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Ein chinesischer Doppeltriumph, Harndrang und vorletzte
Filme
"Soll ich vielleicht ein Gedicht aufsagen?" - Catherine
Deneuve ist, anders kann man das gar nicht ausdrücken,
einfach ziemlich cool. Wie sie so dasitzt bei der traditionellen
Abschlußpressekonferenz der Wettbewerbsjury und vor
der schäumenden Glamourriege, fassungslosen Hollywoodreportern
und wie immer übererregten Italienern die gerade verkündeten
Entscheidungen rechtfertigt, das hat Stil, Eleganz und vor
allem eine wunderbare Lässigkeit. Es ist die souveräne
Lässigkeit eines Schlachtrosses - Pardon Mademoiselle!
- das schon ganz andere Dinge überstanden hat, einer
Dame, die weiß, was sie will und dass sie mit jeder
Situation im Zweifel besser umgehen kann, als ihre Umgebung.
Hätte sie diese Fähigkeit nicht, wäre sie nicht
in diesem Geschäft, und man muss gar nicht die französischen
Kultur-Talkshows gesehen haben, in denen sie ebenso lässig
und souverän über Bücher und Geschichte und
zur Not sogar über ihr Facelifting parlieren kann, es
genügt hinzugucken, ihren Blicken zu folgen und dem gelegentlichen
Zucken der Mundwinkel, um zu sehen, dass Catherine Deneuve
auch intelligenter ist, als ihr manche der Kollegen zutrauen.
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"Ich liebe die einfachen Geschichten", wird sie
später sagen, das asiatische Kino sei "magnifique",
"innovativ" und überhaupt "sehr stark
bei diesem Festival". Gerade hat Catherine Deneuve und
die von ihr geleitete Jury die diesjährigen Filmfestspiele
von Venedig gerettet, mit überraschenden, zum Teil innovativen
Preisentscheidungen und einem klaren Statement fürs Autorenkino,
vor allem mit dem Goldenen Löwen für SANXIA HAOREN
(STILL LIFE) des erst 36-jährigen Chinesen Jia Zhang-ke,
einem Wettbewerb spätes Gewicht und Kontur gegeben, der
stark anfing und dann stark nachließ, der zwar viele
achtbare Filme zeigte, doch kaum Herausragendes zu bieten
hatte, oder filmkünstlerisches Neuland betrat.
Einer der ganz wenigen echten Höhepunkte war allerdings
dieser STILL LIFE. Erst kurz vor Festivalstart war er noch
als "Überraschungsfilm" in den Wettbewerb geschoben
worden. Den Titel hatte man erst am Tag der Filmvorführung
bekannt gegeben - "aus offenkundigen diplomatischen Gründen",
so Deneuve am Ende, sprich: Weil das Regime in Peking sonst
aller Erfahrung nach gegen den Film interveniert hätte.
Denn STILL LIFE erzählt seine Handlung rund um das gegenwärtige
Leben in der Fengjie-Provinz, wo derzeit der megalomane "Drei-Schluchten-Staudamm",
das größte Staudammprojekt der Welt gebaut wird
- und für Unruhe bei Umweltschützern und Bürgerrechtlern
sorgt. Die Regierung schlägt deren Proteste oft brutal
und unter Missachtung auch chinesischen Rechts nieder. Ohne
platte Parteinahmen, ohne bitteren Sozialrealismus, aber auch
ohne Veredelung ins Epische zeigt Jia ein Stück Gegenwart
seiner Heimat, das in dieser Form Peking nicht gefallen kann.
Zugleich entwickelt er eine originelle Form, um fast dokumentarische
Darstellung und Erzählung poetisch zu verbinden. Vor
allem die Bilder von Jias Stammkameramann Yu Lik-wai (selbst
auch ein Regisseur, von LOVE WILL TEAR US APART und ALL TOMORROW'S
PARTYS) bohren sich ins Gedächtnis.
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"Wir waren uns alle einig, wir mussten nicht viel diskutieren",
sagte die Deneuve, "STILL LIFE hat alles, was wir an
einem Film mögen: Die Schönheit der Fotografie...,
die Stärke der Geschichte, wir waren sehr bewegt, der
Film erzählt eine Menge, das ist ein sehr sehr spezieller
Film."
