Anatomie der Melancholie |
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Eine Frau in der Männerwelt: Factory Girl |
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(Foto: Kinostar Filmverleih) |
Vielleicht wird die Zeit kommen, in der man das Werk von George Hickenlooper als eines der wenigen Beispiele unabhängigen Filmemachens in den USA unserer Gegenwart ansehen wird. Hickenlooper gehört zu den interessanten und durchaus singulären Stimmen des US-amerikanischen Kinos unserer Tage. Aber selbst im eigenen Land ist er eher unbekannt, und diejenigen seiner Filme, die bisher die meiste Aufmerksamkeit erhielten, sind nicht unbedingt seine wichtigsten.
Hickenlooper ist ein schwieriger Fall. Es fällt weitaus leichter, anzugeben, was er alles nicht ist, als sein Werk inhaltlich exakt zu verorten und diesen Filmemacher im Einzelnen zu charakterisieren. In jedem Fall ist er kein Hollywood-Regisseur. Er dreht keine Auftragsarbeiten, keine Blockbuster, und wenn er einen Genrefilm macht, fügt dieser sich nur zum Teil den Konventionen der Gattung. Andererseits ist Hickenlooper auch kein Vertreter des klassischen Autorenkinos. Im Unterschied zu etwa einem John Sayles schreibt er die Drehbücher zu seinen Filmen selten selber, obwohl er oft schon – so auch im deutschen Presseheft zu seinem neuesten Film –, darauf hingewiesen hat, dass ihn ein Filmstoff »persönlich bewegen« müsse. Und man kann auch nicht wirklich behaupten, dass es so etwas wie einen »Hickenlooper-Filmstil« gäbe.
Ein durchgängiger Ton ist seinen Filmen allerdings sehr wohl eigen. Es ist jenes Zusammenspiel aus Trauer und Erschöpfung, die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die eigentlich die Vergänglichkeit selbst bedauert, das Nachwehen von etwas, das knapp verpasst wurde: Eine Liebe, ein Zeitalter, etwas letztlich Ungreifbares auch, das nur im Sehnen selbst für einen Augenblick noch einmal aufscheint und Leben erhält. Es ist oft, als wären diese Filme, als wäre dieser Regisseur zu spät gekommen.
Hickenlooper ist ein Filmemacher im Zwischenraum. Er ist Nicht-mehr-Independent und Noch-nicht-Hollywood. Er lebt in Los Angeles, muss für die Finanzierung jedes seiner Filme erneut lange Kämpfe führen, aber bringt doch alle zwei bis drei Jahre – also eher häufiger als ein durchschnittlicher deutscher Regisseur in unserem fernsehfinanzierten Umfeld – einen neuen Film heraus. Er dreht mit vergleichsweise sehr kleinen Budgets, aber arbeitet mit Stars, und muss immerhin so gewinnend und interessant sein, dass es ihm gelang, Mick Jagger zu dem jüngsten seiner nur insgesamt acht raren Auftritte als Schauspieler in einem Kinofilm zu verführen (im Jahr 2001 in A Man From Elysian Fields). Auch ist er ein Schauspielregisseur, in dessen Filmen z.B. Naomi Watts und Billy Bob Thornton wichtige frühe, Irene Jacob und Nigel Hawthorne spätere bedeutende Auftritte hatten.
Unverkennbar ist Hickenlooper ein Verehrer der US-Filmgeschichte und ihrer Autorenfilmer. Ganz direkt sucht er in einzelnen Werken den Dialog mit Orson Welles, Peter Bogdanovich, Francis Ford Coppola und jetzt, in seinem neuesten Film Factory Girl auch mit Andy Warhol.
