KINO MÜNCHEN FILM AKTUELL ARCHIV FORUM LINKS SITEMAP
04.01.2007
 
 
     
Blick zurück in die Zukunft
 
Schräges Märchen: Isabella Rossellini in THE SADDEST MUSIC IN THE WORLD
 
 
 
 
 

Ein Rückblick auf das Kinojahr 2006

AZu den medialen Jahreswechseltraditionen gehört es, sich Vorhersagen für das zurückliegende Jahr in Erinnerung zu rufen und mit der tatsächlich eingetretenen Realität abzugleichen. Eine der wenigen nützlichen Erkenntnisse dieser Disziplin ist dabei die Einsicht, dass Vorhersagen (egal ob von Fachmännern oder übersinnlich / astrologisch "begabten" Wahrsagern) mit beeindruckender Sicherheit nicht eintreffen.

Entsprechend falsch waren in 2006 dann auch viele Vorhersagen zum Sport (allen voran natürlich der Fußball-WM), zu Wirbelstürmen und sonstigen Wetterkapriolen, zur Grippepandemie, zur politischen Lage in den USA, dem Krieg im Irak und dem Terror in der Welt, zum Papst, zur Wirtschaft und zu unzähligen anderen, wichtigen und weniger wichtigen Themen.

Meinen Rückblick auf das Filmjahr 2005, der u.a. im Zeichen der damals vielfach postulierten "Kinokrise" stand, beendete ich vor einem Jahr mit der optimistischen Vorhersage, "dass auch das Filmjahr 2006 wieder viele schöne, spannende, bewegende, lustige und dramatische Momente bereithalten wird."

Was liegt also näher, als die Richtigkeit dieser Aussage durch einen Blick zurück auf die positiven Kinoerlebnisse der letzten zwölf Monate zu überprüfen. Naturgemäß ist das Ergebnis dieses Abgleichs nicht allzu gewichtig, da dieser Rückblick gewohnt subjektiv und nicht um Vollständigkeit bemüht ist.

Cultural Learnings of America....

Vorhersagen über die politische Lage, die allgemeine Stimmung und die Filmkunst in Amerika für das Jahr fünf von Georg Bush und 9/11, waren ein besonders schwieriges Unterfangen. Manches schien für die kulturelle Verarmung in Zeiten von Krieg, ultrareligiösen und konservativen Tendenzen und allgemeiner Hysterie zu sprechen, manches deutete wiederum in genau die andere Richtung (keine Bewegung ohne Gegenbewegung).

De facto hat Amerika 2006 tief in seine eigene Seele geschaut und so ziemlich jedes seiner Traumas, jede Schattenseite, jeden Makel, jede heikle Problematik offen beleuchtet. Ob das nun trotz, wegen oder unabhängig von Bush und 9/11 geschah, bleibt (auch bei manch scheinbarer Offensichtlichkeit) weitgehend unklar.

Denn selbst Filme wie JARHEAD, SYRIANA oder FLUG 93 kann man trotz ihrer Themen auch außerhalb der 9/11-Diskussion als Reflexionen über Krieg, Terror und menschliche Katastrophen verstehen.
Vor allem im Auge des Betrachters liegt der 9/11-Bezug dann bei Filmen wie GOOD NIGHT, AND GOOD LUCK oder CHILDREN OF MEN, der exemplarisch für das Vorgehen mancher amerikanischer Filmstudios steht, mit in England spielenden Co-Produktionen heikle Themen zu behandeln, die zu Hause nicht ohne größere Widerstände hätten gemacht werden können (man kann eben nicht nur Folter "outsourcen" sondern auch die Kritik daran).

Um das Schwul- bzw. Anderssein und die dunklen Seiten des menschlichen Verhaltens wie Gewalt und Intoleranz ging es in BROKEBACK MOUNTAIN und CAPOTE, über die bereits genug geschrieben wurde, weshalb nur auf zwei (zu) wenig beachtete Schauspielleistungen hingewiesen sei.
In BROKEBACK MOUNTAIN war dies Randy Quaid, der nach so vielen schlechten Rollen in so vielen schlechten Filmen hier einen kleinen aber großartigen Auftritt als Vorarbeiter Joe Aguirre hat und in CAPOTE Chris Cooper, der als Polizist Dewey ausnahmsweise (vgl. z.B. seine Rolle in JARHEAD) nicht den harten Hund gibt, sondern ein vielschichtiges und stilles Psychogramm abliefert, das neben der Augenfälligkeit von Philip Seymour Hoffmans Capote-Darstellung leicht übersehen werden konnte.

