen muss!"-Liste gezeitigt
hatte. (Wie gesagt: Selektiv, subjektiv, weil Osteuropa und
Makhmalbafs nicht meins, und von Mike Figgis die meisten Filme
schon gesehen, meist auch gemocht, aber wenig Drang, sie jetzt
nochmal alle in der Gesamtschau zu gucken...)
Was wohl auch mit ein Verschulden des Katalogs und des Programmmagazins
war: Freilich sind die Bedingungen, unter denen die entstehen,
zwangsläufig nicht optimal, da sich die Redaktionen bei
sowas fast immer auf (oft genug spärliche) Informationen
aus zweiter Hand stützen müssen. Aber diesmal wurden
etliche Filme doch sehr unter Wert angekündigt, wurde
in den Texten vieles glatter, langweiliger, belangloser geschrieben
als es war, selten herausgestellt, was einen Film besonders
machte, zu wenig Lust auf Entdeckungen geschürt. Dass
die Informationen dann oft nicht nur zweifelhaft, sondern
teils der deutsche und englische Katalogtext direkt sich widersprechend
waren (siehe z.B. ART SCHOOL CONFIDENTIAL), war dann erst
recht nicht hilfreich.
Geringe Erwartungen lassen sich gut übertreffen
So also waren die Erwartungen erstmal ziemlich niedrig angesetzt.
Aber dann, siehe da!: Unter rund zwei Dutzend Filmen (zugegeben,
nicht gerade Rekordsumme für ein Filmfest, aber es war
wie gesagt parallell Fantasy Filmfest) nur ein für mich
wirklich ärgerlicher Film. Und das war der Eröffnungsfilm
WINTERREISE, über den ich anderntags ja bereits genug
gegiftet habe. Sonst aber war selbst unter den Filmen, in
die mich ohne große Lust mehr die Gunst oder Ungunst
des Terminplans verschlagen hatte als die großen Erwartungen,
keiner, dessen Besuch ich nachher bereut hätte. Und das
spricht dann doch sehr für die Programmauswahl.
Klar, da war auch der ein oder andere, bei dem es rückblickend
genauso wenig zu bereuen gewesen wäre, ihn NICHT gesehen
zu haben. Aber jeder davon hatte IRGENDWAS, das ihn auszeichnete:
Die in recht unattraktivem HD-Video-Look gedrehte New Yorker
Beziehungs- und Psychoanaylse-Komödie THE TREATMENT zum
Beispiel, auch wenn's insgesamt in Richtung Woody Allen für
Arme ging, die stets wunderbare Famke Janssen. Oder der eine
Tick zu zähflüssige, wenngleich schön düstere,
argentinische Thriller EL AURA einen sehr interessanten Umgang
mit der Musik - melodisch amorph, harmonisch lange, lange
auf einzelnen Harmonien ruhend, diese Flächen aber klanglich
und manchmal durch Reibungstöne aber ständig unter
Spannung haltend. Und wenn Deepa Methas WATER letztlich zu
gediegen, zu rührselig, zu sehr auf die "message"
und zu wenig auf die Realität des Schmerzes konzentriert
war, so fing er doch an mit großem Gespür für
die kleinen Details, Randbeobachtungen, Stimmungen, Texturen,
die einer eigentlich zu bewusst KONSTRUIERTEN Geschichte eine
sinnliche Wahrhaftigkeit geben können.
Oder, wieder auf die andere Seite des Globus, der französische
MEURTRIÈRES: Klar, inzwischen sind solche Filme schon
ein eigenes Genre, über zwei Mädchen, die von der
Gesellschaft die Schnauze voll haben, deren Freundschaft zum
Katalysator wird und deren zielloses Road-Movie-Mäandern
durchs Land in mörderischer Gewaltentladung gipfelt.
Und Patrick Grandperrets Film gewinnt diesem Genre keine grundlegend
neuen Facetten ab. (Wobei man zu seiner Ehrenrettung sagen
muss, dass Grandperret mit MEURTRIÈRES ein Projekt
realisierte, an dem Maurice Pialat schon in den 1970ern zu
arbeiten begonnen hatte, also lang vor BAISE-MOI und Co.)
Aber er hat zwei Hauptdarstellerinnen, die den konkreten Moment
immer fesselnd machen, auch wo er im Prinzip altbekannt und
ausgelutscht sein müsste.
Bei MEURTRIÈRES ist's schon schwer - zum Glück
aber auch nicht wirklich nötig - zu sagen, ob er noch
in die "Nicht bereut"- oder schon in die "Schön,
mit nur ein paar Wermutstropfen"-Kategorie fällt.
Dies gehobene Mittelfeld war beim diesjährigen Filmfest
(oder zumindest meiner persönlichen Auswahl aus dessen
Angebot) besonders gut vertreten. Und an dieser "Preisklasse"
kann man vielleicht besser als an allem anderen ablesen, dass
das Festival unter Andreas Ströhl prinzipiell auf dem
richtigen Kurs ist.
Meisterwerke sind eher Glückssache für ein Festival
wie das Münchner: Ein Filmjahrgang muss sie überhaupt
erstmal bieten, und dann müssen sie herzubekommen sein,
was bei allen, die mit großen Namen verbunden sind,
heutzutage hauptsächlich eine Frage von Verleihpolitik,
PR-Kampagne und günstigem Timing ist.
Der Mittelbau hingegen ist, weil er aus einem größeren
Pool schöpfen kann, meist weniger von äußeren
Zwängen diktiert, läßt mehr auf den wahren
"Geschmack" eines Festivals schließen. Und
da lassen die diversen Reihen freilich nach wie vor die "Handschrift"
ihrer großteils langjährigen Betreuer erkennen,
aber die Gesamtausrichtung auch zunehmend den Einfluss des
(nicht mehr ganz) neuen Leiters. Was sich da weiterhin abzeichnet
ist nicht nur die grundsätzliche, schon in den letzten
Jahren beschriebene (und sicher unter anderem auch ganz pragmatisch
durch den Kollaps des Kirch-Imperiums bedingte) Trendwende
von einem Branchentreff für deutsche Fernsehschaffende
mit Kino-Deckmäntelchen und -Anhängsel wieder hin
zu einem echten FILMfest. Sondern auch eine alles in allem
gute Nase für eine Art von Kino, die dem nicht übertrieben
avantgarde-freundlichen Münchner Publikum zumutbar ist,
ohne zu sehr in dem faden, bildungsbürgerlichen, studienratsbeglückenden
Betroffenheits-Weltkino-Filmpampf abzusaufen, der inzwischen
nicht nur eine eigene Art, sondern eine regelrechte eigene
Geschäftsform von Kino darstellt, die vermutlich nur
existiert, weil es a) weltweit entsprechende Fördertöpfe
und b) einen permanenten, internationalen Bedarf von Filmfestivals
an Abspielfutter gibt. Und natürlich c) einen unerschöpflichen
Vorrat von Leuten mit Problemen und Mitteilungswillen, die
solche Filme machen.
