28.08.2014
71. Filmfestspiele Venedig

Die größte Zeit des deutschen Kinos

 

Szene aus Menschen am Sonntag

Wenn ein Kritiker die Seiten wechselt – eine Erin­ne­rung an das Kino der Weimarer Republik und ein Interview mit unserem Kritiker Rüdiger Suchsland

Ein Kritiker wechselte für eine Weile die Seiten: Rüdiger Suchsland, seit vielen Jahren Film­kri­tiker, nicht zuletzt bei artechock, ist nun selbst unter die Filme­ma­cher gegangen. Sein Doku­men­tar­film Von Caligari zu Hitler läuft gleich bei einem der bedeu­tendsten Film­fes­ti­vals der Welt. Am heutigen Donnerstag hat der Film in der Sektion »Venice Classics« bei den Inter­na­tio­nalen Film­fest­spielen in Venedig Premiere.
Der Titel nimmt bewusst Bezug auf Siegfried Kracauers »psycho­lo­gi­sche Geschichte« der Weimarer Republik. Suchs­lands filmi­scher Essay befragt anhand von Original-Ausschnitten die Arbeiten von Murnau, Lang, Lubitsch, Pabst, Sternberg, Wilder, Ruttman und vielen anderen danach, was sie über die ungeheuer spannende wie span­nungs­volle Zeit zwischen 1918 und 1933 erzählen können: Die Leitfrage ist: »Was weiß das Kino, was wir nicht wissen?« Bei seinen Recher­chen in unzäh­ligen Archiven ist er auch auf viele Filme von Kino-Autoren gestoßen, die heute vergessen sind.

Im Gespräch mit Barbara Miller, Redak­teurin bei der »Schwä­bi­schen Zeitung«, stellt Rüdiger Suchsland seinen Film vor.

artechock: Was ist das Inter­es­sante am deutschen Film in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg?

Rüdiger Suchsland: Seine ungeheure Vielfalt. Das deutsche Kino vor 1933 war alles, was sich der deutsche Film heute nicht mehr zu sein traut, was wir zu Unrecht den Ameri­ka­nern über­lassen: Es gab geniale erwach­sene Komödien, es gab Science-Fiction und Horror, Aben­teu­er­filme und Musicals. Und mit dem »Bergfilm« ein ganz eigenes, urdeut­sches Genre – deutsche Western, in denen der Mensch klein, und die Natur ganz groß war. Aber besonders spannend sind natürlich die Auto­ren­filmer: Vor allem Fritz Lang ist heute längst nicht so bekannt, wie er es verdient hätte. seine Leis­tungen heraus­zu­ar­beiten war mir ein beson­deres Anliegen.

artechock: Denkt man an Kino in der Weimarer Zeit, fallen einem Titel wie Nosferatu, Das Cabinet des Dr. Caligari oder Metro­polis ein. Sie gelten als Meis­ter­werke des Expres­sio­nismus. Gab es auch andere Tendenzen?

Suchsland: Ja! Die Filme, die sie erwähnen, sind natürlich unbe­stritten Meis­ter­werke, die unser Kino bis heute beein­flussen. Aber der deutsche Film der Zwanziger Jahre war weit mehr als Expres­sio­nismus. Er war vor allem Realismus, und ab etwa 1925 sprach man ja in allen Künsten von »Neuer Sach­lich­keit«. Da war der Expres­sio­nismus passé. Ein Film wie Menschen am Sonntag von Billy Wilder und Robert Siodmak, Fritz Langs M, natürlich Georg Wilhelm Pabsts Werk, aber auch die Filme des heute verges­senen Hambur­gers Werner Hochbaum sind ähnlich bedeutend. Sie nehmen den Aufbruch des Auto­ren­kinos nach 1945 vorweg: Den italie­ni­schen Neorea­lismus ebenso wie die fran­zö­si­sche »Nouvelle Vague« ..

artechock: Wie spiegelt sich die gesell­schaft­liche Wirk­lich­keit in den Filmen wider?

Suchsland: Eine Umbruchs­zeit, die gleich­zeitig von rasanter Moder­ni­sie­rung geprägt war, wie von Rück­schlägen ins Vormo­derne, von Opti­mismus, wie von Angst. Weltkrieg und Wirt­schafts­krise sind das eine, aber man darf nicht vergessen, dass »Weimar« auch die Befreiung der Frauen und der unteren Schichten bedeutete, sozi­al­staat­liche Fort­schritte und eine echte Kultur­re­vo­lu­tion. Wenn man diese 15 Jahre heute nur an ihrem Ende misst, dann übersieht man was es alles noch gab. Selbst 1932 konnten sich viele, vor allem junge Menschen nicht vorstellen, das Deutsch­land nur Monate später einen derar­tigen Rückfall in die Barbarei erleben würde. Um so schwerer wiegt dieser Rückfall. Hitler musste nicht sein, war kein Natur­er­eignis.
Insofern ist es auch eine sehr traurige Geschichte, die, ein Film erzählt. Er erinnert an das, was wir 1933 verloren haben.

artechock: Hat der Film nicht zum Mythos der Goldenen Zwan­zi­ger­jahre beige­tragen, ja ihn erst erschaffen?

