Lebensträume im leergeräumten Ratssaal |
![]() |
|
Candela Figueira und Maitena Muruzabals Under the Snow | ||
(Foto: IFF Mannheim-Heidelberg) |
Von Ingrid Weidner
Mit schwarzem Tuch abgedeckte Tische, dazu rote Lampen – fertig ist die Kinoatmosphäre. Wo sonst im Halbrund des Saales die Mannheimer Stadträte große Pläne für die Stadt im Quadrat schmieden, zieht für zehn Tage das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg ein. Dem gegenüber gelegenen Bürgersaal geht es ähnlich. Auch dort herrscht Kinostimmung. Im Foyer vor der Stadtbibliothek warten Korbstühle auf diskussionsfreude Kinogänger, die mit Regisseuren und Schauspielern diskutieren möchten. Rote Teppiche gibt es außerdem reichlich.
Den Auftakt des Festivals machte der deutsche Film Geliebte Clara von Selma Sanders-Brahms am vergangenen Freitag in Mannheim. Festivalchef und Kinopädagoge Kötz ermahnt die Besucher vor der Vorstellung, doch bitte nicht nach der Schlussszene aus dem Saal zu stürmen, man sei schließlich auf einem Festival. Außerdem habe man die Regisseurin und einen der Hauptdarsteller, Pascal Gréggory, zu Gast. Vielleicht hätte er sich diese Ermahnung verkniffen, weil überflüssig, hätte er Martina Gedeck ankündigen können, eben noch RAF-Terroristin, die die erfolgreiche Pianistin Clara Schumann spielte. Zwölf Jahre lang arbeitete Sanders-Brahms an der Idee zu einem Film über das komplizierte Leben der Pianistin, ihres Mannes, dem Komponisten Robert Schumann, sowie das des jungen Johannes Brahms. 23 Drehbücher habe sie in dieser Zeit verfasst, erzählt die Regisseurin, Isabelle Huppert sollte ursprünglich Clara Schumann spielen, doch aufgrund von Terminschwierigkeiten bekam schließlich Martina Gedeck die Hauptrolle. Eine große Produktion mit den Berliner Philharmoniker sollte es werden, auch daraus wurde nichts. Geschadet hat es nicht, dass die Geschichte demnächst als kleinere Variante ins Kino kommt.
»34 Lebensträume in zehn Tagen« verspricht feierlich der Chef des Newcomer-Festivals in seiner Eröffnungsrede. In den »internationalen Entdeckungen« – so der Titel einer Programmsektion –, die an den Neckar und in die Nachbarstädte Mannheim und Heidelberg geholt wurden, dreht sich alles um Lebensträume, aus der Hand von Regisseuren, die eben ihren ersten oder zweiten Film abgedreht haben. Wie etwa in dem Film des jungen spanischen Autorenteams Candela Figuiera und Maitena Muruzabal. Ihr Film Novando voy (Under the Snow) erzählt aus dem Leben von vier Menschen, die sich in den tristen Hallen eines Schneekettenherstellers im Valle de Egüés, mitten in der nordspanischen Provinz, treffen. Sie hoffen auf das Unmögliche: dass es endlich schneien und mit dem Schnee statt der Kündigung ein neuer Zeitvertrag auf sie herabrieseln möge. Das Warten auf die Ankündigung von kühlen Temperaturen und Schnee nimmt existentielle Ausmaße an, und der schnöde Wetterbericht wird zum täglichen Orakel über das eigene Schicksal.
Dem Damoklesschwert der Kündigung versuchen die vier Arbeiter mit Lust und Laune zu entkommen: Wer faltet und verpackt schneller die Schneeketten? ist eines der Spiele, mit denen Schwung in die kalte Werkshalle kommt. Popsongs aus dem Radio liefern die Hintergrundmusik, ein Lächeln vertreibt die schlechte Laune; mit keinem teueren Motivationsseminar ließe sich das besser schaffen.
