25.02.2010

Film ist Bewegung

Swetlana Geier
Swetlana Geier, die Grande Dame
der russischen Übersetzung

Gut geschnitten: Ein Gespräch mit der Cutterin Gisela Castronari-Jaensch über Die Frau mit den 5 Elefanten

Von Stefanie Schulte-Krude

Schon die erste Szene über­rascht. Wie sich auf einer schwarzen Leinwand ein Bild zusam­men­setzt, Pixel für Pixel. Langsam erkennt man in der Dunkel­heit eine Brücke, die ein Zug gerade überquert. Er fährt Richtung Zuschauer, zieht im Dunkeln vorbei. Aus dem Off ist unter­dessen Swetlana Geiers Stimme zu hören, wie sie ruhig ein Gedicht von Puschkin zitiert: »Mein lieber Freund, weißt du denn nicht.« Der Klang der Stimme lässt keinen Zweifel daran, wie sehr sie dem Schrift­steller für diese Zeilen Respekt zollt. Dann ist Swetlana Geier selbst zu sehen, ihre wachen Augen, ihr weißes Haar. Der Schnitt ist präzise gesetzt, rhyth­misch.

»Frau Geier ist eine umwer­fende Frau, eine mädchen­hafte 86-Jährige«, sagt Cutterin Gisela Castro­nari-Jaensch über ihre Prot­ago­nistin in Die Frau mit den 5 Elefanten. Und fügt hinzu: »Über das Über­setzen habe ich mir vorher keine Gedanken gemacht. Ich hatte mir es nicht so nach­drück­lich, nicht so leiden­schaft­lich vorge­stellt.« Gisela Castro­nari-Jaensch hat viel Zeit mit der Über­set­zerin Swetlana Geier – deren Neuüber­set­zungen von Dosto­je­w­skijs fünf gewich­tigsten Romanen, genannt die »fünf Elefanten«, ihr Lebens­werk sind und als lite­ra­ri­sche Meilen­stein gelten – am Schnei­de­tisch zuge­bracht. 18 Wochen benötigte sie für den Schnitt, bis aus über 70 Stunden Material ein 93-minütiger Doku­men­tar­film fürs Kino wurde. Die ersten drei Wochen arbeitete Gisela Castro­nari-Jaensch an einem Avid in München, anschließend schnitt sie mit dem Regisseur Vadim Jendreyko in Basel weiter. Allein drei Wochen lang hatte die Cutterin Rohma­te­rial gesichtet. Genügend Zeit, um auf sich wirken zu lassen, wie Frau Geier ist.

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In München bastelte Castro­nari-Jaensch zunächst an ersten szeni­schen Bausteinen. Wie »Frau Geier bereitet Essen zu« (einen russi­schen Salat für ein Fami­li­en­treffen etwa) oder »Frau Geier erledigt ein paar Einkäufe auf dem Markt«. Aber auch erste Teile von ihrer Zugfahrt nach Kiew entstanden. Eine geistige Klammer, sprich eine Chro­no­logie sollte durch Swetlana Geiers Aufbruch in die Ukraine und ihre Rückkehr nach Freiburg entstehen; alles einge­bettet in ihre Lebens- und Fami­li­en­ge­schichte. In Basel redu­zierte die Cutterin die abge­spei­cherten Takes schließ­lich auf ihre Erzähl­struktur, so dass eine zwei­ein­halb­stün­dige Film­fas­sung entstand. Diese Version brachen sie und Vadim Jendreyko in den nächsten Wochen immer wieder auf und gestalten sie neu.