Suchsland: Das hat er gewiß. Aller­dings wurde dieser Mythos zum einen nicht erst später erfunden, sondern er ist selbst ein Teil der zwanziger Jahre. Diese Nach­kriegs­ge­sell­schaft – die wie gesagt von Lebens­hunger und Hedo­nismus geprägt war – berauschte sich an sich selbst. Zum anderen ist ja an jedem Mythos etwas wahres dran: Die Filme erzählen uns nicht nur von Angst, Wahnsinn und den kommenden bösen Dingen, sondern auch von sozialem Aufbruch, kultu­reller Befreiung, neuer Hoffnung und Sehn­süchten.

artechock: Um noch einmal auf den Titel Von Caligari zu Hitler zurück­zu­kommen. Caligari ist eine Filmfigur, Hitler leider real. Wie hängen Fiktion und Wirk­lich­keit zusammen?

Suchsland: Der Titel geht ja auf Kracauer zurück, dessen Buch ich zwar nicht verfilmt habe, dessen kluge Ideen und Beob­ach­tungen ich aber aufgreife.
Der von Kracauer gesehene Zusam­men­hang ist genau der: Die Kunst ist Seis­mo­graph des gesell­schaft­li­chen Unbe­wußten, sie ahnt und erkennt mitunter Dinge, die Macher und Publikum noch nicht einmal von sich selber wissen. Insofern war auch der böse Zauberer Caligari in gewissem Sinn real. Und umgekehrt wissen wir, dass Hitler seine Auftritte für die Massen­me­dien genau designed hat, und dass er und sein Propa­gan­da­mi­nister Goebbels das Kino nicht nur zur Massen­ma­ni­pu­la­tion miss­braucht haben, sondern umgekehrt auch die Ästhetik des Faschismus nach Kino­fi­guren – von Langs Die Nibe­lungen bis hin zu Eisen­steins Panzer­kreuzer Potemkin – gestaltet haben. Fiktion und Wirk­lich­keit sind also in beide Rich­tungen mitein­ander verschränkt

artechock: Ist das nicht eine typische Ex-Post-These, die uns die düsteren Unter­gangs­fan­ta­sien auf Zelluloid wie Vorboten einer noch viel düsteren Wirk­lich­keit erscheinen lassen? Waren Filme­ma­cher wie Murnau oder Lang Propheten oder machen wir Geschichte nicht runder als sie ist?

Suchsland: Natürlich hat Kracauer sein Buch erst geschrieben, als er im Exil und Hitler schon Jahre an der Macht war. Aber wer seine Texte aus den Zwanziger Jahren liest, kann dort alles finden. Wie nicht wenige andere – denken wir an Thomas Mann, Erich Kästner oder Karl Jaspers – hat er sich über die anti­de­mo­kra­ti­schen Tendenzen vor '33 wie über den Charakter des Natio­nal­so­zia­lismus nie Illu­sionen gemacht. Die Tatsache, dass man hinterher schlauer ist, bedeutet nicht, dass man vorher blind und dumm war.

artechock: Was weiß Kino, was wir nicht wissen?

Suchsland: Wie gesagt: Kunst ist Seis­mo­graph des Unbe­wussten einer Gesell­schaft, und das Kino, dass auf ein Massen­pu­blikum zielt, viel­leicht ganz besonders. Insofern ahnt es, was »in der Luft liegt«.
Das Kino bewahrt zugleich das Abbild vergan­gener Realität auf. Das ist das ungemein Berüh­rende dieser alten Filme: Sie zeigen Menschen in ihrer Jugend, die heute uralt oder meist tot. Sie zeigen ein Deutsch­land, das im Krieg unterging. Sie zeigen, was passiert ist, sie zeigen aber auch die Möglich­keiten, die nie verwirk­licht wurden. Es gibt Filme, in denen entdecken wir ein junges demo­kra­ti­sches Deutsch­land, eine offener Gesell­schaft, die von deren Feinden ermordet, vernichtet, oder über viele Jahre unter­drückt wurde.
Das gibt es auch in anderen Künsten, aber vermit­telt und indi­rekter. In dieser unmit­tel­baren Sinn­lich­keit, können wir das nur im Kino erleben und sehen.

artechock: Wie war es, die Seiten zu wechseln?

Suchsland: Eine tolle Erfahrung. Ich habe viel gelernt. Manches ist viel einfacher, als ich mir vorge­stellt hatte, anderes viel viel schwerer.

artechock: Heute ist Welt­pre­miere. Sind Sie aufgeregt?

Suchsland: Aufgeregt nicht, aber freudig erregt. Der größte Erfolg ist, dass man uns hierher überhaupt einge­laden hat. Das war eine wunder­bare Über­ra­schung und Freude. Was kann da noch passieren? Es spricht für sich selbst und ist der Lohn für drei bis vier Jahre Arbeit. Ich werde den Augen­blick genießen, wenn es dunkel wird und der Film beginnt. Dann wird er seinen Weg gehen, auch in Deutsch­land zu sehen sein. Heute morgen habe ich einen Song von Dean Martin gehört: »Good morning, life« So geht's mir gerade.

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