(Ich wage zudem die Prognose, dass sich das Ganze mit dem
ja doch irgendwann mal absehbaren Abschied Klaus Eders vom
Filmfest nochmal merklich in Richtung eines vielfältigeren,
lebendigeren, ästhetisch innovativeren Cineastentums
entwickeln könnte, dürfte, sollte. Müsste.)
Irgendwas ist immer
Jedenfalls: Eine besonders dankbare Fundgrube für das
obere Mittelfeld, für schöne Filme mit nur leichten
Macken war, einmal mehr, die bewährte American Independents-Reihe.
Da gab's z.B. Andrew Bujalskis MUTUAL APPRECIATION, der in
bewusster LoFi-Ästhetik ein wirklich schön treffendes
Stimmungsbild hintuschte von der New Yorker Möchtegern-Jungkünstler-Szene,
wo alle kreativ sind und intellektuell, aber auch latent verhaltensgestört.
Alle mit den großen Träumen und den kaum vorhandenen
realen Ergebnissen, Erfolgen. Und die Hauptfiguren auch noch
mit einer schwierigen potentiellen Dreiecksgeschichte beschäftigt,
an der aber schön undramatisch rumerzählt wird.
Insgesamt war's mir dann nur um ein, zwei Viertelstündchen
zu geschwätzig, und es nährte sich zunehmend der
Verdacht, dass eine der großen Qualitäten des Films,
nämlich dass er die Figuren und das Milieu mit einem
liebevollen, aber insgeheim doch auch entlarvenden Blick zeigt,
ein unbeabsichtigtes Zufallsprodukt ist und dass Bujalski
selbst viel tiefer in der porträtierten, eigenwilligen
Daseinsform drinsteckt als zunächst vermutet. Was ja
letztlich aber auch ganz wurscht wäre. Absicht oder nicht
- es zählt, was da ist.
(Ich hätte den Film übrigens auch gern mit Bujalskis
Vorgängerwerk FUNNY HA HA verglichen, aber bei dem schlug,
wie bei so manch anderem Streifen, der Fluch des viel zu kleinen
Akkreditierten-Kartenkontingents zu. Gewiss, reguläres
Publikum geht vor, aber ich wage zu behaupten, dass bei etlichen
Filmen der zu erwartende Andrang einfach schlecht eingeschätzt
wurde und man sie oft grade zu den "Hauptgeschäftszeiten"
in zu kleine Säle programmiert hatte. Das Problem war
zumindest viel eklatanter spürbar als in den letzten
Jahren, obwohl der Publikumszuspruch insgesamt eher unter
dem gewohnten Niveau zu liegen schien...)
Ziemlich groß war bei den American Indies NEIL YOUNG
- HEART OF GOLD. Der hatte alles, was einen perfekten Konzertfilm
ausmacht: Einen bedeutenden Performer auf der Bühne,
mit einer seiner wichtigeren, Karriere-Höhe- oder Wendepunkte
markierenden Shows. Und dann eine Regie, die einem das Gefühl
vermittelt, wirklich dabei zu sein, allerdings als besonders
privilegierter Zuschauer. Das hat Jonathan Demme schon mal
epochal bei STOP MAKING SENSE hinbekommen, und hier ist's
ähnlich: Nur am Anfang wird kurz die Szene bereitet,
das Konzert in Nashville und damit in der US-Musik-Historio-Geografie
verortet, werden die Musiker vorgestellt und in ein paar kurzen
ihrer Aussagen deutlich, dass "Prairie Wind" (das
Album, dem trotz des leicht irreführenden Titels der
Hauptteil des Konzerts gewidmet ist) für Young eine sehr
akute Auseinandersetzung mit Sterblichkeit und Tod war. Dann
filmt Demme "nur" das Konzert ab - und viele werden
wieder sagen, das sei ja nichts Besonderes. Aber die Kunst
liegt zum einen überhaupt darin, sich als Regisseur zurückzuhalten
und eben nicht dauernd Zeugs wie Interviews oder Backstageimpressionen
reinzuschneiden, das den Film "interessanter" machen
soll, aber nur ablenkt von dem, worum's eigentlich geht, nämlich
der Musik und der Konzertsituation. Und zum anderen hat Demme
ein zwar an der Oberfläche völlig unspektakulär
scheinendes, aber in Wahrheit enorm beeindruckendes Gespür
und Wissen für den Kern der Musik. Seine Inszenierung
der Songs ist nie beliebig, seine Kamera ist immer da, wo
gerade das Wichtige geschieht.
Alles super also; mein Problem damit war lediglich persönlicher
Natur: Ich schätze Neil Young sehr, aber ich kann mir
selten mehr als eine dreiviertel Stunde seiner Musik am Stück
anhören, ohne dass es mir dann vorerst wieder genug damit
ist.
Ein weiterer "Glücklich, aber dann doch nicht rundum"-Film
hätte eigentlich in die American Indies-Reihe gehört,
war aber irgendwie im "Internationalen Programm"
gelandet: Terry Zwigoffs Comic-Verfilmung ART SCHOOL CONFIDENTIAL
nach Daniel Clowes. Die vertändelt und verfranst sich
leider in ihrer zweiten Hälfte ein bisschen in einem
Krimi-Plot und verliert das Tempo und die Gag-Fülle ihres
Auftakts. Aber bis dahin schafft er (und das mit filmisch
sehr bieder scheinenden Mitteln), was wirklich nicht leicht
hinzubekommen ist: Ein gelungene Satire. Hier auf den Kunst(hochschul)betrieb
und die ihn bevölkernden Typen. Die ihm selbstverständlich
als Klischee- und Witzfiguren dienen, aber eben nie so, dass
sie einen Rest an Menschlichkeit und vor allem Glaubwürdigkeit
verlören.
