71. Filmfestspiele Venedig
Die größte Zeit des deutschen Kinos
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Szene aus Menschen am Sonntag |
Ein Kritiker wechselte für eine Weile die Seiten: Rüdiger Suchsland, seit vielen Jahren Filmkritiker, nicht zuletzt bei artechock, ist nun selbst unter die Filmemacher gegangen. Sein Dokumentarfilm Von Caligari zu Hitler läuft gleich bei einem der bedeutendsten Filmfestivals der Welt. Am heutigen Donnerstag hat der Film in der Sektion »Venice Classics« bei den
Internationalen Filmfestspielen in Venedig Premiere.
Der Titel nimmt bewusst Bezug auf Siegfried Kracauers »psychologische Geschichte« der Weimarer Republik. Suchslands filmischer Essay befragt anhand von Original-Ausschnitten die Arbeiten von Murnau, Lang, Lubitsch, Pabst, Sternberg, Wilder, Ruttman und vielen anderen danach, was sie über die ungeheuer spannende wie spannungsvolle Zeit zwischen 1918 und 1933 erzählen können: Die Leitfrage ist: »Was weiß das Kino, was wir nicht wissen?« Bei seinen Recherchen in unzähligen Archiven ist er
auch auf viele Filme von Kino-Autoren gestoßen, die heute vergessen sind.
Im Gespräch mit Barbara Miller, Redakteurin bei der »Schwäbischen Zeitung«, stellt Rüdiger Suchsland seinen Film vor.
artechock: Was ist das Interessante am deutschen Film in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg?
Rüdiger Suchsland: Seine ungeheure Vielfalt. Das deutsche Kino vor 1933 war alles, was sich der deutsche Film heute nicht mehr zu sein traut, was wir zu Unrecht den Amerikanern überlassen: Es gab geniale erwachsene Komödien, es gab Science-Fiction und Horror, Abenteuerfilme und Musicals. Und mit dem »Bergfilm« ein ganz eigenes, urdeutsches Genre – deutsche Western, in denen der Mensch klein, und die Natur ganz groß war. Aber besonders spannend sind natürlich die Autorenfilmer: Vor allem Fritz Lang ist heute längst nicht so bekannt, wie er es verdient hätte. seine Leistungen herauszuarbeiten war mir ein besonderes Anliegen.
artechock: Denkt man an Kino in der Weimarer Zeit, fallen einem Titel wie Nosferatu, Das Cabinet des Dr. Caligari oder Metropolis ein. Sie gelten als Meisterwerke des Expressionismus. Gab es auch andere Tendenzen?
Suchsland: Ja! Die Filme, die sie erwähnen, sind natürlich unbestritten Meisterwerke, die unser Kino bis heute beeinflussen. Aber der deutsche Film der Zwanziger Jahre war weit mehr als Expressionismus. Er war vor allem Realismus, und ab etwa 1925 sprach man ja in allen Künsten von »Neuer Sachlichkeit«. Da war der Expressionismus passé. Ein Film wie Menschen am Sonntag von Billy Wilder und Robert Siodmak, Fritz Langs M, natürlich Georg Wilhelm Pabsts Werk, aber auch die Filme des heute vergessenen Hamburgers Werner Hochbaum sind ähnlich bedeutend. Sie nehmen den Aufbruch des Autorenkinos nach 1945 vorweg: Den italienischen Neorealismus ebenso wie die französische »Nouvelle Vague« ..
artechock: Wie spiegelt sich die gesellschaftliche Wirklichkeit in den Filmen wider?
Suchsland: Eine Umbruchszeit, die gleichzeitig von rasanter Modernisierung geprägt war, wie von Rückschlägen ins Vormoderne, von Optimismus, wie von Angst. Weltkrieg und Wirtschaftskrise sind das eine, aber man darf nicht vergessen, dass »Weimar« auch die Befreiung der Frauen und der unteren Schichten bedeutete, sozialstaatliche Fortschritte und eine echte Kulturrevolution. Wenn man diese 15 Jahre heute nur an ihrem Ende misst, dann übersieht man was es alles noch
gab. Selbst 1932 konnten sich viele, vor allem junge Menschen nicht vorstellen, das Deutschland nur Monate später einen derartigen Rückfall in die Barbarei erleben würde. Um so schwerer wiegt dieser Rückfall. Hitler musste nicht sein, war kein Naturereignis.
Insofern ist es auch eine sehr traurige Geschichte, die, ein Film erzählt. Er erinnert an das, was wir 1933 verloren haben.
artechock: Hat der Film nicht zum Mythos der Goldenen Zwanzigerjahre beigetragen, ja ihn erst erschaffen?