Für die Cutterin kam außer der Aufgabe, eine schlüs­sige Bild­ab­folge zu finden, noch eine weitere Beson­der­heit hinzu: Sie hatte enormen Respekt, den Text zu kürzen. »Frau Geier ist auch in ihren Neben­sätzen so kostbar, dass man denkt, da kann ich jetzt nicht schneiden. So ist es mir noch nie ergangen«, sagt Castro­nari-Jaensch. Welche sprach­liche Heraus­for­de­rung das am Schnei­de­tisch gewesen sein mag, erahnt man anhand einzelner Szenen von Die Frau mit den 5 Elefanten. Wenn Swetlana Geier etwa in der Küche kurzer­hand über die Zwiebel, das Geschich­ten­er­zählen und damit auch über das mensch­liche Dasein philo­so­phiert, was, wie die Cutterin nebenbei bemerkt, »hohe Lite­ra­tur­wis­sen­schaft beim Fleisch­pflan­zerl­braten« war. Aber während des Drehs gab es auch die soge­nannten Salon­ge­spräche. Hier führte Swetlana Geier mit dem Regisseur dezidiert Gespräche über Dosto­je­w­skij, das Verb an sich, das Über­setzen und die Sprache. Im Film sind einige Szenen davon als auf ihre Essenz redu­zierte Sätze erhalten geblieben. Aber weiß man von den Salon­ge­sprächen, ahnt man, welche Schätze da noch im Verbor­genen liegen und würde am liebsten selbst das Material einsehen wollen.

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All diese Erzäh­le­benen: »Swetlana Geier lebt und arbeitet in ihrem Haus in Freiburg«, die Reise mit ihrer Enkelin in die Ukraine und ihre Jugend in Kiew durch­dringen eine einzige Leiden­schaft: das Über­setzen. Mühelos zeigt Die Frau mit den 5 Elefanten, wie eng für Swetlana Geier Literatur und Leben mitein­ander verwoben sind. Ähnlich wie das Tischtuch, das ihre Mutter gewebt und dem sie einen Drachen auf gestickt hatte, weiß auf weiß. Unor­thodox schafft der Schnitt eine Brücke, ein inneres Band, zwischen all diesen Bezügen. »Es gab irgend­wann den Punkt, wo wir uns von etwas getrennt haben, was eine Notwen­dig­keit im Schnei­de­raum ist: die Anschlüsse oder Tages­zeiten einheit­lich zu gestalten. Wir haben große szenische Schnitte gemacht, da es uns wichtiger war, die inhalt­liche Form beizu­be­halten«, erklärt Castro­nari-Jaensch.

So konnte die Cutterin die verschie­denen Bilder – Zugfahrten, Gespräche, Stumm­film­szenen, Fotos und Archiv­ma­te­rial – mit Ton und Musik umsichtig orches­trieren. Stel­len­weise ist der Schnitt sehr klar, sehr rhyth­misch, stel­len­weise scheint er gar zu schweben. Ohne dass die Bilder an Sinn­lich­keit, an Leich­tig­keit verlieren und trotzdem zutiefst intel­lek­tuell oder emotional sind, wird hier Swetlana Geiers Lebens­ge­schichte erzählt. In einer Szene etwa spricht die Grande Dame mit dem Regisseur über den Tod ihres Sohnes. Ihr Daumen streicht über den Henkel einer Teetasse. Mehrmals. Dann sagt sie ruhig: »Ich kann darüber sprechen. Aber dass ich ihn nie wieder sehen werde, … es hat mich noch nicht erreicht … Ich bin noch nicht ange­kommen.« Umschnitt auf ein Nilpferd aus Holz, das sie in der Hand hält – das weckt die Asso­zia­tion, ihr Sohn, der Werk­lehrer an einer Waldorf­schule war, könnte das Pferd geschnitzt haben. Anschließend berichtet Swetlana Geier traurig, aber sehr gefasst von der Beer­di­gung. Wieder ein Umschnitt auf das Nilpferd. »Das gibt es oft in dem Film: zwei ganz unter­schied­liche Orte mit einem Thema«, kommen­tiert Gisela Castro­nari-Jaensch diese Sequenz.

