Film ist Bewegung |
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Swetlana Geier, die Grande Dame der russischen Übersetzung |
Schon die erste Szene überrascht. Wie sich auf einer schwarzen Leinwand ein Bild zusammensetzt, Pixel für Pixel. Langsam erkennt man in der Dunkelheit eine Brücke, die ein Zug gerade überquert. Er fährt Richtung Zuschauer, zieht im Dunkeln vorbei. Aus dem Off ist unterdessen Swetlana Geiers Stimme zu hören, wie sie ruhig ein Gedicht von Puschkin zitiert: »Mein lieber Freund, weißt du denn nicht.« Der Klang der Stimme lässt keinen Zweifel daran, wie sehr sie dem Schriftsteller für diese Zeilen Respekt zollt. Dann ist Swetlana Geier selbst zu sehen, ihre wachen Augen, ihr weißes Haar. Der Schnitt ist präzise gesetzt, rhythmisch.
»Frau Geier ist eine umwerfende Frau, eine mädchenhafte 86-Jährige«, sagt Cutterin Gisela Castronari-Jaensch über ihre Protagonistin in Die Frau mit den 5 Elefanten. Und fügt hinzu: »Über das Übersetzen habe ich mir vorher keine Gedanken gemacht. Ich hatte mir es nicht so nachdrücklich, nicht so leidenschaftlich vorgestellt.« Gisela Castronari-Jaensch hat viel Zeit mit der Übersetzerin Swetlana Geier – deren Neuübersetzungen von Dostojewskijs fünf gewichtigsten Romanen, genannt die »fünf Elefanten«, ihr Lebenswerk sind und als literarische Meilenstein gelten – am Schneidetisch zugebracht. 18 Wochen benötigte sie für den Schnitt, bis aus über 70 Stunden Material ein 93-minütiger Dokumentarfilm fürs Kino wurde. Die ersten drei Wochen arbeitete Gisela Castronari-Jaensch an einem Avid in München, anschließend schnitt sie mit dem Regisseur Vadim Jendreyko in Basel weiter. Allein drei Wochen lang hatte die Cutterin Rohmaterial gesichtet. Genügend Zeit, um auf sich wirken zu lassen, wie Frau Geier ist.
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In München bastelte Castronari-Jaensch zunächst an ersten szenischen Bausteinen. Wie »Frau Geier bereitet Essen zu« (einen russischen Salat für ein Familientreffen etwa) oder »Frau Geier erledigt ein paar Einkäufe auf dem Markt«. Aber auch erste Teile von ihrer Zugfahrt nach Kiew entstanden. Eine geistige Klammer, sprich eine Chronologie sollte durch Swetlana Geiers Aufbruch in die Ukraine und ihre Rückkehr nach Freiburg entstehen; alles eingebettet in ihre Lebens- und Familiengeschichte. In Basel reduzierte die Cutterin die abgespeicherten Takes schließlich auf ihre Erzählstruktur, so dass eine zweieinhalbstündige Filmfassung entstand. Diese Version brachen sie und Vadim Jendreyko in den nächsten Wochen immer wieder auf und gestalten sie neu.
Für die Cutterin kam außer der Aufgabe, eine schlüssige Bildabfolge zu finden, noch eine weitere Besonderheit hinzu: Sie hatte enormen Respekt, den Text zu kürzen. »Frau Geier ist auch in ihren Nebensätzen so kostbar, dass man denkt, da kann ich jetzt nicht schneiden. So ist es mir noch nie ergangen«, sagt Castronari-Jaensch. Welche sprachliche Herausforderung das am Schneidetisch gewesen sein mag, erahnt man anhand einzelner Szenen von Die Frau mit den 5 Elefanten. Wenn Swetlana Geier etwa in der Küche kurzerhand über die Zwiebel, das Geschichtenerzählen und damit auch über das menschliche Dasein philosophiert, was, wie die Cutterin nebenbei bemerkt, »hohe Literaturwissenschaft beim Fleischpflanzerlbraten« war. Aber während des Drehs gab es auch die sogenannten Salongespräche. Hier führte Swetlana Geier mit dem Regisseur dezidiert Gespräche über Dostojewskij, das Verb an sich, das Übersetzen und die Sprache. Im Film sind einige Szenen davon als auf ihre Essenz reduzierte Sätze erhalten geblieben. Aber weiß man von den Salongesprächen, ahnt man, welche Schätze da noch im Verborgenen liegen und würde am liebsten selbst das Material einsehen wollen.