Suchsland: Das hat er gewiß. Allerdings wurde dieser Mythos zum einen nicht erst später erfunden, sondern er ist selbst ein Teil der zwanziger Jahre. Diese Nachkriegsgesellschaft – die wie gesagt von Lebenshunger und Hedonismus geprägt war – berauschte sich an sich selbst. Zum anderen ist ja an jedem Mythos etwas wahres dran: Die Filme erzählen uns nicht nur von Angst, Wahnsinn und den kommenden bösen Dingen, sondern auch von sozialem Aufbruch, kultureller Befreiung, neuer Hoffnung und Sehnsüchten.
artechock: Um noch einmal auf den Titel Von Caligari zu Hitler zurückzukommen. Caligari ist eine Filmfigur, Hitler leider real. Wie hängen Fiktion und Wirklichkeit zusammen?
Suchsland: Der Titel geht ja auf Kracauer zurück, dessen Buch ich zwar nicht verfilmt habe, dessen kluge Ideen und Beobachtungen ich aber aufgreife.
Der von Kracauer gesehene Zusammenhang ist genau der: Die Kunst ist Seismograph des gesellschaftlichen Unbewußten, sie ahnt und erkennt mitunter Dinge, die Macher und Publikum noch nicht einmal von sich selber wissen. Insofern war auch der böse Zauberer Caligari in gewissem Sinn real. Und umgekehrt wissen wir, dass Hitler seine Auftritte für die Massenmedien genau designed hat, und dass er und sein Propagandaminister Goebbels das Kino nicht nur zur Massenmanipulation
missbraucht haben, sondern umgekehrt auch die Ästhetik des Faschismus nach Kinofiguren – von Langs Die Nibelungen bis hin zu Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin – gestaltet haben. Fiktion und Wirklichkeit sind also in beide Richtungen
miteinander verschränkt
artechock: Ist das nicht eine typische Ex-Post-These, die uns die düsteren Untergangsfantasien auf Zelluloid wie Vorboten einer noch viel düsteren Wirklichkeit erscheinen lassen? Waren Filmemacher wie Murnau oder Lang Propheten oder machen wir Geschichte nicht runder als sie ist?
Suchsland: Natürlich hat Kracauer sein Buch erst geschrieben, als er im Exil und Hitler schon Jahre an der Macht war. Aber wer seine Texte aus den Zwanziger Jahren liest, kann dort alles finden. Wie nicht wenige andere – denken wir an Thomas Mann, Erich Kästner oder Karl Jaspers – hat er sich über die antidemokratischen Tendenzen vor '33 wie über den Charakter des Nationalsozialismus nie Illusionen gemacht. Die Tatsache, dass man hinterher schlauer ist, bedeutet nicht, dass man vorher blind und dumm war.
artechock: Was weiß Kino, was wir nicht wissen?
Suchsland: Wie gesagt: Kunst ist Seismograph des Unbewussten einer Gesellschaft, und das Kino, dass auf ein Massenpublikum zielt, vielleicht ganz besonders. Insofern ahnt es, was »in der Luft liegt«.
Das Kino bewahrt zugleich das Abbild vergangener Realität auf. Das ist das ungemein Berührende dieser alten Filme: Sie zeigen Menschen in ihrer Jugend, die heute uralt oder meist tot. Sie zeigen ein Deutschland, das im Krieg unterging. Sie zeigen, was passiert ist, sie zeigen aber auch die Möglichkeiten, die nie verwirklicht wurden. Es gibt Filme, in denen entdecken wir ein junges demokratisches Deutschland, eine offener Gesellschaft, die von deren Feinden ermordet, vernichtet, oder
über viele Jahre unterdrückt wurde.
Das gibt es auch in anderen Künsten, aber vermittelt und indirekter. In dieser unmittelbaren Sinnlichkeit, können wir das nur im Kino erleben und sehen.
artechock: Wie war es, die Seiten zu wechseln?
Suchsland: Eine tolle Erfahrung. Ich habe viel gelernt. Manches ist viel einfacher, als ich mir vorgestellt hatte, anderes viel viel schwerer.
artechock: Heute ist Weltpremiere. Sind Sie aufgeregt?
Suchsland: Aufgeregt nicht, aber freudig erregt. Der größte Erfolg ist, dass man uns hierher überhaupt eingeladen hat. Das war eine wunderbare Überraschung und Freude. Was kann da noch passieren? Es spricht für sich selbst und ist der Lohn für drei bis vier Jahre Arbeit. Ich werde den Augenblick genießen, wenn es dunkel wird und der Film beginnt. Dann wird er seinen Weg gehen, auch in Deutschland zu sehen sein. Heute morgen habe ich einen Song von Dean Martin gehört: »Good morning, life« So geht's mir gerade.