14.10.2010

ARTE in der »Qualität­s­of­fen­sive«

Grenzgänger
»Discoverysierung« bei ARTE zur Primetime: »Grenzgänger«

Von Rüdiger Suchsland

Vor der Dok Leipzig kommende Woche: Die Frage nach der Zukunft des deutsch-fran­zö­si­schen Kultur­ka­nals berührt grund­sätz­liche Fragen zum Selbst­ver­s­tändnis des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens

Die »Causa Heinze« war gerade etwas abgekühlt, und die »Causa Brender« hatte ihren Höhepunkt noch längst nicht erreicht, als vor fast einem Jahr, beim 52. Inter­na­tio­nalen Leipziger Festival für Doku­mentar- und Anima­ti­ons­film Ende Oktober 2009 bereits die ungewohnt offene Eröff­nungs­rede von Festi­val­di­rektor Claas Danielsen für Gesprächs­stoff sorgte, der sich auch an den folgenden Tagen durch viele Diskus­sionen und Gespräche zog. Jetzt, nach fast einem Jahr muss man an diese Diskus­sion erinnern, und fragen, wie sich die Ange­le­gen­heit entwi­ckelt hat.

Um offene Korrup­tion und Nepo­tismus ging es dabei so wenig, wie um offene partei­po­li­ti­sche Einfluss­nahme. Vielmehr waren schlei­chende Verän­de­rungen in den öffent­lich-recht­li­chen Sendern das Thema, jene Negativ-Entwick­lungen, die nicht im Fehl­ver­halten von Einzelnen begründet liegen, sondern eher im »Zeitgeist«, und bei denen man noch nicht einmal den aller­meisten Betei­ligten ihren subjektiv guten Willen abspre­chen kann.

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»Das Fernsehen verarmt inhalt­lich und ästhe­tisch, verliert breite Zuschau­er­schichten und wird immer irrele­vanter. Wann endlich werden von den Markt­for­schungs­in­sti­tuten die Nicht-mehr-Fern-Seher gezählt?! Ich nenne das mal die 'Schat­ten­quote'. … Seien wir ehrlich: Die vordring­lichste Aufgabe des Fern­se­hens ist nicht mehr Bildung, Aufklä­rung und gesell­schaft­liche Teilhabe, sondern die Ruhig­stel­lung der vielen sozial abstei­genden Menschen.« Starke Worte! Fern von popu­lis­ti­schem gene­rellen Fernseh-Bashing betonte Danielsen in seiner Kritik an der Verdrän­gung von Filmen mit Auto­ren­hand­schrift trotzdem, es gehe nicht um wohlfeile Schelte: »Und doch kann ich als sehender und hörender Mensch nicht umhin fest­zu­stellen, dass sich das öffent­lich-recht­liche Fernsehen frei­willig zum reinen Massen­me­dium hat degra­dieren lassen. Wir nähern uns dem kleinsten gemein­samen Nenner und bekommen das geboten, was am wenigsten weh tut. Wir mauern uns mental ein und erzeugen ein Wir-Gefühl der Verängs­tigten.« Ausschließ­lich fixiert auf bere­chen­bare Einschalt­quoten und einen sicheren »Audience Flow« sei auch im öffent­lich-recht­li­chen Fernsehen das Programm »durch­for­ma­ti­siert worden«. Fest­ge­fügte Sendungs­re­zepte – etwa die stilis­ti­sche Unsitte eines das Bild verdop­pelnden Dauer­kom­men­tars – hätten das Medium erstarren lassen. »Hinter diesen Format­fas­saden verste­cken sich die verant­wort­li­chen Redak­teure und machen sich unan­greifbar. Eine redak­tio­nelle Hand­schrift jedoch können sie nicht mehr hinter­lassen. Sie zeigen sich nicht mehr.«