13 (TZAMETI) hingegen war eins der unbestrittenen Highlights
des Festivals, verdankte das aber ganz und gar seinem famosen
Mittelteil - seinen Auftakt und sein Ende scheinen um den
eher etwas verlegen und ziellos herumgesponnen, damit ein
kompletter Spielfilm draus wird. Sein Kern aber ist schlicht
ein perverses Russisches Roulette-Varianten Turnier als Wettveranstaltung
- und wie er das, in Schwarz-weiß und Breitwand, mit
einer grandios ranzligen, schmutzigen Atmosphäre, einem
unerbittlichen Rhyhtmus und unglaublichen Typen, Physiognomien
konsequent und beinhart durchinszeniert, das ist einsame Klasse.
Und wird dann vollends atemberaubend, wenn er zwischendurch
Momente der Ruhe, des Wartens und der bizarren Melancholie,
schrägen Schönheit einschiebt. Eigentlich auch kein
Wunder, dass er da zum Schluss nichts mehr hat, mit dem er
das toppen könnte.
Der ganz umgekehrte Bogen zu ART SCHOOL CONFIDENTIAL, nämlich
erst pfui (na ja: nicht so toll halt), dann hui, war aber
beim Abschlussfilm LONELY HEARTS - ein Remake von HONEYMOON
KILLERS - zu erleben: Der lief am Anfang noch eher unrund,
wo er zu sehr einen auf film noir zu machen versuchte und
doch nur bei schlecht wiedergekäuten Klischees des Genres
landete. Und wo der Fokus noch mehr auf der Figur des Detektivs
lag, den ein komplett unüberzeugender John Travolta spielt,
der permanent nur neben sich zu stehen scheint. Aber je mehr
dann das Heiratsschwindler- und Mörderpärchen ins
Zentrum der Aufmerksamkeit rückte, und je weniger sich
Regisseur Todd Robinson für Genre-Einkleidung interssierte,
je mehr ihm die Psychologie der Figuren zur Hauptsache wird,
um so spannender wurde das Ganze. Vor allem Salma Hayeks manipulativer,
grenzpsychotischer, von einer buchstäblich mörderischen
Sucht nach "Liebe" (oder dem, was sie dafür
hält) getriebener Charakter wird zu viel mehr als nur
einer femme fatale. Und wann immer LONELY HEARTS sich traut,
es schafft dahin zu gehen, wo's wirklich wehzutun beginnt,
dann wird er packend und manchmal auch für mehr als nur
einen Moment groß.
Die Filmwelt zu Gast bei Freunden
Man darf trotzdem davon ausgehen, dass es LONELY HEARTS nicht
in erster Linie wegen seiner filmischen Qualitäten zum
Abschlussfilm gebracht hatte, sondern weil er - gerade auch
als Gegengewicht zum Eröffnungsfilm - den für Aufmerksamkeit
bei Mainstream-Publikum und Boulevard-Presse unabdingbaren,
sogenannten "Hauch von Hollywood" versprach. Und
vermutlich den Hauch von (am Ende unerfüllter - schluchz!)
Hoffnung, dass Salma Hayek München einen kleinen Besuch
abstatten könnte. Na ja, immerhin war dann James "Tony
Soprano" Gandolfini da - ich hab' ihn aber leider verpasst.
Überhaupt kann man sich über die Gästeliste
dieses Jahr wirklich nicht beschweren, höchstens darüber,
dass das Filmfest damit nicht hinreichend hausieren gegangen
ist. Grade die Publikumsgespräche im Gasteig hätte
man deutlich lauter zu Markte tragen können und müssen.
Da gab's z.B. selbst gestandene, beim Filmfest akkreditierte
Terry Gilliam-Verehrer, die nicht mitbekommen hatten, dass
der Meister in der Stadt war. Dass mal wieder ausgerechnet
Robert Fischer dessen öffentliches Gespräch leiten
musste und es mal wieder mehr zur Selbstdarstellung nutzte
und weitgehend von Publikumsfragen abgeschirmt hielt ist ein
anderes Thema. Dafür nahm Gilliam ihn dann auch immer
wieder auf den Arm, womit Fischer nicht allzu souverän
umgehen kann. Und immerhin gab's unter all den längst
bekannten Kamellen zu Gilliams Karriere, bei seinen Monty
Python-Tagen angefangen, die Fischer brav chronologisch und
mit dem Unterton des Besserwissers abfragte (man wartet ja
immer drauf, dass er mal einen Interviewpartner korrigiert
und sagt: "Nein, was sie damals WIRKLICH wollten war
doch..."), dann doch auch eine brandaktuelle und sehr
hoffnungsfrohe Nachricht: Die Rechte an Gilliams spektakulär
gescheiterten Don Quichote-Projekt (siehe LOST IN LA MANCHA)
sind nach langem juristischem Streit offenbar wieder zurück
im Besitz der Produktionsfirma, und es gibt zumindest eine
gewisse Chance, dass er seinen Traumfilm doch noch eines Tages
vollenden wird können. Wetten sollte man zwar besser
noch nicht darauf abschließen, aber immerhin...
Und sehr schön auch der Auftritt von Jonathan Demme,
einem unserer langjährigen Favoriten (und das schon lang
vor, aber noch mehr nach SILENCE OF THE LAMBS), der im Sommertags-Freizeit-Outfit
inklusive kurzer Hosen auftauchte, weil er sich's ein bisschen
zu lang an der Isar gutgehen lassen und keine Zeit mehr zum
Umziehen hatte. Was eben einer der großen Vorteile des
Münchner Filmfests ist: Es geht für die internationalen
Gäste um keine großen Preise, der Medien- wie der
Zaungastsauftrieb ist nicht so groß, die Atmosphäre
halbwegs familiär, und es ist Sommer, und so sind die
meisten dann doch ziemlich entspannt, auskunftsfreudig und
zugänglich.
Ortstermin
Aber zurück zu den Filmen selbst. Bzw.: So ganz läßt
sich das ja nicht trennen, die Filme und die Umstände
der Vorführung speziell wenn die Filmemacher anwesend
sind. Und dafür sind Filmfestivals ja auch da - Kontext
zu liefern.
Wohl kein Film hat auf dem Filmfest München diesmal so
davon profitiert wie die Doku JOURNEY TO JUSTICE. Sie hätte
anderswo vermutlich nicht viel Aufsehen erregt, ihrer bieder-amerikanischen
Machart wegen und insbesondere angesichts seines unsäglichen
Musikeinsatzes (emotionalisierend gemeint, aber für jeden
mit auch nur Ansätzen von Geschmack allein insofern gefühlserregend,
als er Wut angesichts solch unangebrachten Kitschs entfachte).