Hinab in eine kaputte, drogenbestimmte Jugend in Amerikas Suburbia-Hölle führten uns die interessanten BRICK und THUMBSUCKER, sowie der nur teilweise gelungene GLÜCK IN KLEINEN DOSEN.

Ein buntes Panorama der amerikanischen Gesellschaft und ihrer Probleme und Nöte beleuchteten mit einer Mischung aus Ironie, Kritik, Sarkasmus bei gleichzeitiger Menschlichkeit die Filme THE WEATHER MAN, THANK YOU FOR SMOKING, FREUNDE MIT GELD, LITTLE MISS SUNSHINE, ICH UND DU UND ALLE, DIE WIR KENNEN und als absolutes Glanzstück DER TINTENFISCH UND DER WAL.

Die freundlich durchgeknallte Version eines ganz anderen Amerikas konnte man (sofern man das Kinoprogramm sehr gewissenhaft studierte) in den Filmen NAPOLEON DYNAMITE und NACHO LIBRE von Jared Hess kennen lernen.

Babelhafte Filme

Obwohl sich die eben genannten Film aus den USA stark unterscheiden und so vielfältige Ansätze haben, sprechen sie bis zu einem gewissen Grad (nicht nur linguistisch) doch alle eine ähnliche Sprache (was keineswegs schlimm ist). Wirklich bewusst wird einem dies aber erst, wenn man sie mit den Filmen aus der großen weiten Welt, die (nicht nur linguistisch) für ein faszinierendes Sprachengewirr stehen, vergleicht.

Da ist etwa Amerikas netter Nachbar Kanada mit seinen gewohnt unkonventionellen und wunderbaren Filmen wie in diesem Jahr C.R.A.Z.Y., THE SADDEST MUSIC IN THE WORLD oder DIE ANDERE SEITE DES MONDES, der einen nicht weniger wundersamen Bruder im Geiste im französischen SCIENCE OF SLEEP hatte.

Die Brücke zwischen Frankreich und Skandinavien schlug in mancherlei Hinsicht der schräge Roadmovie AALTRA, der (zwangsläufig?) bei Aki Kaurismäki endete. Dieser wiederum schenkte uns LICHTER DER VORSTADT, ein durch und durch typischer Kaurismäki-Film, der (so kommt es einem zumindest vor) wieder noch pittoresker, noch melancholischer und noch tragischer ist.
Für den anderen Humor aus Skandinavien standen DARK HORSE und ADAMS ÄPFEL, die deshalb so sympathisch waren, weil sie nicht ganz so grobschlächtig ausfielen wie zahlreiche Vertreter dieses Genres.

Das Motto VOLVER – ZURÜCKKEHREN galt sowohl für Penelope Cruz, die aus dem Bett von Tom Cruise dahin zurückkehrte, wohin sie hin gehört, nämlich in einen Film von Pedro Almodovar, als auch für Almodovar selber, der zu den charmant aufgedrehten Komödien früherer Jahre zurückkehrte.

In Neuseeland kehrt in ALS DAS MEER VERSCHWAND ein Kriegsphotograph in seine Heimat zurück, wo eine düstere Vergangenheit geduldig auf ihn wartet, um Unheil über seine Gegenwart zu bringen.
Nicht minder dramatisch (zer)stört in Michael Hanekes einmal mehr beklemmenden CACHÉ die Vergangenheit die Gegenwart und in Alejandro Gonzalez Inarritus BABEL verlieren die Zeiten jede Bedeutung, da das Schicksal ohnehin immer nur einen Augenschlag weit entfernt ist.