Große szenische Schnitte gibt es auch, wenn Swetlana Geier nach 65 Jahren zum ersten Mal von Deutsch­land in die Ukraine fährt. Während dieser Reise, dieses Aufbruchs in ihre Vergan­gen­heit, scheint sie tief bewegt zu sein. Sie schaut aus dem Fenster und spricht über ihre Familie, über ihre Jugend 1943 während der Besatzung in Kiew durch SS Kommandos und immer wieder über das Über­setzen. Stück für Stück scheint die Erin­ne­rung zurück­zu­kehren. Diese Gespräche beginnen erst mit der Zugfahrt nach Kiew, bemerkt Castro­nari-Jaensch. Und sie fügt hinzu: »Davor ist diese Reise so still, worüber ich sehr froh bin, dass nicht ein Off-Kommentar diese Emotionen stört.«

Von Anfang an durch­zieht das Motiv des Reisens den Film. Abstrakte, verwischte Bilder greifen dieses Motiv auf, lange Zeit befindet sich Swetlana Geier (und damit auch der Zuschauer) auf der Reise, des weiteren gibt es häufiger Brücken zu sehen. Mit dem Über­queren von einem Ort zu einem anderen (oder dem Über­setzen von einer Sprache in die andere, diese Doppel­deu­tig­keit ist gewollt), scheint es aber auch um das Ankommen zu gehen oder genauer gesagt darum, wie man (oder das Wort) an einem fremden Ort ankommt. Swetlana Geier formu­liert das in der Doku­men­ta­tion einmal so: »Für das Über­setzen ist die Vorstel­lung eines Trans­ports keine zurei­chende Metapher. Es ist kein Transport, weil das Gepäck niemals ankommt. Mich haben immer die Verluste inter­es­siert. Mich hat das inter­es­siert, was immer jenseits des Neuen, des Über­setzten bleiben muss.« Diesen Gedanken greift die Doku­men­ta­tion auf, macht ihn zu seiner zentralen Aussage und setzt dies über die Bilder des Reisens und die Aufnahmen verschie­dener Brücken als visuelle Metapher um.

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»Ich glaube, dass ich mir Bilder und Situa­tionen so anschaue, dass ich die Bewegung suche. Ich suche sie wirklich«, sagt Castro­nari-Jaensch über ihre Art, einen Film zu schneiden. Dann führt sie weiter aus: »Das heißt nicht, dass ich ruhige Momente wegschneide. Ein Film ist eine Bewegung. Er bewegt sich vom Anfang zum Ende. Wenn ich dann noch das große Glück habe, in einem Zug, in einem Auto, auf einem Gang zu sein, dann versuche ich das als Stil­mittel aufzu­greifen. Aber es gibt auch solche Sachen wie 'Frau Geier kocht' und 'ist in Bewegung'. Das Ausrollen von einem Kuchen­teig, auch das ist eine Bewegung und das muss man so sehen. Und wenn ich an den Schnitt gehe, dann werde ich ganz selten vor einer Körper­be­we­gung schneiden. Ich schneide, wenn Frau Geier den Kuchen ausge­rollt hat; die nächste Bewegung ist, wenn sie das Backblech nimmt und es in den Ofen stellt. Wenn man genau hinschaut, bewegt sich das Bild sehr oft. Es muss aber nicht zwingend sein, in die Bewegung zu schneiden. Man muss auch an das anknüpfen, was ich am Anfang gesagt habe: Es muss eine Geschichte damit erzählt werden. Das Bild muss mir gefallen, es muss mit mir sprechen; dann ist mir die Bewegung eine hilf­reiche Unter­s­tüt­zung.«