Aber sie hatte eine starke Geschichte zu erzählen, und
zwar letztlich eine Münchner Geschichte: Howard Triest
war ein Bub aus einer assimiliert-jüdischen Münchner
Familie, die wie so viele andere plötzlich aus ihrem
gewohnten Leben gerissen wurde und vor dem Nazi-Terror quer
durch Europa fliehen musste. Nur er und seine Schwester haben
es bis in die USA geschafft, Eltern und Großeltern wurden
ermordet. Als GI ist er nach Deutschland zurückgekehrt,
war Übersetzer bei den Nürnberger Prozessen (genauer:
für den Psychiater, der die Angeklagten Nazi-Größen
im Gefängnis befragte). 1947 kam er ins zerstörte
München und hat dort umfangreiches 16mm-Filmmaterial
gedreht. Viel Mitleid für die deutsche Bevölkerung
konnte er damals nicht aufbringen, empfand die Zerbombungen
als angemessene Bestrafung für das Volk der Mörder
seiner und so vieler anderer Familien. Anlässlich des
Drehs von JOURNEY TO JUSTICE kehrte er in die Wohnung seiner
Kindheit zurück und schloss Freundschaft mit dem nun
dort lebenden, jungen deutschen Paar.
Was den Film besonders machte, abgesehen davon, dass die Bahn
von Triests Schicksal einen so geradezu drehbuchreifen Bogen
durch das 20. Jahrhundert zieht, war ihn in München und
in Anwesenheit Triests und seiner Schwester zu sehen. Das
große Problem aller Holocaust-Dokus (und letzlich aller
historischen Dokus) ist ja immer, dass sie diese letzte Bastion
der Wahrnehmung nicht durchbrechen können, die das Gezeigte
zu etwas Fernem, Fremden macht. Man WEIß, dass es sich
um Realität handelt, aber man FÜHLT es nicht. Zur
eigenen Lebenswirklichkeit fehlt ein entscheidender, kaum
zu überwindender Schritt. Und genau den half diese Münchner
Vorführung von JOURNEY TO JUSTICE, wo die Orte und Menschen,
um die es ging in so unmittelbarer Nähe waren, zu gehen.
Im Anschluss gab es dann noch Triests 16mm-Aufnahmen aus dem
zerbombten München zu sehen, stumm (bzw. nur mit Triests
Live-Kommentar) und in voller Länger. Auch wenn denen
Dramaturgie abging: Da war noch mehr zu spüren, welch
ein Gespür von Wahrhaftigkeit, welch - freilich gebrochener,
selektiver, transformierter - Blick wenigstens auf ein winziges
Teilstück einer vergangenen Realität möglich
ist, wenn man sich traut die Dokumente sprechen zu lassen.
Anstatt wie JOURNEY TO JUSTICE dauernd versucht, narrativ
wie emotional jedes dem Publikum verabreichte Bisschen an
Information zu kontrollieren und zu lenken.
Man muss dem Film aber zugute halten, dass er von einem Bekannten
der Familie Triest gemacht wurde, Steve Palackdharry, dessen
bisherige Arbeiten vor allem für das US-Public Broadcasting-Fernsehen
entstanden. Der also aus einer gewissen Doku-Tradition kommt,
die vorsichtig formuliert nicht gerade zu den reflektiertesten
und avantgardistischsten gehören. Ein Mann zudem, der
nicht den Eindruck machte, dass er sich selbst für einen
großen Meister des Mediums hält, sondern der einfach
im Rahmen seiner Möglichkeiten aus seiner Sicht so verantwortungsvoll
und engagiert mit dem (ihm zunächst eher fremden) Stoff
umgegangen ist, wie er konnte.
Bei allem, was ich gerade Negatives über die Machart
gesagt habe, merkt man dem Film doch zumindest die Redlichkeit
und Bemühtheit seines Regisseurs an. In der Hinsicht
gibt ihm der teils unbeholfene Einsatz der dokumentarfilmerischen
Mittel dann auch wieder etwas Menschliches.
Aber keine Frage: Besser noch sind Könner ihres Metiers.
Dass beim Dokumentarfilm das Können sehr oft grade in
der Zurückhaltung und Genauigkeit besteht, ließ
sich schön an MEIN ANDERES LEBEN - DER HOCHSTAPLERFILM
beobachten. Ein Film über vier Hochstapler/Trickbetrüger,
dessen Kunst zunächst einfach darin besteht, besonders
exemplarische (aber krasse) Vertreter dieser Spezies aufgestöbert
zu haben (alle zum Zeitpunkt der Interviews bereits inhaftiert)
und sie erstaunlich offen zum Reden zu bringen. Außer
etwas suggestivem Licht gibt es um diese "talking heads"
herum auch gar nicht viel Inszenierung, lediglich in zwei
Fällen gibt es noch zusätzliche Gespräche mit
Menschen, die ein bisschen Außenperspektive dazu liefern,
was bei einem dieser Fälle - wo der Täter völlig
reuelos, eiskalt, überheblich geblieben scheint - auch
dringend notwendig ist, da hier eins der Opfer zu Wort kommt.
Denn auch wenn man Anfangs noch über die meisten dieser
Münchhausen-Geschichten sich zu amüsieren bereit
ist, wird dann doch mehr und mehr klar, dass die ganze Angelegenheit
so lustig nicht ist. Und das ist dann das zweite Kunststück
des Films von Alexander Adolph: Dass er ohne Kommentar oder
"Experten"-Stimmen einen soweit bringt die tieferen
Implikationen hinter dem Anekdotischen zu begreifen. Die psychischen
Wunden und Narben, die solche Persönlichkeitsstrukturen
hervorbringen; das, was ihr Verhalten, ihre Methoden und ihr
Erfolg über die Mechanismen des menschlichen Umgangs,
menschlichen Vertrauens, der Gier und der Autoritätshörigkeit
sagen. Und wie fließend teils die Übergänge
sind von den Con-Games, Pyramidenspielchen und Luftschloß-Bausparverträgen
der Hochstapler zu dem Funktionieren unserer heutigen normalen
Wirtschaft. Wenn an unserem derzeitigen Kapitalismus noch
viel "normal" zu nennen ist.