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Manche, vor allem unter den professionellen Beobachtern,
reagierten auf die Entscheidung angesäuert. Nicht, weil
ihnen STILL LIFE etwa nicht gefallen hätte - insgesamt
war der Film gut bei der Kritik angekommen, und nicht wenige
hatten ihm zumindest Außenseiterchancen auf einen der
Hauptpreise gegeben.
Aber wieder einmal hatte sich die Regel bestätigt, dass
wer als klarer Favorit auf den Filmkritikerspiegeln der Zeitungen
in die Zielgerade geht, selten gewinnt. Zuletzt war es in
Cannes Almodovars VOLVER so ergangen, diesmal passierte es
mit THE QUEEN, der seit einer Woche das Feld sehr eindeutig
angeführt hatte - als wäre hier die Filmkunst neu
erfunden worden. So war denn auch ausgerechnet die internationale
Kritikerjury die einzige, die THE QUEEN den Hauptpreis gab
- und damit ihre Aufgabe klar verfehlte, auf Filme aufmerksam
zu machen, die ohne FIPRESCI-Preis untergegangen wären.
Eher schon versteht man die Kritik an der Präsentation
des Films als "Überraschungsfilm". Diese Einrichtung
gehört zu den Marotten des an Marotten reichen Festivalchefs
Marco Müller. In jedem seiner drei Jahre gab es einen
"Überraschungsfilm", in jedem Jahr kam der
aus Asien: BINJIP von Kim Ki-duk 2004, TAKESCHI'S von Kitano
2005. Die Kollegen hätten also gewarnt sein können,
und die Pressevorführungen des Films - nicht ganz glücklich
auf 23 bzw. 24 Uhr gelegt, waren auch gut besucht - aber einige
hatten ihn offenbar doch versäumt und schimpften nun
entsprechend. Dabei regten sich die lauten Amerikaner wohl
eher über die fehlende Mainstreamtauglichkeit sämtlicher
Hauptpreise auf.
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Vor Erregung rot wie ein Feuermelder beschimpfte auch Freund
Josef Schnelle am letzten Abend alle, die etwas Gutes über
STILL LIFE und etwas Schlechtes über THE QUEEN zu sagen
hatten, und witterte, wie manche Italiener, eine gleichgeschaltete
Jury - "Wie alle bei der Preisverleihung zuerst Marco
Müller gedankt haben." - und "Verschwörung"
und "Intrige". Hatte nicht Marco Müller vor
Jahren einen Film von Jia Zhang-ke produziert?
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Fans von THE QUEEN konnten sich aber auch nicht wirklich
beklagen, immerhin gab es für den Film als einzigen zwei
Preise. Da der Film schon in der ersten Einstellung nach einem
Schauspielpreis schreit, hat er ihn auch bekommen, und auch
der Preis für bestes Drehbuch geht in Ordnung: Witzige
Dialoge und gutes Schauspiel, aber wenig filmische Innovation
- auf die Formel kann man den Film bringen.
Bei der Pressekonferenz setzte sich dann Helen Mirren sehr
fotobewußt neben Catherine Deneuve und sagte den überraschenden
Satz: "Ich wollte auf keinen Fall wie die Queen aussehen."
Übrigens hatten sich zur Premiere des Films vor einer
Woche angeblich acht Anwälte von Königin Elisabeth
in der Vorführung befunden, um eine eventuelle strafrechtliche
Relevanz des Films zu prüfen.
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Auch sonst verstand "Mademoiselle Deneuve" - auf
dieser Anrede besteht die 62-jährige, die auch mit Roger
Vadim und Marcello Mastroianni, den Vätern ihrer beiden
Kinder, nie verheiratet war - zu überraschen: Sie begann
die Preisverleihung mit einem "special mention"-Lob
von David Lynchs magisch-komplexen Albtraumthriller INLAND
EMPIRE, der gar nicht im Wettbewerb lief, von manchen Beobachtern
aber mit Unkenntnis und Verständnislosigkeit aufgenommen
wurde - schon das ein listiges Signal gegen die Biedermänner.