Der Kern von Dani­el­sens Kritik richtete sich vor allem gegen eine von ihm konsta­tierte generelle »gefähr­liche Haltung Programm­ver­ant­wort­li­cher gegenüber dem Zuschauer«. Dieser werde »oft für einge­schränkt aufnah­me­fähig und etwas zurück­ge­blieben gehalten und damit letztlich als unmün­diger Bürger abge­stem­pelt. Komplexe, unge­wöhn­liche und fordernde Themen und Erzähl­weisen sind ihm angeblich nicht mehr zuzumuten.«

In dieser Situation werde vor allem der Doku­men­tar­film, und ein »so unkon­trol­lier­bares, fantas­tisch wildes und manchmal auch anar­chi­sches« Medium wie der animierte Kurzfilm, in den Büros der Programm­planer kaum noch wert­ge­schätzt, und weder von den Produk­ti­ons­lei­tern ausrei­chend finan­ziert, noch ange­messen im Programm platziert. »Ich fordere die Kolle­ginnen und Kollegen in den von uns allen finan­zierten Funk­häu­sern auf: Steuern Sie um und wider­stehen Sie. Zeigen Sie sich! Zeigen Sie ihre Frus­tra­tion und Wut, die ich in Gesprächen mit intel­li­genten Redak­teuren immer wieder höre.«

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Diese Sätze waren mehr als deutlich, denn auch wenn es hierin nicht explizit und bestimmt nicht ausschließ­lich um Arte ging, zielten sie doch ins Herz einiger Probleme des 1991 gegrün­deten deutsch-fran­zö­si­schen Kultur­ka­nals. Zudem waren einige weitere Hinweise Dani­el­sens unver­kennbar direkt auf Arte gemünzt: Die Kritik daran, dass Filme mit Origi­nal­spra­chen in allen deutschen Fern­seh­sen­dern synchro­ni­siert werden, statt unter­ti­telt, wie der indirekte Hinweis darauf, dass Themen kaum noch vorkämen, die jenseits des regio­nalen oder natio­nalen Sende­ge­biets ange­sie­delt seien. Der griff den in Leipzig später mehrfach zu hörenden Vorwurf auf, viele ARD-Sender verfolgten den Trend, Arte nur noch als einfaches Anhängsel der eigenen Dritten Programme zu begreifen. Themen würden zunehmend auf ihre regionale Verwert­bar­keit zurecht­ge­stutzt, vermeint­lich »schwie­rige« Themen und Stoffe mit inter­na­tio­nalen Bezügen würden dadurch zunehmend ausge­klam­mert.

In diesem Zusam­men­hang war es mehr als eine Randnotiz, als während des Leipziger Festivals Sabine Rollberg, Arte-Beauf­tragte des WDR und Arte-Redak­ti­ons­lei­terin, von der AG DOK, dem Inter­es­sen­ver­band der Autoren, Regis­seure und Produ­zenten, für ihr »dickes Fell« ausge­zeichnet wurde. Bei der Verlei­hung der alle zwei Jahre verlie­henen Auszeich­nung lobte die AG DOK Rollberg für ihr »hervor­ra­gendes Bemühen um den Erhalt und die Pflege des Doku­men­tar­films als Bestand­teil öffent­lich-recht­li­cher Fern­seh­pro­gramme«. Sie habe sich dem allge­meinen Trend zur Miss­ach­tung von Filme­ma­chern nicht ange­schlossen, hieß es in der Laudatio. Rollberg sei »nach wie vor von der Vision eines völlig anderen, nur dem öffent­lich-recht­li­chen Programm­auf­trag und insbe­son­dere der Kultur verpflich­teten Fern­se­hens erfüllt«. Mit der Wahl der Preis­trä­gerin wolle die Arbeits­ge­mein­schaft den WDR und andere Sender »zu einer inten­si­veren Wert­schät­zung des Auto­ren­films ermutigen«. Sie verbinde damit »die Hoffnung auf Erhalt der Eigen­s­tän­dig­keit der WDR/Arte-Redaktion. Heraus­ra­gende Programm­ar­beit, wie sie in dieser Redaktion nach­weis­lich über viele Jahre hinweg geleistet wurde, verlangt nach einem adäquaten redak­tio­nellen Freiraum, der von äußeren Vorgaben frei gehalten werden muss.«