Überraschung! Oder auch nicht...
Irgendwann weiter oben hatte dieser Text mal Anflüge
eines roten Fadens. Da ging's um Erwartungen ans Filmfest-Programm
und eine ungefähre Rangfolge der Filme nach Gefallen.
Man gestatte mir, die ausgefransten Enden dieses Fadens so
unelegant wieder aufzugreifen und - da der HOCHSTAPLERFILM
ohnehin schon auf dieses Terrain führt - nunmehr zur
Premium-Auslese unter der diesjährigen Film-Ernte zu
kommen.
Die schönste Entdeckung für mich war CONGORAMA.
Wohlgemerkt: Nicht der schönste Film. Aber jener, von
dem ich am wenigsten erwartet hatte und dann am meisten glücklich
überrascht wurde. Hätte zwar gar nicht SO unerwartet
kommen müssen, denn der Film kam aus der Mini-Québec-Reihe
und es wurde zudem gemunkelt, es handele sich um einen von
Ströhls persönlichen Favoriten. Und wenn man was
in den letzten Jahren lernen konnte, dann: a) dass die Kanadier
es meistens drauf haben mit dem Filmemachen, so ein bisschen
die Österreicher Nordamerikas sind (seltsamer und nicht
übertrieben tragfähiger Vergleich, zugegeben, aber
was er sagen soll: sie sind ein im internationalen kulturellen
Bewusstsein nicht allzu präsentes Land, bringen dann
aber immer wieder eine erstaunliche Menge sehenswerter und
unprätentiös profunder Filme raus, mit einer ganz
eigenen, etwas verschrobenen Sichtweise und Ästhetik).
Und b) dass Andreas Ströhl keinen ganz verkehrten Geschmack
hat.
So oder so: CONGORAMA fand ich einen im allerbesten Sinne
romanhaften Film. Einer der zwar sehr auf "Handlung"
fixiert ist, nicht auf Impressionen; dem aber dabei das Erzählen
überhaupt nicht das mechanisierte, ritualisierte Durchrattern
eines Plots ist; einer, bei dem nicht erzählt wird, um
die Frage zu beantworten "Und was passiert dann?".
Sondern ein Film, wo alles, was geschieht oder enthüllt
wird, ein neuer Mosaikstein für ein immer größer
werdendes Panorama ist, ein Knoten in einem immer dichter
werdenden Beziehungsgeflecht.
Zwei Brüder (die aber anfangs nicht wissen, dass sie
Brüder sind), zwei Weltausstellungen (in Brüssel
und Montreal), daselbst ein Congo-Pavillion und damit die
Querverbindung zu Kolonial- und Missionshistorie, die Suche
nach einem Elektroantrieb für Autos, Diamanten zweifelhafter
Herkunft, ein Strauß auf der Straße - das und
mehr bringt CONGORAMA unter einen Hut, ohne je überbordend,
überdreht, ungeordnet, beliebig oder gewollt zu wirken,
sich stets einen eher zurückhaltenden, aber treffsicheren
Humor bewahrend. Und weil eben all diese Elemente und die
Erlebnisse seiner Protagonisten vor allem dazu da sind, dem
Film immer mehr Ebenen, Vielschichtigkeit zu geben, weil sie
sich zu einer Welt und Weltsicht häufen, kann CONGORAMA
sich auch sparen, dramaturgische Wendepunkte und Enthüllungen
mit großer Emotions-Geste auszuerzählen. Auch da
bleibt er verschmitzt, intelligent, diskret und dadurch umso
wirkungsvoller. Und sehr, sehr sympathisch.
Als unerwartete Entdeckung war CONGORAMA jedoch eher eine
Ausnahmeerscheinung. Lag's nur an meiner zu kleinen und vorurteilsbehafteten
Filmauswahl, war's Zeichen für sowas wie einen Trend?
Aber jedenfalls fanden sich die größten Filmerlebnisse
dieses Filmfests in meinen Augen zumeist nicht im Verborgenen,
in den obskuren Winkeln des Programms. Sondern ziemlich da,
wo ich sie auch vorher erhofft hatte, und in Gefilden, für
die das Festival eine schöne Platform darstellte, die
man aber auch unabhängig davon beachtet und abgegrast
hätte. Soll heißen: Filme von hinreichend bekannten
Regisseuren, überwiegend mit regulärem Kinostart.
Wohl noch die größte Überraschung war, als
wie wunderbar sich Nicole Holfceners FRIENDS WITH MONEY entpuppte.
Okay, dass man einen Film mit Catherine Keenre UND Frances
McDormand irgendwie lieben müssen würde (werden
müsste? wessten mürde?), das war abzusehen. Aber
dass er auch von den Schauspielerinnen abgesehen noch ein
wirklich schöner Film sein würde - wer hätt's
gedacht? Es ist vor allem aber ein wunderbarer Film über
die Rücksichtnahme - ein Thema das er in all seinen Episoden
und Parallellhandlungen in einer anderen Variante durchspielt,
ohne dass er das je explizit aussprechen würde. Es geht
um eine Gruppe von Freundinnen in Los Angeles; die einzige
die weder einen Partner noch ein deutlich überdurchschnittliches
Einkommen hat ist die von Jennifer Aniston dargestellte Figur
- und schon dies ironische Casting (Aniston ist die einzige
der Darstellerinnen, die in Hollywood "A-List"-Starstatus
genießt) zeigt, dass der Film deutlich cleverer ist,
als sein Frauenkomödien-Marketing suggerieren möchte.
FRIENDS WITH MONEY fängt wirklich perfekt die Atmosphäre
in den reicheren Vierteln von Los Angeles ein. Mit seinen
Themen Rücksicht und Geld ist er dann auch sehr schnell
und ohne das ausdrücklich zum zentralen dramatischen
Konflikt machen zu müssen bei den Spannungen, die in
dieser zwiespältigen (und für die USA so symbolhaften)
Stadt permanent unterschwellig gären. Und damit ist der
Film dann auch - ziemlich sicher ohne Absicht, definitiv ohne
großes Aufhebens, ganz nebenbei und grade dadurch aber
so viel treffender und tiefer - jener Film über L.A.,
der der heillos überkonstruierte, zeigefingerschwenkende,
papierne Botschaftsträger CRASH (mit seinem lachhaften
Oscar-Sieg) letztes Jahr so gern sein wollte.
