Das obskure Auge der Bourgeoisie |
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Luis Buñuels andalusischer Hund |
»Schön wie die zufällige Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf dem Seziertisch« – eigentlich könnte man hier fast schon wieder aufhören, das wäre vermutlich auch ganz in Luis Buñuels Sinne gewesen. Denn dieser Satz des von den Surrealisten verehrten Schriftstellers Lautréamont trifft den Kern des Surrealismus, jener für die Epoche so bedeutsamen Avantgardebewegung der zwanziger Jahre: Zusammenzubringen, was nicht zusammen gehört, um dann aus dieser absolut neuen Verbindung den Funken der Poesie zu schlagen und den Menschen aus seinem von der Gesellschaft verordneten, fantasie- und imaginationsfeindlichen Korsett zu befreien.
Dass dies auch heute noch funktioniert, davon kann man sich auf der diesjährigen Retrospektive der Berlinale überzeugen. Denn sie ist, nach Jahren der Beliebigkeit, endlich wieder einem Werk gewidmet, dem Werk von Luis Buñuel, dem Werk eines der größten Filmautoren der Filmgeschichte. Schon der erste Film des 1983 verstorbenen Regisseurs, realisiert mit dem Geld seiner Mutter und entwickelt mit seinem Freund Salvador Dalí setzte bei der Premiere 1929 Maßstäbe: So etwas hatte man noch nie gesehen, der Schnitt durch das Auge mit einer Rasierklinge war ein – intendierter – Schock, insbesondere da er, dem Prinzip von Regenschirm und Nähmaschine folgend, mit dem romantischen Bild einer Wolke, die den Mond zerteilt kombiniert wurde. Hier zeigte sich auch, dass das neue, begeistert begrüßte Medium Film wohl am besten geeignet war, die Utopie der Surrealisten, dass Traum und Unterbewusstsein die bessere Realität seien, (bewegtes) Bild werden zu lassen.
Buñuel hatte sich bei der Premiere von Ein andalusischer Hund in Paris die Taschen mit Steinen vollgestopft, um für etwaige Tumulte gewappnet zu sein, die er vor allem von den Surrealisten befürchtete: Sie hatten den von Jesuiten erzogenen Spanier bis dato skeptisch beäugt. Doch Kritik und Publikum waren gleichermaßen begeistert, was ihn natürlich nun vor den Surrealisten und dem charismatischem Kopf der Bewegung André Breton erst recht verdächtig machte. Unter vielen anderen Anekdoten erzählt Bunuel diese in seiner Autobiografie „Mein letzter Seufzer“ – wohl eine der lesenswertesten und mit Sicherheit amüsantesten Autobiografien überhaupt. Eine Einführung in sein Werk, interessante Einblicke und eine ausführliche Filmografie bietet auch das Buch zur Retrospektive: „Luis Buñuel – Essays, Daten, Dokumente“.
Buñuels nächster Film Das goldene Zeitalter provozierte schließlich doch noch einen Skandal: Er wurde verboten und durfte erst 50 Jahre später in Frankreich wieder öffentlich vorgeführt werden – keineswegs der letzte Konflikt mit der Zensur, den er als „fanatischer Antifanatiker“ mit seinen gesellschaftskritischen Themen Sex, Politik und Religion gar nicht erst versuchte, zu umgehen.
Neben seinen bekannteren frühen Filmen gibt es in der Retrospektive viel zu entdecken: Den Dokumentarfilm Land ohne Brot von 1933 etwa, in dem der Regisseur, Mitglied der kommunistischen Partei, ländliches Elend in Spanien zeigt – surrealistische Schockmomente inklusive. Außerdem das nach 17 Jahren Schaffenspause – als unabhängiger Regisseur – im mexikanischen Exil entstandene Werk: Darunter Die Vergessenen über Jugendliche in den Slums von Mexiko City, der in Cannes 1951 für die beste Regie ausgezeichnet wurde, die großartige Studie eines frommen katholischen Sadisten in Er, die aus unerfindlichen Gründen im Salon des Gastgebers gefangene Abendgesellschaft in Der Würgeengel.
Sein Spätwerk ist öfter zu sehen, trotzdem schließt sich gerade im Rahmen einer Retrospektive mancher Bogen in seinem von Eigenzitaten, Obsessionen, fetischisierten Objekten wimmelnden Werk: So endet zum Beispiel sein letzter Film Dieses obskure Objekt der Begierde mit der Paraphrase eines Gemäldes von Jan Vermeer: „Die Spitzenklöpplerin“. Es war Dalís Lieblingsbild, in Ein andalusischer Hund taucht es als Abbildung in einem Buch auf.
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