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Entspre­chend ange­spannt ange­sichts der im Raum stehenden Vorwürfe war die Stimmung denn auch bereits vor Beginn, als am vierten Festi­valtag einen ganzen Nach­mittag lang im Rahmen des »Leipziger Forum für inno­va­tives doku­men­ta­ri­sches Fernsehen«, einer gemein­samen Veran­stal­tung von DOK Leipzig und dem Docu­men­tary Campus e.V., über »Die Zukunft von Arte« debat­tiert wurde – nament­lich im Hinblick auf den Doku­men­tar­film und vor dem Hinter­grund der aktuell bevor­ste­henden neuen Arte-Programm­struktur. Auf dem Podium saßen Arte-Programm­di­rektor Dr. Christoph Hauser und seine für Doku­men­ta­ri­sches zustän­digen Redak­ti­ons­leiter. Die Mehrzahl der rund 250 Fach­be­su­cher im Publikum bestand aus Produ­zenten und Filme­ma­chern, die in der Regel eigene Arte-Erfah­rungen vorweisen konnten.

Der Beginn ließ sich versöhn­lich an: Danielsen, der die Mode­ra­tion übernahm, gestand seine Liebe zu Arte und lobte den Sender als das immer noch »span­nendste Programm« im Hinblick auf Doku­men­tar­filme; Hauser stellte klar, die Doku­men­ta­tion sei »neben Fiktion und Bericht­erstat­tung das wich­tigste Genre« und »das prägende Element« für Arte, jede Woche zeige man 23 Stunden Erst­auf­füh­rungen und über 40 Stunden Wieder­ho­lungen im Programm. Mit über 70 Millionen Euro ginge mehr als ein Drittel des gesamten Programm­bud­gets an Doku­men­ta­tionen – und Arte sei hier in erster Linie Co- oder Auftrags­pro­du­zent, nicht Ankäufer. Auf die Kritik, etwa der AG DOK, am deutlich vers­tärkten Einkauf anglo­ame­ri­ka­ni­scher Filme, ging Hauser nicht ein.

Feine Unter­schiede wurden hier vor allem in Details deutlich: Etwa in der jewei­ligen Wortwahl: Ob man von Doku­men­tar­film spricht, oder von Doku­men­ta­tion, ist mehr als eine Nuance. Sie markiert den Unter­schied zwischen expli­zitem Kino­an­spruch und einem beliebig offenen Raum zwischen bestem Fernsehen und austausch­barem Format-TV. Noch immer werden bei Arte auch heraus­ra­gende Doku­men­tar­filme produ­ziert, wie die hierfür zustän­dige Annie Batail­lard eindrück­lich darstellte: Eisen­fresser und Darwin’s Nightmare, Filme von Errol Morris und Frederick Wiseman, Material von Thomas Heise oder Anne Cavalies Stille Orte. Vieles findet seinen Weg ins Kino – hier zeigt sich Arte als ein einzig­ar­tiger Ort in der Fern­seh­land­schaft. Aber die Tendenz zur Popu­la­ri­sie­rung ist klar.

Vieles läuft davon auch bei Arte nur noch zu später Stunde. Zur Primetime sendete man zuletzt Doku-Serien wie »Auf der legen­dären Teeroute«, »Grenz­gänger« oder »Die schönsten Küsten Frank­reichs«. Stan­dar­di­sie­rung in der Form und ein »positives Weltbild«, »in erster Linie fami­li­en­taug­lich … kurz­weilig und leicht zugäng­lich« (so die für Doku­men­ta­tionen und Magazine zustän­dige Kornelia Theune) kenn­zeichnen diese Serien, die von Sender­seite mit dem Satz verkauft werden, man versuche mit Neugier das Fremde zu erfor­schen. Im Ergebnis aller­dings finden diese Main­stream­pro­duk­tionen zumeist nur das Immer­gleiche, immer schon bekannte. Andere Beob­achter sprechen von zuneh­mender »Disco­ver­y­sie­rung«. Freilich steht nicht allein die Machart infrage, sondern auch, ob Derar­tiges eigent­lich die Aufgabe von Arte ist.