Normal ist das nicht
"Great Expectations" hatte ich vorab bei Terry
Gilliams TIDELAND, und was über die gelinde gesagt kontroverse
Aufnahme bei anderen Festivals zu hören gewesen war hatte
meine Neugier nur angestachelt.
Wobei ebenso vorher klar war, in welcher Hinsicht die Erwartungen
lieber nicht zu hoch gesteckt werden sollten: Gilliam war
noch nie ein Meister des Rhythmus, war noch nie ein begnadeter
Erzähler, und das Psychologische nicht sein rechteigentliches
Metier.
Das merkt man auch TIDELAND an, und zumindest nach dem ersten
Anschauen blieb der Eindruck, dass Gilliam im Schneideraum
nochmal radikal hätte Hand anlegen und im Dienst des
Ganzen auf Kosten mancher Einzelsequenz, des ein oder anderen
Exzesses hätte straffen dürfen. Obwohl seit Jahren
der erste seiner Filme, bei dem er wieder mal volle kreative
Kontrolle hatte und mit dem er selbst rundum zufrieden scheint,
gehört er eher nicht zu seinen Werken für die Ewigkeit.
Aber, und das ist ein dickes Aber: Es ist ein Film, der einen
in ein wirklich ganz eigenes Universum mitnimmt. In eine Welt,
die nur schwer mit der anderer Filme vergleichbar und die
unvergesslich ist. TIDELAND liegt annähernd in der selben
Galaxie wie THE REFLECTING SKIN, "Alice in Wonderland",
die Filme Jan Svankmajers und der Quay Brothers, die "southern
gothic"-Storys von Joe R. Lansdale - so man sich all
das in ein und der selben Galaxie vorstellen kann -, hat da
aber eine spezielle Ecke für sich gepachtet.
Zu sagen, dass die 10-jährige Jeliza-Rose (sensationell:
Jodelle Ferland) im Mittelpunkt des Films steht, wäre
eine ziemliche Untertreibung: Sie IST der Film, er kennt keine
Minute ohne sie. Jeliza-Rose hat zwei ziemlich fertige Junkies
als Eltern, bereitet ihrem Papi (Jeff Bridges) auch immer
brav und gewissenhaft seine Heroin-Spritze vor, bis dann eines
Tages die Mutter (Jennifer Tilly, kaum wiederzuerkennen, in
einem schnell beendeten Gastspiel) plötzlich dahinscheidet
und der Vater Hals über Kopf sich und das Mädchen
in den nächsten Bus packt und zum abgelegenen Haus der
Großmutter inmitten einer endlosen Weizenfeld-Landschaft
flüchtet. Großmutter ist aber auch nirgends mehr
zu finden, und es dauert keine Woche, da wacht der Vater in
der neuen vergammelten, vermüllten Behausung ebenfalls
aus einem Heroin-High nicht mehr auf. (Jeff Bridges verbringt
rund dreiviertel des Films in unterschiedlich Stadien dekorativer
Verwesung.) Jeliza-Rose hat dann nur noch sich, ihre Fantasie-Welt,
die sie mit ihrer Sammlung ramponierter Barbiepuppen-Köpfe
teilt - und zwei SEHR eigenwillige Nachbarn vom nächsten
Anwesen.
Das Schöne und Spannende an TIDELAND ist, wie konsequent
er die Perspektive des Mädchens zu seiner eigenen macht.
Es gibt keine Normalität in der Welt dieses Films. Oder,
besser gesagt: Es gibt keine Normalität außerhalb
des nach gewöhnlichen Maßstäben beurteilt
ziemlich kranken und verrückten Unsiversums, das Jeliza-Rose
bewohnt. Aber das Kind hat keine Vergleichswerte, es kennt
nichts anderes, und deshalb hat es auch nie gelernt, mit Abscheu,
Grausen, Angst zu reagieren. Drogenspritzen aufziehen ist
für das Mädchen so normal wie für andere Geschirrabräumen
nach dem Essen; das Leben unter unhygienischen Umständen
und Ernährung ausschließlich durch Erdnussbutter
empfindet es nicht als ungesund, als Verwahrlosung; den Tod
kann sie weder fürchten noch begreifen. Und dass Realität
und Fantasie nahtlos ineinander übergehen, ist für
sie selbstverständlich.
Ziemlich genau diesen Blick teilt auch der Film, und das macht
ihn erst wirklich radikal. TIDELAND bietet eine der am wenigsten
verhätschelten, romantisierten, zugleich hoffnungsvollsten
und erschreckendsten Darstellungen der Robustheit von Kinder-Psychen,
die es je im Kino zu sehen gab. Nur in ein paar Bereichen
weiß er zwangsläufig mehr als die knapp präpubertäre
Jeliza-Rose. Und da hält Gilliam seine Verfilmung des
Romans von Mitch Cullin sehr gekonnt auf der Kippe zu Territorien,
wo's wirklich unangenehm, schmerzhaft, zerstörerisch
werden könnte.
Denn TIDELAND ist, wage ich zu behaupten, der erste Gilliam-Film,
in dem Fantasie, Imagination kein schlicht positiv besetzter
Rückzugsraum vor den Zumutungen der Realität sind,
sondern wo die Verabschiedung von äußeren Instanzen
ein durchaus bedrohliches Potential entwickelt und auch zum
Ausbruch kommen lässt. Am Ende des Films bleibt kein
Zweifel, dass es Sachen gibt, die ein Kind lernen muss, damit
es nicht zur Gefahr für sich und andere wird. Dass man
die Wirklichkeit nicht beliebig um- und wegfantasieren kann,
ohne irgendwann realen Menschen realen Schaden zuzufügen.
Im letzten Bild von TIDELAND bleiben Jeliza-Roses große,
tiefe Kinderaugen noch eine Weile stehen, während der
Rest der Leinwand schon im Dunkel versinkt. Es ist das bei
weitem unheimlichste Bild des Films.
Weil wir grade beim Realitätsverlust sind: Was passte
da besser als Richard Linklaters A SCANNER DARKLY. Wenn der
Film einen Fehler hat, dann dass er eine ZU getreue Verfilmung
des gleichnamigen Philip K. Dick-Romans ist. Da stellt sich
zum einen die Frage nach dem "Warum überhaupt einen
Film?", zum anderen muss man bereit sein, auch alles
in Kauf zu nehmen, was das Buch schwierig, manchmal anstrengend,
etwas hermetisch und zeitgebunden macht. Das ist dann aber
eben zugleich auch die große Stärke - wenn man
Dick für mehr hält als nur einen Konzeptlieferanten,
der er für bisherig Kino-Adaptionen seiner Werke stets
bloß war. A SCANNER DARKLY ist der erste Philip K. Dick-Film,
der wirklich der Atmosphär und dem Geist seiner Vorlage
völlig gerecht wird.