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All diese Erzählebenen: »Swetlana Geier lebt und arbeitet in ihrem Haus in Freiburg«, die Reise mit ihrer Enkelin in die Ukraine und ihre Jugend in Kiew durchdringen eine einzige Leidenschaft: das Übersetzen. Mühelos zeigt Die Frau mit den 5 Elefanten, wie eng für Swetlana Geier Literatur und Leben miteinander verwoben sind. Ähnlich wie das Tischtuch, das ihre Mutter gewebt und dem sie einen Drachen auf gestickt hatte, weiß auf weiß. Unorthodox schafft der Schnitt eine Brücke, ein inneres Band, zwischen all diesen Bezügen. »Es gab irgendwann den Punkt, wo wir uns von etwas getrennt haben, was eine Notwendigkeit im Schneideraum ist: die Anschlüsse oder Tageszeiten einheitlich zu gestalten. Wir haben große szenische Schnitte gemacht, da es uns wichtiger war, die inhaltliche Form beizubehalten«, erklärt Castronari-Jaensch.
So konnte die Cutterin die verschiedenen Bilder – Zugfahrten, Gespräche, Stummfilmszenen, Fotos und Archivmaterial – mit Ton und Musik umsichtig orchestrieren. Stellenweise ist der Schnitt sehr klar, sehr rhythmisch, stellenweise scheint er gar zu schweben. Ohne dass die Bilder an Sinnlichkeit, an Leichtigkeit verlieren und trotzdem zutiefst intellektuell oder emotional sind, wird hier Swetlana Geiers Lebensgeschichte erzählt. In einer Szene etwa spricht die Grande Dame mit dem Regisseur über den Tod ihres Sohnes. Ihr Daumen streicht über den Henkel einer Teetasse. Mehrmals. Dann sagt sie ruhig: »Ich kann darüber sprechen. Aber dass ich ihn nie wieder sehen werde, … es hat mich noch nicht erreicht … Ich bin noch nicht angekommen.« Umschnitt auf ein Nilpferd aus Holz, das sie in der Hand hält – das weckt die Assoziation, ihr Sohn, der Werklehrer an einer Waldorfschule war, könnte das Pferd geschnitzt haben. Anschließend berichtet Swetlana Geier traurig, aber sehr gefasst von der Beerdigung. Wieder ein Umschnitt auf das Nilpferd. »Das gibt es oft in dem Film: zwei ganz unterschiedliche Orte mit einem Thema«, kommentiert Gisela Castronari-Jaensch diese Sequenz.
Große szenische Schnitte gibt es auch, wenn Swetlana Geier nach 65 Jahren zum ersten Mal von Deutschland in die Ukraine fährt. Während dieser Reise, dieses Aufbruchs in ihre Vergangenheit, scheint sie tief bewegt zu sein. Sie schaut aus dem Fenster und spricht über ihre Familie, über ihre Jugend 1943 während der Besatzung in Kiew durch SS Kommandos und immer wieder über das Übersetzen. Stück für Stück scheint die Erinnerung zurückzukehren. Diese Gespräche beginnen erst mit der Zugfahrt nach Kiew, bemerkt Castronari-Jaensch. Und sie fügt hinzu: »Davor ist diese Reise so still, worüber ich sehr froh bin, dass nicht ein Off-Kommentar diese Emotionen stört.«
Von Anfang an durchzieht das Motiv des Reisens den Film. Abstrakte, verwischte Bilder greifen dieses Motiv auf, lange Zeit befindet sich Swetlana Geier (und damit auch der Zuschauer) auf der Reise, des weiteren gibt es häufiger Brücken zu sehen. Mit dem Überqueren von einem Ort zu einem anderen (oder dem Übersetzen von einer Sprache in die andere, diese Doppeldeutigkeit ist gewollt), scheint es aber auch um das Ankommen zu gehen oder genauer gesagt darum, wie man (oder das Wort) an einem fremden Ort ankommt. Swetlana Geier formuliert das in der Dokumentation einmal so: »Für das Übersetzen ist die Vorstellung eines Transports keine zureichende Metapher. Es ist kein Transport, weil das Gepäck niemals ankommt. Mich haben immer die Verluste interessiert. Mich hat das interessiert, was immer jenseits des Neuen, des Übersetzten bleiben muss.« Diesen Gedanken greift die Dokumentation auf, macht ihn zu seiner zentralen Aussage und setzt dies über die Bilder des Reisens und die Aufnahmen verschiedener Brücken als visuelle Metapher um.