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Konsequent gab es dann Preise für sperriges, nicht in
jedem Fall gefälliges Autorenkino, das mutig und experimentell
ist, das etwas wagt. Dem entsprachen auch die Entscheidungen
der vom deutschen Regisseur Philip Gröning geleiteten
"Horizonte"-Jury: Den Dokumentarpreis bekam der
Amerikaner Spike Lee für den auch filmisch singulären
vierstündigen WHEN THE LEAVES BROKE über die Auswirkungen
des Hurrikans "Katrina" vor einem Jahr. Und mit
dem Spielfilmpreis für Liu Jie war der chinesische Doppeltriumph
perfekt: MABEI SHANG DE FATING DI (COURTHOUSE ON A HORSEBACK)
dreht sich rund um ein dreiköpfiges Gericht, das den
Staat in einer einsamen Bergregion vertritt, die nur mit Pferden
zugänglich ist und dort dann mit der Not der Bauern,
Naturglauben und Familienfehden konfrontiert wird. Starre
Paragraphenreiterei muss sich zu geschmeidigem Pragmatismus
wandeln - ein glänzend fotografiertes Lehrstück
über die Natur der Gerechtigkeit.
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Schon wahr: Einige künstlerisch radikale Filme jüngerer
Regisseure, wie der thailändische SYNDROMES AND A CENTURY
von Apichatpong Weerasetakul und FALLEN von der Österreicherin
Barbara Albert, denen man Preise gegönnt hätte,
gingen im Wettbewerb leer aus. Mit den Löwen für
Resnais und Straub ehrte die Jury dagegen zwei Altmeister,
die ihre künstlerische Glanzzeit lange hinter sich haben,
an deren Ruhm die Preise nichts ändern werden.
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Darüber kann man mit guten Gründen streiten. Zu
Resnais' neuem Film muss man vor allem sagen: Er langweilt!
Und wenn er überrascht, dann negativ: COEURS nach einem
Stück von Alan Ayckbourn wirkt, als wolle der Regisseur
von NACHT & NEBEL und HIROSHIMA MON AMOUR im hohen Alter
all das machen, was er in den 60er-Jahren nicht gemacht und
eigentlich verachtet hat. Ein Alterswerk voller Nostalgie,
eher an die niederen intellektuellen Instinkte appellierend,
darin sehr ähnlich wie ON CONNAIT LA CHANSON, und ganz
anders als SMOKING/NO SMOKING.
Bei Straub liegen die Dinge anders. Sein neuer Film QUEI LORO
INCONTRI besteht aus Schauspielern, die mit dem Rücken
zu starr montierten Kamera in freier Natur stehen und einen
Text von Cesare Pavese eigentlich nicht lesen, sondern möglichst
tonlos herunterleiern. Nichts Neues vom Grammatiklehrer Straub
also. Pavese, so viel darf man sagen, hätte den Film
gehasst. Den meisten Kritikern ging es nicht anders, und so
verschmolz das ununterbrochene rhythmische Stühleklappern
mit den Rhythmus der tonlosen Stimmen. Wer drin blieb, tat
das, so mein Eindruck, mit der selben Haltung, mit der man
eine Messe besucht: Bei wenigen Inbrunst und inniger Glaube,
bei einigen der Versuch sich meditativ zu leeren, beim Rest
eine Mischung aus Pflichtübung und der Sehnsucht nach
einem ruhigen Pol inmitten des Festivalhurrikan, nach der
Möglichkeit, einmal an alles zu denken, außer an
Kino. Wenn das der Sinn des Kinos ist...
Der Sinn des Löwen fürs Lebenswerk liegt daher wohl
eher in politischer Solidarität. Straub war der Premiere
seines Films ferngeblieben und hatte gegen übertriebene
Sicherheitsvorkehrungen und Terroristenangst protestiert:
"Der Terrorist bin ich", schrieb Straub.
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Warum gibt es keine Filme mehr, die 85 oder 88 oder gepflegte
90 Minuten lang sind? Drei Stunden Filmlänge, das zeigt
jedenfalls fast immer - auch bei Lynch, nicht in Spike Lees
Dokumentation - eine Unfähigkeit zu Selbstbeschränkung,
ein eitles Festhalten an jeder gedrehten Sekunde.