Das fängt damit an, dass die Landschaft des Films keine
durchdesignte Science Fiction-Kulisse ist sondern das nur
minimalst verfremdete Kalifornien. Und es endet damit, dass
vor dem Abspann Dicks originale Widmung des Romans erscheint:
A SCANNER DARKLY hat er als Reaktion darauf geschrieben, dass
viele seiner Freunde und Bekannten durch Drogen gestorben
oder psychisch irreparabel geschädigt worden waren. Das
Buch ist vielleicht die eindringlichste (nur leicht) metaphorische
literarische Beschreibung überhaupt des Zustands von
Parnoia, Identitätsauflösung und Desorientierung
der aktiven Partizipanten der "psychedelischen"
Ära.
Dass Linklater in seiner Adaption einmal mehr das Realfilm-zu-Zeichentrickfilm-Verfahren
zum Einsatz bringt, das er bei WAKING LIFE zum ersten Mal
für einen Spielfilm fruchtbar machte, passt ideal zu
der semi-realen Welt, die er darstellt. Der Look, das Flottieren
und Sich-gegeneinander-Verschieben der Bildebenen wurde jedoch
diesmal deutlich beruhigt, man hat weniger mit einem Gefühl
von Seh-Krankheit zu kämpfen. Und der Schauspielerleistungen
seines großartigen Casts (Robert Downey, Jr. for President!)
tut's keinen Abbruch.
Aber wie gesagt: Was A SCANNER DARKLY auszeichnet und zugleich
problematisch macht ist seine Bereitschaft, Dick wirklich
Ernst und beim Wort zu nehmen. Wie der Roman ist auch der
Film eher eine Zustandsbeschreibung als eine Geschichte, und
wie der Roman nimmt einen auch der Film dahin mit, wo Paranoia
und Ziellosigkeit, wo pseudo-erleuchtete Wort-Entladungen
und Verlust von Persönlichkeitsgrenzen als Phänomene
des Dauer-Drogenkonsums nicht bloß beschrieben, sondern
wirklich erfahrbar werden, wo man sie als Leser/Zuschauer
auch ein Stück durchleben und aushalten muss.
Anders gesagt: A SCANNER DARKLY ist die erste Philip K. Dick-Verfilmung,
die sich wie ihre Vorlage wirklich traut, immer mal wieder
komplett aufzuhören, als Unterhaltung zu funktionieren.
Man muss das nicht mögen - aber es für einen Fehler,
ein Versehen, ein Versagen zu halten heißt, Dicks Bedeutung
nicht verstanden zu haben.
Platz! (Eins und zwei.)
Genau das Gegenteil zum Realitätsverlust, zur Realitätsflucht
stellte - und damit kommen wir endlich, Fanfare!, zu DEN zwei
größten Filmerlebnissen während dieses Filmfests
für mich - das Gegenteil stellte also Steven Soderberghs
BUBBLE dar.
Der ist eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit US-amerikanischer
Kleinstädte (hier Parkersburg, West Virginia) und mit
Fragen nach deren Darstellbarkeit im Kino.
Wohlgemerkt: Der Film ist kein naiver Versuch einer Realitätsabbildung,
er ist - fast unausgesprochen, aber unverkennbar - ein praktizierter
Diskurs ÜBER "Imitation of Life".
Dazu gehört essentiell, dass BUBBLE der erste US-amerikanische
Film ist, der sich wirklich tiefere Gedanken macht über
seinen Einsatz von HD-Video-Kameras. Der sie nicht benutzt,
als gebe es da ästhetisch keinen Unterschied zu 35mm-Film,
oder mit digitalen Verfremdungseffekten arbeitet. Soderbergh
spürt den Farben, Texturen, Lichtstimmungen nach, die
sich in diesem neuen Aufzeichnungsmedium anders, "besser"
einfangen lassen als mit Film. Und entdeckt sie eben in den
US-Kleinstädten, in dem tristen Grau ihrer Straßen,
den Pastelleinrichtungen ihrer Häuser, dem kalten Neon
in ihren Geschäften.
Es ist kein Zufall, dass die Protagonisten von BUBBLE in einer
Fabrik für Puppen arbeiten, und dass Soderbergh so oft,
groß und ausführlich in Szene setzt, wie die Gummiköpfe
eingefärbt und angemalt werden: BUBBLE ist nicht zuletzt
ein Film über Hauttöne - die hier so ungeschminkt
rüberkommen wie vielleicht noch in keinem US-Film.
Bei der Inszenierung des unausgelebten, unausgesprochenen
und schließlich tödlichen Liebsdreiecks zwischen
einer älteren, dicklichen Fabrikarbeiterin, einem jungen
Slack-Kollegen und einer neuen, hübschen Mitarbeiterin
(die so nett, wie sie erst scheint, bei weitem nicht ist)
vermeidet Soderbergh jeden Pseudo-Dokumentarismus, wie ihn
z.B. die Dardenne-Brüder in einem Film wie L'ENFANT praktizieren.
BUBBLE - die wohl vollkommenste Symbiose von Soderberghs zwei
"Modi" bisher: seiner Künstler-Persona als
massenkompatibler (Genre-)Erzähler und der des experimentierfreudigen
Arthouse-Filmemachers - ist in sehr präzisen, oft bewusst
distanzierend-artifiziellen Breitwand-Einstellungen kadriert,
hat auch zwei richtiggehend surreale Einsprengsel. Der Film
lebt von, spielt mit seiner ständigen Spannung zwischen
der Alltäglichkeit seines Schauplatzes, seiner Charaktere
und der Künstlichkeit des Apparts Kino und seiner Erzählgewohnheiten.
(Was alles nur wirklich wahrnehmbar wird, wenn man BUBBLE
auf der großen Leinwand sieht.)