Als Dokumentarfilmer mit Arbeiten zur US-Filmgeschichte begann er. 1963 in St. Louis geboren, studierte Hickenlooper in Yale Geschichte und »Film Studies«, und arbeitete nach seinem B.A.-Abschluß 1986 einige Zeit für Roger Corman – verfolgt man seinen weiteren Karriereweg, unzweifelbar ein entscheidender Kontakt. 1988 debütierte er mit dem TV-Film »Art, Acting, and the Suicide Chair: Dennis Hopper«. Dann kam Picture this: the times of peter bogdanovich in archer city, texas über Werk und Leben des »New Hollywood«-Helden. Es folgte eine dritte filmhistorische Dokumentation, sein bis heute international bekanntester Film, mit dem Hickenlooper 1992 zwei »Emmy‘s«, u.a. für Regie, gewann: Hearts Of Darkness: A Filmmaker’s Apocalypse, von 1991 ist eine intime, sensationell enthüllungsreiche Dokumentation der Dreharbeiten zu Francis Ford Coppolas Apocalypse Now, entstanden aus Outtakes und zum Teil sehr privaten Bild- und Tonaufnahmen von Coppolas Frau Eleanor. Der anekdotengespickte Film ist auch eine Grundsatzreflexion – nicht des Films, aber modernen Filmemachens; voller Skepsis gegenüber der Idee uneingeschränkter Autonomie des Filmkünstlers im modernen Studiosystem. Naturgemäß hatte das Projekt unter manchen Rechtsproblemen zu leiden. So fehlt alles Bildmaterial zum damaligen Rauswurf Harvey Keitels. Der in Europa seinerzeit von manchen erhobene Vorwurf der »Hofberichterstattung« erscheint aus 17 Jahren Abstand trotzdem einseitig und ressentimentgeladen.
Im gleichen Jahr, 1991, veröffentlichte Hickenlooper auch den Interviewband »Reel Conversations: Candid Interviews With Film’s Foremost Directors and Critics«, ein gleichermaßen wichtiges, wie – gemessen am universalen Anspruch – verräterisch einseitiges Buch, das den Wandel des Mediums Film ebenso reflektiert, wie den Verfall der Filmkritik in den USA. Gesprächspartner der 25 Interviews sind u.a. Martin Scorsese, Francis Ford Coppola, Peter Bogdanovich, Michael Cimino, David Lynch, Oliver Stone, John Sayles, David Cronenberg, John Carpenter, George A. Romero, Louis Malle, Stephen Frears, Wim Wenders, Ken Russell und Paul Verhoeven. Damit hatte der Autor das Feld seines Interesses und seines eigenen Filmemachens ziemlich genau markiert: Es dreht sich um Möglichkeiten und Grenzen der Amerikanisierung des europäischen Auteur-Konzepts, um die Bedeutung der Herausforderung durch die aufkommenden B- und Midnight-Movies für das klassische Kunstkino, und um transatlantische Verbindungslinien. Die Konzentration liegt auf New Hollywood und den Meistern des 70er-Jahre Kinos.
Auch was hier fehlt, ist interessant: Völlig abwesend sind Bezugspunkte zu Asien, sei es zu Altmeistern wie Ozu oder Kurosawa, sei es zum von italoamerikanischen Vorbildern beeinflussten Genrekino aus Hongkong, sei es zum seinerzeit gerade neuen Kino aus China und Taiwan. Aber auch das seinerzeit aktuelle und höchst lebendige US-Independent-Kino eines Jim Jarmusch und Spike Lee, überhaupt die Bezugspunkte zum schwarzen US-Kino, zum Queer-Cinema, zu Gender-Debatten kommen nicht vor. Hickenloopers Blick ist klassisch, weiß und männlich. Neorealistische und sozial engagierte Perspektiven tauchen allenfalls vermittelt über Filmgeschichte auf.