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»Ich glaube, dass ich mir Bilder und Situationen so anschaue, dass ich die Bewegung suche. Ich suche sie wirklich«, sagt Castronari-Jaensch über ihre Art, einen Film zu schneiden. Dann führt sie weiter aus: »Das heißt nicht, dass ich ruhige Momente wegschneide. Ein Film ist eine Bewegung. Er bewegt sich vom Anfang zum Ende. Wenn ich dann noch das große Glück habe, in einem Zug, in einem Auto, auf einem Gang zu sein, dann versuche ich das als Stilmittel aufzugreifen. Aber es gibt auch solche Sachen wie 'Frau Geier kocht' und 'ist in Bewegung'. Das Ausrollen von einem Kuchenteig, auch das ist eine Bewegung und das muss man so sehen. Und wenn ich an den Schnitt gehe, dann werde ich ganz selten vor einer Körperbewegung schneiden. Ich schneide, wenn Frau Geier den Kuchen ausgerollt hat; die nächste Bewegung ist, wenn sie das Backblech nimmt und es in den Ofen stellt. Wenn man genau hinschaut, bewegt sich das Bild sehr oft. Es muss aber nicht zwingend sein, in die Bewegung zu schneiden. Man muss auch an das anknüpfen, was ich am Anfang gesagt habe: Es muss eine Geschichte damit erzählt werden. Das Bild muss mir gefallen, es muss mit mir sprechen; dann ist mir die Bewegung eine hilfreiche Unterstützung.«
In Die Frau mit den 5 Elefanten sucht die Castronari-Jaensch nicht nur die Bewegung, die ein Bild preisgibt und wodurch es beginnt, etwas zu erzählen. Über seine Protagonistin oder über eine Situation etwa. Nein, an mancher Stelle baut sie auch eine Gegenbewegung zu dem Erzählten auf. So blitzt neben der Schwere mancher Szene, in der der Film stecken bleiben könnte, immer wieder Humor auf. Wie in einer Übersetzungsszene mit Frau Hagen, der Sekretärin. Jeden Morgen kommt Frau Hagen zu Frau Geier ins Haus. Erst wird gemeinsam gefrühstückt, dann gearbeitet. An der Schreibmaschine wartet Frau Hagen geduldig auf das erste Wort von Frau Geier. Diese blättern noch in einem Buch. Ihre Hand hält eine Seite. Hell leuchtet das weiße Papier, die schwarzen, russischen Lettern schimmert durch. Zögerlich spricht Frau Geier den ersten Satz, Frau Hagen tippt ihn aufs Blatt. Als der nächste Satz folgt und dieser im Geklapper der Schreibmaschine untergeht, sagt die 83-jährige Frau Hagen: »Ich habe dich nicht richtig verstanden. Ich habe hier so viel Lärm gemacht.« Im Nu ist die Spannung aufgelöst. »Das macht dieses Feuerwerk mit Frau Hagen aus; in dem du vorher die Schwere des Übersetzens an einem Tisch in einem Haus zeigt, diese Wortlosigkeit, diese Stille, dieses Ringen«, sagt Gisela Castronari-Jaensch. Nur zu gern schaut man diesen old-school-Damen bei ihrem Handwerk zu und wünscht sich insgeheim, dass doch die jetzige Generation an Übersetzern auch solche Arbeitsbedingungen hätte.
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Plötzlich schießt Gisela Castronari-Jaensch ein Gedanke durch den Kopf und sie erzählt, wie sie gestern nach langer Zeit die Dokumentation erneut im Kino gesehen hat. Dabei sei ihr – zu ihrer eigenen Überraschung – aufgefallen, dass Die Frau mit den 5 Elefanten eine ähnliche Bewegung habe wie Step Across the Border. Die Schnittfrequenz sei zwar geringer und Frau Geier habe nur die Hälfte der Schnitte, aber die Bewegung beider Filme sei die gleiche. 1990 hatte Gisela Castronari-Jaensch die Dokumentation Step Across the Border geschnitten. Die Regisseure Nicolas Humbert und Werner Penzel hatten den Avantgardemusiker Fred Frith drei Jahre mit ihrer Kamera begleitet, während dieser mit einer seiner Bands durch die Welt tourte. Wie Die Frau mit den 5 Elefanten lebt der überbordende Musikfilm von einer beeindruckenden Persönlichkeit; wie Die Frau mit den 5 Elefanten ist der Protagonist ein absoluter Ausnahmekünstler. Wenn gleich auch das Portrait von Fred Frith wilder ausfällt und die Dokumentation wesentlich mehr Schnitte aufweisen kann. Und dennoch ist der Schnitt ähnlich: straight, aber rhythmisch, fließend, schwebend.
Dass der Schnitt von Die Frau mit den 5 Elefanten nicht sogleich als so spektakulär wahrgenommen wird, wie er tatsächlich ist, mag vielleicht am klassischen Stil der Dokumentation liegen. Aber eine andere Tonart wäre seiner Protagonistin, der 86-jährigen Übersetzerin Swetlana Geier, und ihrer Lebensgeschichte auch nicht gerecht geworden. »Der Rhythmus des Films entspricht der Frau Geier, die wir kennen lernen. Er ist nicht zu schnell, er ist nicht zu langsam in der Wertigkeit von Bild und Ton. Da kickt das Bild nicht das Wort weg«, sagt Gisela Castronari-Jaensch schließlich. Dabei schwingt eine gute Portion Stolz im Klang ihrer Stimme mit.