Was den Film so großartig macht ist, dass dieses Experiment
in beiden Richtungen fruchtet: Seinem mundänen Sujet
gibt die Inszenierung etwas Überlebensgroßes, eine
allgemeingültige Tragik. Dem Erzählen, dem "Genre"
aber gibt die Wahrhaftigkeit der Orte und Menschen (Laiendarsteller
allesamt) immer wieder den entscheidenden Stich, das entscheidende
Moment, das überraschend anders und viel überzeugender
ist als das Pendant, das nur aus den Gewohnheiten der Fiktion
gesponnen wurde: Atemberaubend zum Beispiel, wie völlig
verschieden von allen bisherigen filmischen Polizeiverhören
das gegen Ende von BUBBLE aussieht, sich anhört, und
wieviel stimmiger und berührender es doch ist.
Was Soderbergh zeigt, ist die von den Künsten und Medien
weitgehend übergangene (oder: verdrängte?) Existenzform
wohl der großen Mehrheit der US-Amerikaner. Sein Bild
davon ist sehr stimmig, wirkt sehr authentisch - und ist von
Anfang an erschreckend trostlos. Mag sein, dass es nur die
Angstfantasien von uns hochnäsigen Großstädtern
sind, aber man kann sich bei BUBBLE nur zu gut vorstellen,
wie bei einem Menschen, der in jener Welt Sinn und Liebe sucht
die Frustration zu einer Blase anschwillt, die irgendwann
platzen muss.
Ähnlich geht's ja den Menschen in den Filmen von Park
Chan-Wook. Nur dass da die Frage nach dem Sinn und der Liebe
deutlich mehr kosmische als soziale Dimensionen haben, und
dass die Gewalt viel methodischer, konsequenter und, na ja,
gewaltiger in ihnen heranreift, bevor sie sich entlädt.
Tja, und damit wären wir dann endlich bei DEM einen Film
angekommen, für den ich ohne langes Zögern den ganzen
Rest des Filmfest-Programms hingäbe, wenn die Welt zu
evakuieren und nur Platz zur Rettung eines einzigen Werks
wäre.
Vorhang auf für: SYMPATHY FOR LADY VENGEANCE. Der hat
für mich nicht bloß alles andere der Festivalwoche
übertroffen - er hat so ziemlich alles regelrecht pulverisiert,
was ich in den letzten ein, zwei Jahren auf Leinwänden
gesehen habe.
Dass ein Film, dem sowas gelingt, von Park Chan-Wook kommt,
war einerseits keine Überraschung (er - oder höchstens
noch Takashi Miike - ist derzeit einfach der aussichtsreichste
Kandidat für sowas). Andereseits hätte ich nicht
wirklich geglaubt, dass Park mir nochmal dieses Gefühl
völliger Überwältigung, ja fast eines Neuanfangs
des Kinos geben können würde, das er mir damals
mit SYMPATHY FOR MR. VENGEANCE versetzt hatte, als ich durch
den großartigen, aber doch ungleich konventioneller
gelagerten JOINT SECURITY AREA noch nicht im Ansatz darauf
vorbereitet war, was für ein Hammer mich da erwarten
würde. Diesmal aber dachte ich, durch MR. VENGEANCE und
OLD BOY (den ich toll finde, der mich aber nicht dermaßen
umgehauen hatte) eingermaßen gewappnet zu sein.
Denkste.
LADY VENGEANCE ist nochmal ein ganz anderes Level; das ist
von Parks Umgang mit filmischem Erzählen her seine bisherigen
Hochseilakte noch um Jonglagen rückwärts auf dem
Einrad im Kopfstand erweitert. Ohne, dass es schwierig wirkte.
Das aber ist es, was ich an Park allgemein und diesem Film
speziell so unglaublich und umwerfend finde: Er nimmt sehr
einfache Geschichten (hier vom Rachefeldzug einer - zu Unrecht
- wegen Kindesentführung und -mord inhaftierten jungen
Frau) und erzählt sie auf Weisen, die neu definieren,
wie Kinonarration funktioniert und was man mit ihr anstellen
kann. Und das trotz aller formalen Innovation und Experimentation
nie als leeres ästhetisches l'art pour l'art-Spiel, und
nie nach irgendeinem bloß vom Kopf diktierten System.
Es geht ihm um große Themen, und Park ist nicht nur
auf verquere Weise ein bedeutender Kino-Humanist, er ist der
vielleicht stärkste Empath, den das Medium derzeit weltweit
hat: LADY VENGEANCE dreht sich nicht nur um Rache, um die
Frage nach Selbstjustiz und nach Vergebung. Expliziter noch
als in den beiden vorangegangenen Teilen der Rache-Trilogie
steht im Hintergrund auch die Frage danach, ob es irgendeine
höhere, sprich religiös-metaphysische Instanz gibt
in diesem Kosmos, bei der sich der Mensch seines Tuns vergewissern
könnte. Und ob, so oder so, Geborgenheit zwischen den
Menschen möglich ist - wobei dabei in diesem Film erstmals
das Thema Familie (und Mutterschaft) im Vordergrund steht.
Gewalt ist in Parks Filmen so wichtig, weil sie Schmerz und
Leid schafft (und oft auch daraus entsteht), und das Mit-Leid
die entscheidenste Komponente seiner Kunst ist.
Ich wüsste derzeit niemand, der formale Innovation und
Experimentierfreude nicht nur mit solcher Virtuosität,
eleganten "Musikalität" und Schönheit
verbände, sondern bei dem sie auch noch so im Dienst
einer eigenen, profunden (aber sich stetig tastend weiterentwickelnden)
Weltsicht, einer Auseinandersetzung mit solch fundamentalen
Themen stünden UND der bei alldem auch noch so emotional
zu Werke geht - der Kino nie mit einem rationalen Medium,
einer Dozier- und Diskutieranstalt verwechselt.
Kann man von Film mehr erwarten? Ich war rückblickend
jedenfalls doch ganz froh, dass ich LADY VENGEANCE entgegen
meiner ursprünglichen Pläne (die vom oben erwähnten
Kartenkontingent-Problem durchkreuzt wurden) erst an einem
der letzten Festivaltage gesehen habe.
Es ist ein Film, nachdem mir erstmal eine Weile all die braven
Klimmzüge, das hübsche Häkeldeckchen-Handwerk,
welche der Rest der filmschaffenden Welt üblicherweise
auf der Leinwand veranstaltet, ziemlich klein und unwichtig
vorkamen.
Eine Lehre zum Mitnehmen und ein weiteres Argument für
die Freuden des soliden Mittelbaus also: Die wirklich großen
Filme sind für Festivals eigentlich gar nicht geeignet.
Thomas Willmann
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