Nach diesen Auseinandersetzungen mit der Geschichte seines Mediums begann Hickenlooper, eigene Spielfilme zu machen. Auch hier kam es zunächst zum Rückgriff ins Historische: Gray Night, Hickenloopers fiktionales Debüt von 1993, später herausgebracht unter dem Titel The Killing Box, ist im US-Bürgerkrieg angesiedelt, und erzählt eine Geister-Zombie-Geschichte. Unverkennbar aber sind im Bild eines desaströs-depressiven, homosexuellen Armeemännerbundes, der von Drogensucht und Rassismus geprägt ist, die Anspielungen auf Vietnam. Ein düster-poetisches Spiel mit den Elementen des Genre-Kinos, das im Zweifel auf die Magie seiner Bilder setzt – mit stimmigem Ergebnis. Dieses allerdings wurde vom Studio stark verändert, der originale, auf Festivals gezeigte Director’s-Cut ist aber auf Laserdisc erhältlich.
Mit dem für nur 55.000 Dollar gedrehten 20-Minüter Some Folks Call It A Slingblade kam Hickenlooper 1994 nach Sundance. Es folgt eine Trilogie des amerikanischen Westens, die Hickenlooper zu einem führenden Vertreter des US-Independent-Kinos machte: The Low Life (1995), Persons Unknown (1996) und Dogtown (1997). Die Trilogie ist in Atmosphäre und ihren Themen deutlich von Peter Bogdanovich, besonders dessen The Last Picture Show beeinflusst, und versucht, dessen Ansatz für die 90er aktuell zu reformulieren. Ein ernster Ton, der ohne falsche Gefühle und ohne ununterbrochenen Aktionismus auskommt, durchzieht diese Stories von durchschnittlichen Existenzen. Tod, Leiden und Geldnöte sind ständig präsent, ohne dass sie ins Sentimentale abgleiten.
Der Regisseur behandelte das Leben und das Lebensgefühl seiner Altersgenossen, der 30- bis 40-Jährigen der 90er Jahre, schilderte ein Milieu, und griff Lebensgefühle auf – ein Lumpensammler des »American Dream«. Lakonisch, ruhig, nüchtern und mit autobiografischen Zügen zeigt The Low Life das Leben des Möchtegernautors John unverklärt so, wie es wirklich ist.
Dogtown gehörte zum Besten, was Mitte der 90er aus Amerika kam: Ein zurückhaltendes Meisterwerk, das stark durch das europäische Kino beeinflusst war. Der eindringliche Film erzählt von der Heimkehr des mäßig erfolgreichen Hollywood-Schauspielers Philip in das Dorf seiner Kindheit. Dort trifft er auf die Traumfrau seiner Jugend, deren Leben in Langeweile und Depression erstickt.
Diese Rückkehr wirkt als Katalysator, der heimliche Ängste, Neid und Hass der Daheimgebliebenen zum Ausbruch kommen lässt. »Like a virus« erscheint Philip in der Stadt, und sobald er wieder da ist, bleibt nichts wie zuvor. Die Hölle, das ist die Heimat, die man hinter sich gelassen hat, und das ist die Provinz, die geographische, aber auch die innere unseres Bewusstseins. Am Ende dieser leidenschaftlichen Geschichte liegen sich die Liebenden in den Armen – als zwei
Überlebende: geschlagen, aber nicht besiegt.
Dogtown war Mehreres zugleich: Zunächst eine Thirtysomething-Geschichte, die ohne Sentimentalität den bekannten Widerspruch zwischen den Hoffnungen von einst und den Realitäten von heute aufzeigt. Die Wahrheit ist, dass wir alle unserer Jugend und den damals verfehlten Möglichkeiten nachtrauern, und nur viele das später nicht
akzeptieren mögen. Dogtown war aber auch eine moderne Adaption der biblischen »Heimkehr des verlorenen Sohnes«, die die Moral der Geschichte umdrehte und dadurch verschärfte: Schuldig sind die Daheimgebliebenen, nicht deshalb, weil sie den Ausbruch nicht gewagt haben, sondern weil sie sich vor Neid auf den vermeintlich erfolgreichen Heimkehrer verzehren.