Und Deutschland? Deutschland schwelgt im allgemeinen Glückstaumel nach Olympia-Erfolgen in Turin und dem Papst und der WM und dem neuen Nationalgefühl und der aufschwingenden Wirtschaft und prompt hat man hierzulande auch ein Kinojahr, wo man sich nicht mühselig das Bekenntnis zu zwei oder drei heimischen Produktionen für den Rückblick abringen muss.
So vielfältig, spannend, aufregend, unterhaltend und hochwertig war das deutsche Kino, das man gar nicht glauben mag die Filme SOMMER VORM BALKON, REQUIEM, KNALLHART, DAS LEBEN DER ANDEREN, WER FRÜHER STIRBT IST LÄNGER TOT, SCHLÄFER, WHOLETRAIN und DIE QUEREINSTEIGERINNEN in nur einem Jahr gesehen zu haben.
Aber Vorsicht! Wie im Fußball darf man sich auch im Kino nie auf seinen Erfolgen ausruhen, sondern muss immer wieder neu dafür kämpfen.

Eine Frage des Stils

Auch 2006 gab es wieder Filme, die besonders durch ihre Form und ihren Stil überzeugten, was nun aber nicht bedeutet, dass sie inhaltlich nichts zu sagen gehabt hätten oder dass die bisher genannten Werk nicht auch (zum Teil ausgezeichnete) äußerliche Qualitäten haben.

Besonders "stylish" waren zum Beispiel zwei wunderbare Musicals. Einerseits das swingende Remake von Mel Brooks' THE PRODUCERS, das zugleich zu den lustigsten Komödien des Jahres zählte, andererseits der vor Kreativität, Style und funky Musik sprühende IDLEWILD, in dem die Popstars von Outkast ihre Vision von Coolness ausleben, was aber erstaunlich und bedauerlich wenig Menschen interessierte.

Coolness bzw. Kühle ist auch das Stichwort bei der Verfilmung von MIAMI VICE und dem neuesten James Bond-Film CASINO ROYALE. Unter Missachtung bzw. Umkehrung zahlreicher Hollywood-Gesetzmäßigkeiten entstanden zwei überraschend geradlinige, ernsthafte und ästhetisch mitreißende Filme, für die das Label Actionfilm kaum ausreicht.

Label- oder Genrekategorien konnte man bei STAY und THE NEW WORLD vollkommen vergessen. Hier tritt alles Narrative zurück, um Platz für ein visuelles ungewohntes und herausforderndes Kinoerlebnis zu machen.

Zwei Frauen, zwei unheimliche Orte, zwei vollkommen verschiedene Filme.
In der Videospielverfilmung von SILENT HILL gelingen neben unvermeidlichen Splattereinlagen einige sehr sehenswerte, düster bedrohliche Stimmungsbilder.
Im österreichischen HOTEL ist der Horror noch subtiler, weshalb hier keine schleimigen Monster, sondern ein Gebäude, der Wald, die Menschen und ihre Geschichten nachhaltig für Angst und Verunsicherung sorgen.

Dass Frösche ein besonderes Talent für die Kriminalistik haben, zeigten zwei Animationsfilm. FLUTSCH UND WEG war ein ambivalentes Vergnügen, das immer dann Spaß machte, wenn der Aardman-Anteil dieser Co-Produktion überwog.
Auch nicht vollkommen gelungen war DIE ROTKÄPPCHEN-VERSCHWÖRUNG, die immer dann Spaß machte, wenn der Film nicht verbissen versuchte Dreamworks und Pixar zu imitieren.
Beide Film sind ausdrücklich! nur in der Originalversion zu genießen.

Im Niemandsland zwischen Spiel- und Dokumentarfilm hält der (falsche und der echte) Osten dem Westen einen bitter ironisch Spiegel vor. Den falschen Kasache BORAT und seine Folgen dürfte nun jeder kennen, das Schelmenstück DER TSCHECHISCHE TRAUM hätte nicht nur wegen der ebenfalls vorzuweisenden Staatsaffäre die selbe Aufmerksamkeit verdient.

Spreu und Weizen

Der erstaunliche Boom des Dokumentarfilms hat im letzten Jahr noch an Fahrt zugenommen, was uns diesbezüglich eine selten zuvor gesehene Auswahl bescherte.
Da der Dokumentarfilm aber nicht über den Gesetzmäßigkeiten der Kunst steht und deshalb (wie beim Spielfilm) Qualität immer verhältnismäßig selten ist, lässt sich ein erhöhtes Angebot nur durch die Zunahme von belanglosen oder schlechten Produktionen bewerkstelligen.