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Der Zusammenhang zwischen Harndrang und Filmrezeption,
jedem Kinozuschauer evident, gehört zu jenen Dingen,
die noch genauerer Erforschung harren. Während das Thema
des Kritikerschlafs durch Michael Althen - zuletzt erst in
seinem FAZ-Text zu INLAND EMPIRE - und ein paar unfreiwillige
Probanden recht gut präsent ist. Man geht ja unter anderem
womöglich ins Kino, um seinen Körper zu vergessen.
Man meidet das Stinkekino Sala Perla, man setzt sich in die
erste Reihe um seine Beine ausstrecken zu können, aber
nicht im Perla, weil man da dann die englischen Untertitel
nicht mehr lesen kann, und im Pala Lido nicht in die jeweils
erste Reihe nach den beiden Zwischengängen, weil man
dann mit ausgestreckten Beinen - dies ist der empirische Beweis,
dass Italiener eben kürzere Beine haben - die Stufe irgendwo
schmerzhaft auf die Unterschenkeln drücken spürt.
Darum sitzt man hier am Reihenrand, aber natürlich bitte
nur an den linken Begrenzungen, damit man dann mit ausgestreckten
Beinen nach innen hin, zur Leinwand, blicken kann, und sich
nicht den Oberkörper verdreht. Wem solche Überlegungen
- die wir alle hier, bis auf die ganz Stumpfen, irgendwie
anstellen, übertrieben und lächerlich erscheinen,
oder wer das Schreiben hier nur für den üblichen
Kritikernarzismus hält, dem kann man empfehlen, einfach
mal an zehn Tagen 40 Filme unter hiesigen Bedingungen anzugucken.
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Pressekonferenz. Lindsay Lohan und Christian Slater. Keine
einzige Frage an Slater, eine beantwortet er trotzdem. An
Lohan: "Do you think, Venice is a wonderful city?"
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Ist Venedig 2006 nun ein gutes Festival? Schwer zu sagen.
Denkt man 2005 zurück, das uns damals wie heute als eher
durchschnittlich erscheint, erinnern wir uns immerhin noch
an die Filme von Park Chan-wook, George Clooney und Ang Lee,
an VERS LE SUD, PERPETOUUS MOTION und die Retro zu chinesischen
Filmen. Ähnliches gibt es diesmal nicht, und schon gar
nicht gibt es einen Film, der einen so aus allem Verdruß
herausriß, wie vor zwei Jahren L'INTRUS von Claire Denis.
Der Berliner Verleiher Thorsten Frehse, zum ersten Mal hier,
findet alles miserabel. Das könne doch mit der Berlinale
nicht einmal ansatzweise mithalten, findet er - und trifft
zumindest die Stimmung. Die Fakten, jedenfalls abseits des
Wettbewerbs, wohl auch. Nachdem Venedig den Kampf mit Cannes
bereits vor Jahren verloren hat, verliert es unter dem immer
schwarzgekleideten Marco Müller jetzt den mit Berlin.
Besucht man dann in den Räumen des Arsenale auf der anderen
Seite der Lagune noch die Freitag eröffnete Architekturbiennale,
stellen sich noch ganz andere Fragen: Hier ist das Publikum
sexy und jung, hier werden wichtige Fragen in neuen Stilen
und Formen verhandelt. Bei der Mostra gibt es zu viele Alte
und Vulgäre, "da hängen die ganzen Nerds rum",
so Josef Schnelle, "Man muss sich fragen, ob das Kino
nicht seine Funktion verliert."
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Man soll derartige Auszeichnungen auch nicht überschätzen.
Aber indem Publikumsfavoriten wie Alfonso Cuarons Science-Fiction
CHILDREN OF MAN und Stephen Frears gefälliges Königsdrama
nur - klug gewählte und berechtigte - Trostpreise blieben,
gab die Jury insgesamt jedenfalls ein eindeutiges Signal:
Aufgabe eines Festivals ist es, den Blick vom Markt abzulenken,
Filmen, Haltungen und Themen ein Forum zu bieten, die anderenorts
untergingen. Und es im Zweifelsfall nicht mit den Biedermännern
zu halten, sondern mit den Brandstiftern. Weil das zu oft
vergessen wird, kann man mit dem durchschnittlichen Jahr Venedig
2006 doch noch zufrieden sein.
Rüdiger Suchsland
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