Zwischen der guten Laune und den Kaffeerunden verfolgt jeder der vier Protagonisten einen
eigenen Lebenstraum verfolgt. Die quirlige Angela beispielsweise möchte sich Geld für eine Reise zusammensparen, ihr gleichaltriger Kollege motzt sein Auto zum Rennwagen auf. Die Träume des älteren Vorarbeiters sind verschüttet, doch erst einmal findet er sein Lächeln wieder, auch wenn sich zu Hause weder seine Frau noch seinen Sohn dafür interessieren. Die Stärke von Novando voy ist es, dass die Regisseurinnen die Geschichte keineswegs auf ein Happyend hin
tunen, sie gaukeln den Zuschauern nichts vor, Lebensträume erfüllen sich selten en passant. Doch ein Lächeln kann etwas verändern, daran lassen sie keinen Zweifel aufkommen. Die Idee zum Film kam den Regisseurinnen Candela Figueira und Maitena Muruzabal während eines Aushilfsjobs in eben dieser Fabrik, um sich das Geld für den ersten Film zu verdienen. Neben den ersehnten Euros sammelte Maitena Muruzabal dort zwischen Schneeketten und Zündkabel-Montage Erfahrungen, Ideen und
Geschichten für das Drehbuch – und hatten auch gleich den Drehort gecastet.
Auch der amerikanische Regisseur Sean Baker und sein Autor Darren Dean mussten eine ganze Weile auf Schnee in New York warteten. Ohne die weiße Kulisse hätte in ihrem Film Prince of Broadway etwas gefehlt, und für Kunstschnee reichte das 45.000-Dollar-Budget, mit dem der Film realisiert wurde, beiweitem nicht aus.
Lucky lebt als illegaler Immigrant aus Ghana in Downtown Manhattan, irgendwo in der Nähe des Broadway und der 20. Straße. Dorthin verlaufen sich weniger chice Menschen, teure Designerware können sie sich kaum leisten. Im Hinterzimmer verkauft ihnen Lucky solche Träume. Levon, sein Chef und Ladenbesitzer ist libanesisch-armenischer Herkunft mit Aufenthaltsgenehmigung, aber ohne Greencard. Die beiden leben mal besser, mal schlechter vom Verkauf der Hehlerware. Immerhin hat es Levon gemeinsam mit seiner Freundin zu einer halbwegs ansehnlichen Wohnung gebracht, während die Bleibe von Lucky ziemlich schäbig wirkt, wären da nicht die vielen fein säuberlich aufgereihten Sneakers.
Lucky quatscht Kunden auf der Straße an, lotst sie ins Hinterzimmer. Der Job scheint ihm Spaß zu machen, bis seine Ex-Freundin Linda mit einem etwa Eineinhalbjährigen auftaucht, den sie Lucky mit dem Hinweis, es sei sein Sohn, in die Arme drückt. Er müsse sich zwei Wochen um ihn kümmern, und schon ist sie weg. Anfangs hält es der coole Sprücheklopfer für einen schlechten Scherz. Seinen Lebenstraum hatte sich Lucky ganz anders vorgestellt. Er reagiert mal lässig, mal witzig, manchmal verzweifelt und keinesfalls immer pädagogisch korrekt. Irgendwie scheint er sich mit dem keinen Wesen namens Prince anzufreunden, der vielleicht garnicht sein Sohn ist, wer weiß das schon.
Produzent Darren Dean und Regisseur Sean Backer haben einen temporeichen Streifen gedreht, mit dem sie sich das Label »Underground« oder »Independent« allemal verdient haben. Im Publikumsgespräch erzählt Dean, dass Hauptdarsteller Lucky, der eigentlich Prince heißt, ein echter Glücksfall für die Hauptrolle war. Er ließ seine Kontakte spielen, schleuste Freunde als Darsteller in das Projekt ein und machte sich einfach unentbehrlich, indem er etwa aus seinem Freundeskreis den kleinen Protagonisten engagierte oder Locations suchte.
Insgesamt 18 Wettbewerbsfilme konkurrieren um den Festivalpreis, der am 16. November in Mannheim verliehen wird. Wer also dem grauen Novemberwetter entfliehen und sich in Lebensträume, weltweit vertiefen möchte, hat bis Sonntag noch in Mannheim und Heidelberg die Chance dazu.