Vor allem aber handelte es sich
um die Darstellung eines zutiefst menschlichen Dramas: Wie lässt sich das Leben meistern, ohne frühzeitig zu resignieren, oder an den eigenen Ansprüchen zu zerbrechen? Wie in The Low Life mündete Hickenloopers Analyse eines ganz gewöhnlichen Lebens in das existentialistisches Pathos des Überlebens im Scheitern: Was bleibt, ist die Würde des Einzelnen, die darin liegt, den Kampf nicht allzu früh aufgegeben zu haben.
Diese Grundmotive durchziehen auch Hickenloopers folgende Arbeiten, die zugleich einen – halben, inkonsequenten – Schritt zum Mainstream markieren: In The Big Brass Ring (1999), entstanden nach Orson Welles‘ letztem Skript, ist William Hurt ein Politiker im Wahlkampf, der gegen die Geister der Vergangenheit, die eigenen Dämonen und den Teufelspakt der Mediengesellschaft kämpft. In The Man From Elysian Fields (2001) steht ein erfolgloser Autor im Zentrum, der sein Geld in einem Escort Service verdient, und dort unversehens wieder zum Autor wird – die Selbstreflexion des Künstlertums, des Zusammenhangs von Sex und Kreativität, Glamour und Erfolg. Ein wenn man so will konservatives, altmodisches Männerbild dominiert: Anständig zu verlieren ist besser als um jeden Preis zu gewinnen. Und die Männer in Hickenloopers Filmen gewinnen zumindest das Herz von schönen Frauen. Ihr Scheitern bleibt also erträglich. Zugleich ist Hickenlooper ein großer Frauenregisseur, der seine weiblichen Figuren nicht nur voller Liebe und Sensibilität, aber auch mit dem nötigen Anteil an bewunderndem Glamour fotografiert, sondern ihnen auch Raum zur Entfaltung gibt.
Das gilt auch für Factory Girl. Hickenlooper mischt hier wie sonst auch Dokumente und Mythen, der Einsicht folgend, dass Mythen nur eine andere Form von Wahrheit sind. Dieses spekulative Edie-Sedwick-Biopic handelt von einer Frau in der Männerwelt, ist dann aber auch – indem es Andy Warhol und Bob Dylan gleichermaßen als intrigante und manipulative, vor allem aber narzisstische Künstlervampire zeigt – eine moralische Abrechnung mit unseren Vorstellungen von Starglamour und Künstlertum. Immer wieder scheitern in seinen Filmen Idealisten, immer wieder schlägt Sensibilität in Grausamkeit um. Hickenloopers Amerikas ist ein anonymes, erstarrtes Niemandsland, in dem kein Weiterkommen mehr möglich ist.
In diesem Sinne ist er ein fast altmodischer Regisseur, ein Vertreter einer klassisch-modernen Idee von Kino und damit ein Solitär in der gegenwärtigen Kinolandschaft: »Ich hatte Filme in Sundance, die ziemlich gut ankamen. Aber ich bekam nie ein Entrée zu der Intellektuellenclique der Ostküste. Meine Filme passen nicht zu den Ideen der Postmoderne. Sie sind nicht schnippisch, nicht so überwitzig und karikierend wie so viele heutige Filme. Ich bedaure das nicht – es
war meine bewusste Entscheidung. Ich finde den Postmodernismus zerstörerisch für unsere Kultur. Peter Bogdanovich sagte mir einmal, dass The Last Picture Show heute noch nicht mal ins Kabelfernsehen käme. Aber ich glaube, die Geschichte wird ungnädig sein mit Filmen wie Far from Heaven, die nur noch
auf Metaebenen und über Fanclubs funktionieren. Am Ende sind es menschliche Dramen, Tschechow, Wyler und Ford, die bleiben.«
Ob er seinen eigenen Ansprüchen bisher immer gerecht geworden ist, darf man mit Recht fragen. Aber immerhin geht es bei diesem melancholischen Lumpensammler des »American Dream« immer ums Ganze.
Herzlichen Dank an Ulla Rapp, Nina Roeder und George Hickenlooper.