In Die Frau mit den 5 Elefanten sucht die Castro­nari-Jaensch nicht nur die Bewegung, die ein Bild preisgibt und wodurch es beginnt, etwas zu erzählen. Über seine Prot­ago­nistin oder über eine Situation etwa. Nein, an mancher Stelle baut sie auch eine Gegen­be­we­gung zu dem Erzählten auf. So blitzt neben der Schwere mancher Szene, in der der Film stecken bleiben könnte, immer wieder Humor auf. Wie in einer Über­set­zungs­szene mit Frau Hagen, der Sekre­tärin. Jeden Morgen kommt Frau Hagen zu Frau Geier ins Haus. Erst wird gemeinsam gefrühs­tückt, dann gear­beitet. An der Schreib­ma­schine wartet Frau Hagen geduldig auf das erste Wort von Frau Geier. Diese blättern noch in einem Buch. Ihre Hand hält eine Seite. Hell leuchtet das weiße Papier, die schwarzen, russi­schen Lettern schimmert durch. Zögerlich spricht Frau Geier den ersten Satz, Frau Hagen tippt ihn aufs Blatt. Als der nächste Satz folgt und dieser im Geklapper der Schreib­ma­schine untergeht, sagt die 83-jährige Frau Hagen: »Ich habe dich nicht richtig verstanden. Ich habe hier so viel Lärm gemacht.« Im Nu ist die Spannung aufgelöst. »Das macht dieses Feuerwerk mit Frau Hagen aus; in dem du vorher die Schwere des Über­set­zens an einem Tisch in einem Haus zeigt, diese Wort­lo­sig­keit, diese Stille, dieses Ringen«, sagt Gisela Castro­nari-Jaensch. Nur zu gern schaut man diesen old-school-Damen bei ihrem Handwerk zu und wünscht sich insgeheim, dass doch die jetzige Gene­ra­tion an Über­set­zern auch solche Arbeits­be­din­gungen hätte.

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Plötzlich schießt Gisela Castro­nari-Jaensch ein Gedanke durch den Kopf und sie erzählt, wie sie gestern nach langer Zeit die Doku­men­ta­tion erneut im Kino gesehen hat. Dabei sei ihr – zu ihrer eigenen Über­ra­schung – aufge­fallen, dass Die Frau mit den 5 Elefanten eine ähnliche Bewegung habe wie Step Across the Border. Die Schnitt­fre­quenz sei zwar geringer und Frau Geier habe nur die Hälfte der Schnitte, aber die Bewegung beider Filme sei die gleiche. 1990 hatte Gisela Castro­nari-Jaensch die Doku­men­ta­tion Step Across the Border geschnitten. Die Regis­seure Nicolas Humbert und Werner Penzel hatten den Avant­gar­de­mu­siker Fred Frith drei Jahre mit ihrer Kamera begleitet, während dieser mit einer seiner Bands durch die Welt tourte. Wie Die Frau mit den 5 Elefanten lebt der über­bor­dende Musikfilm von einer beein­dru­ckenden Persön­lich­keit; wie Die Frau mit den 5 Elefanten ist der Prot­ago­nist ein absoluter Ausnah­me­künstler. Wenn gleich auch das Portrait von Fred Frith wilder ausfällt und die Doku­men­ta­tion wesent­lich mehr Schnitte aufweisen kann. Und dennoch ist der Schnitt ähnlich: straight, aber rhyth­misch, fließend, schwebend.

Dass der Schnitt von Die Frau mit den 5 Elefanten nicht sogleich als so spek­ta­kulär wahr­ge­nommen wird, wie er tatsäch­lich ist, mag viel­leicht am klas­si­schen Stil der Doku­men­ta­tion liegen. Aber eine andere Tonart wäre seiner Prot­ago­nistin, der 86-jährigen Über­set­zerin Swetlana Geier, und ihrer Lebens­ge­schichte auch nicht gerecht geworden. »Der Rhythmus des Films entspricht der Frau Geier, die wir kennen lernen. Er ist nicht zu schnell, er ist nicht zu langsam in der Wertig­keit von Bild und Ton. Da kickt das Bild nicht das Wort weg«, sagt Gisela Castro­nari-Jaensch schließ­lich. Dabei schwingt eine gute Portion Stolz im Klang ihrer Stimme mit.