Hollywoods Uhrenmacher |
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Christopher Nolan selbst ist vor allem eines: aus der Zeit gefallen. Hier bei den Filmfestspielen in Cannes im Mai 2018 | ||
(Foto: CC BY-SA 4.0 / Georges Biard) |
Von Jens Balkenborg
Keiner dreht, dehnt, staucht, zerstückelt die Zeit derart, wie der große filmische Uhrenmacher. Was bedeutet Zeit als lineares Organisationsprinzip des menschlichen Daseins, welche Rolle spielt sie in Narrationen als Erzählzeit und erzählte Zeit? Nolans Filme sind zeitphilosophische Diskurse und zugleich selbstreflexive Auseinandersetzungen mit dem Film als zeitbasierter Kunst. Und das, seit er Filme macht.
Montierte Wahrnehmung
Schon Following, sein Debüt aus dem Jahr 1998, ist ein kleines Bravourstück zeitlicher Verschachtelung. Nolan erzählt die Geschichte eines Schriftstellers auf existenziellem Schlingerkurs. Der stellt Menschen auf der Straße nach und gerät an einen Einbrecher, dem es weniger ums Stehlen geht als darum, die Menschen auszuspionieren und durch gelegte
Spuren zu verunsichern. In dem Noirthriller nutzt Nolan das Verwirrspiel zwischen verschiedenen Zeit- und Erzählebenen, um die zunehmende Paranoia der Hauptfigur auf uns zu übertragen.
Das Spiel mit der Zeit betreibt der Regisseur zunächst vor allem montageseitig. So auch in Memento, seinem Independenthit und Durchbruch von 2001 und in The Prestige (2006). Ersterer erzählt die Rachegeschichte eines Mannes ohne Kurzzeitgedächtnis, der den Mörder seiner Frau sucht, szenenweise rückwärts – ein kluges Spiel mit Ursache und Wirkung, das unsere Wahrnehmung mit der des Gedächtnisgeschädigten zusammenschaltet. In The Prestige, einem verspielten Historienthriller um zwei konkurrierende Zauberer, ist die zeitliche Verschachtelung Teil des filmischen Zaubertricks, der genüsslich über die zwei Stunden Spielzeit vorbereitet wird. Nolan ist ein Magier auf dem Gebiet der Doppelbödigkeit, der den erzählerischen Twist für sich gepachtet hat: das Kino als Wundertüte voller Überraschungen.
Innere und äußere Reise
Zeit ist Bewegung. Was aber passiert mit ihr, wenn es um Bewegungen in innere, unterbewusste Räume und Raumüberbrückungen geht? Der psychoanalytische Traumthriller Inception (2010) handelt von einem Team, das Träumenden durch Eingriffe in das Unterbewusstsein Erinnerungen einpflanzt. Jede Traumebene, die es tiefer hinabgeht, bedeutet eine
neue Zeitebene.
In Inception wird Nolans Lieblingstopos erstmals auch zum tragenden inhaltlichen Gegenstand, ist die Organisation der Zeit nicht mehr nur Aufgabe der Montage. Nolans Ästhetik der Zeit, vor allem jene traumhaft-pittoresken Zeitlupeneinstellungen, haben Filmgeschichte geschrieben. Ebenso die Bedeutung eines Kreisels. Fällt er um?
Zeit ist Bewegung, das wird schmerzlich bewusst in der Weltraumoper Interstellar (2014). Die Erde steht vor dem Kollaps und lässt einen Expeditionstrupp auf der Suche nach einem neuen Heimatplaneten an intergalaktische Orte reisen, an denen die sogenannte Zeitdilatation dafür sorgt, dass Stunden auf einem Planeten Jahre auf der Erde bedeuten. Interstellar ist filmische Relativitätstheorie und erforscht die raumzeitliche Entgrenzung, im existenziellen Sinne ebenso wie im philosophischen. Zugleich verbeugt sich Nolan vor seinem großen Vorbild Stanley Kubrick.
Verstörende Dehnung und Hybris
War der Faktor Zeit bisher Spannungsmotor, Teil eines gewieften Verwirrspiels oder Kern eines existenzialistischen Diskurses, wird er in Dunkirk (2017) zum Apparat der Verstörung. Nolan erzählt von der Evakuierung des britischen Expeditionskorps im Zweiten Weltkrieg auf drei Zeitebenen an Land, zu Wasser und in der Luft: eine
Woche dauert die Handlung um die Soldaten am Strand der belagerten französischen Küstenstadt, ein Tag die Ereignisse um einen Fischer, der die Evakuierung mit seinem Boot unterstützt, und eine Stunde jene um einen Kampfflieger, der die Rettungsboote beschützen soll.
Mit dieser erzählerischen Trias zelebriert der Regisseur die zeitliche Parallelität, die, rhythmisiert durch die todbringende Kriegsmaschinerie und vor allem durch Hans Zimmers nervenaufreibende Dauerbeschallung samt Uhrticken, für ein Gefühl der Dehnung sorgt. Die für Nolan sportlichen 107 Minuten Spielzeit von Dunkirk fühlen sich länger an, sie sollen zermürben. Endet der Horror jemals? Verstärkt wird dieses Unbehagen durch den sogenannten »Shepard Tone«, eine von Zimmer eingesetzte akustische Täuschung, bei der die Tonhöhe unendlich auf- oder abzusteigen scheint: die zeitlich-akustische Unendlichkeit.
Und nun Tenet, mit dem Nolan – und das rechtfertigt zugleich die Chronologie dieser Werkschau – seinen zeitphilosophischen Diskurs auf die Spitze treibt. Tenet ist, was der Titel bereits andeutet: ein filmisches Palindrom. Nolan spielt mit dem Gedanken der zeitlichen Inversion und spinnt daraus einen Thriller, in dem James Bond’scher Agentenbombast auf Science Fiction trifft und einem gehörig die Synapsen durcheinanderwirbelt. Und in dem es tatsächlich gelingt, die Parallelität verschiedener zeitlicher Bewegungen, das Vor und Zurück, auf die Leinwand zu bringen. Da bewegen sich Menschen unter erschwerten Bedingungen vorwärts durch eine sich rückwärts bewegende Welt. Niemals haben Nolans Zeit-Experimente Ästhetik und Inhalt gleichermaßen derart beeinflusst.
In 22 Karrierejahren hat Nolan unsere Vorstellungen von Zeit auf den Kopf gestellt (und ganz nebenbei in einer Trilogie die Figur des Batman neu erfunden). Following wurde damals scherzhaft als »Feierabendfilm« bezeichnet, weil er, gedreht für 6000 £, an Samstagen mit als Schauspieler angeheuerten Kumpels entstand, die werktags arbeiten mussten. Heute ist der Fünfzigjährige ein Unikum in Hollywood. Wer sonst kann von sich behaupten, dass er in der Traumfabrik als Autorenfilmer intelligente und zugleich bombastische 200-Million-Dollar-Produktionen realisiert (Tenet soll 225 Millionen gekostet haben)? Nolan selbst ist vor allem eines: aus der Zeit gefallen.