Drei Punkte gibt es dabei, die mich an zahlreichen aktuellen Dokus besonders stören.
Zum einen (vor allem in amerikanischen Filmen) ein Informationsüberfluß. Drei Dutzend Zeitzeugen, endloses Archivmaterial, aufschlussreiche Graphiken und Animationen sind an und für sich eine gute Voraussetzung, aber wenn das ganze im 10 Sekunden-Takt zusammenmontiert und mit einer MTV-haften Hektik durchgepeitscht wird, dann ist das zwar sehr informativ, hat aber nichts mit einem guten Dokumentarfilm zu tun.

Technisch das exakte Gegenteil, im Ergebnis aber ähnlich störend ist der zunehmende Dilettantismus. Die rasante Entwicklung von Digitalkameras und Computern hat dazu geführt, dass die technische Schwelle zur Herstellung einer Doku immer niedriger wird. Viele der deshalb entstehenden Werke, die bestens in der schillernden Welt des Amateurfilms aufgehoben wären, gelangen aber ins Kino, wo sie (aus vielen Gründen) nichts zu suchen haben.
Wohlgemerkt: Das Hauptproblem dieser Filme ist nicht ihre technische Unzulänglichkeit (über die Wichtigkeit der Bild- und Tonqualität kann man streiten), sondern ihr vollkommener Mangel an Struktur, Aufbau und künstlerischem Ausdruck.

Und schließlich sind mir zahlreiche neue Dokus zu polemisch. Auch wenn das klassische Dokumentarfilmideal der Nichteinmischung und Nichtkommentierung schon lange gefallen ist (und auch davor manche Lücke hatte), erreicht die (mal offene, mal versteckte) Beeinflussung mancher Dokus ein unappetitliches Ausmaß.
Ärgerlich daran ist dabei weniger, dass grundsätzlich Botschaften bzw. Meinungen vermittelt werden (das war und ist im Kino unvermeidlich), sondern dass manche Filmemacher bewußt die Glaubwürdigkeit des Dokumentarfilms (aus)nutzen, um ihrer streng subjektiven Weltsicht den Status der Wahrhaftigkeit zu verleihen.

Die folgenden Filme haben im letzten Jahr nicht nur die eben genannten Fehler vermieden (ein fehlerfreier Film ist zwar nicht schlecht aber meistens auch nicht wirklich gut), sondern stehen für das exakte Gegenteil. Es waren dies GERNSTLS REISEN – AUF DER SUCHE NACH DEM GLÜCK, NACH EINER WAHREN GESCHICHTE, KIPPENBERGER – DER FILM, DAVE CHAPPELLE'S BLOCK PARTY und der alles überragende WORKINGMAN'S DEATH, der seine Ehrlichkeit und Brillanz mit einem (selbst für Dokumentarfilmverhältnisse) lächerlichen Einspielergebnis bezahlen musste.

In Anbetracht all dieser guten Filme, kann man fast nicht anders, als die Richtigkeit meiner Vorhersage für das Kinojahr 2006 festzustellen. Leider ist dies kein Beweis für meine hellseherischen Fähigkeiten, sondern das Ergebnis eines zwangsläufig eintretenden Ereignisses.

Denn in einer Stadt wie München (aber auch außerhalb davon) wird es auch 2007 und 2008 und in den Jahren darauf immer zahlreiche bemerkenswerte Filme im Kino zu sehen geben.
Dass manche Leute dem zum Trotz glauben, es gäbe keine oder kaum gute Filme oder keine Möglichkeit sie zu sehen, ist ein Zeichen von Weltfremdheit und unrealistischer Erwartungshaltung. Die Krise des Kinos, die sie ausrufen, findet nur in ihren Köpfen statt.

Michael Haberlander

 

  top
   
 
 
[KINO MÜNCHEN] [FILM AKTUELL] [ARCHIV] [FORUM] [LINKS] [SITEMAP] [HOME]