Theune recht­fer­tigte das Ergebnis – »Es ist für uns keine ›art mineur‹. Es ist eine andere Form des Doku­men­ta­ri­schen, und dazu stehen wir« – mit dem Erfolg: Durch­schnitt­lich 315.000 Zuschauer in Deutsch­land und 570.000 in Frank­reich und das Über­schreiten der »magischen Zielmarke« von 1 Prozent Markt­an­teil erlaube erst, »auf anderen Sende­plätzen genau das zu tun, was Sie alle immer wieder mit Recht von Arte erwarten, nämlich künst­le­ri­sche und formelle Risiken einzu­gehen.«

Dieses Prinzip ist aus dem Lite­ra­tur­ver­lags­wesen – Suhrkamp – lange bekannt und mitunter sehr erfolg­reich. Im Ergebnis bedeutet es aller­dings, dass – ein Beispiel aus jüngster Zeit – dann das über Jahre mit dem Billig-Privat­sender Vox verbun­dene Gesicht von Dirk Steffens, dessen Mode­ra­tionen meist allen­falls den Tiefgang eines Kinder­plantsch­be­ckens haben, plötzlich zur besten Sendezeit auf Arte zu sehen ist.

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Neben solchen bezeich­nenden Fall­bei­spielen kreiste die rund dreis­tün­dige Debatte in Leipzig vor allem um Grund­satz­fragen: Wo sei das Allein­stel­lungs­merkmal von Arte? fragte Danielsen. Oder sei dies zuviel verlangt, ein zu elitärer Anspruch in einer zunehmend anspruchs­losen Fern­seh­land­schaft? Theune verwies auf Unter­schiede in der Umsetzung: Weniger drama­ti­sie­rend, weniger insze­nie­rend, weniger an den Zuschauer heran­schmeißen und bestand darauf: Man könne es sich nicht erlauben, auf allen Sende­plätzen »immer nur super­o­ri­gi­nell und einzig­artig zu sein«. Aber warum eigent­lich nicht? War nicht dies einmal der Grün­dungs­ge­danke von Arte, etwas Beson­deres, im besten Fall Einzig­ar­tiges zu liefern.

Christoph Hauser antwor­tete als Programm­di­rektor grund­sätz­li­cher: »Ich bin kein Verfechter der Nischen­de­fi­ni­tion von Arte. Wer in die Nische sich begibt, wird darin austrocknen; am Schluss wird nichts übrig bleiben, kein Themen­feld und kein Genre, das nicht von anderen auch besetzt ist.« Er wolle in Erin­ne­rung rufen, dass Arte nicht als Nischen­sender gegründet worden sei, »sondern als kultu­relles Voll­pro­gramm, ein Voll-Programm, das alles macht, außer Unter­hal­tung und Sport.« Entschei­dend sei, quali­tativ besser und inno­va­tiver zu sein. Die bessere Qualität sei für ihn das Unter­schei­dungs­merkmal von Arte. »Daher ist nicht der Rückzug angesagt, sondern die Qualität­s­of­fen­sive.«

Auf diese Ausfüh­rungen entspann sich eine lebhafte Debatte. Heftig wider­sprach unter anderem Gabriela Bussmann, vom Doku­mentar-Film­fes­tival Visions du Réel in Nyon: Mit 0.8 – 1.0 Prozent Markt­an­teil sei man Nische, nicht Voll­pro­gramm. Und Arte sei eine der letzten Nischen, in der kreative künst­le­risch-ambi­tio­nierte Filme­ma­cher einen Sende­platz finden könnten. Aus dieser Nische gelte es ästhe­tisch-poli­ti­sches Kapital zu schlagen, man müsse für sie das Publikum sensi­bi­li­sieren, nicht diese umgekehrt einem Massen­pu­blikum anzu­passen. »Sonst sieht niemand mehr diese Filme!«

Auch andere Diskus­si­ons­teil­nehmer äußerten sich in eine ähnliche Richtung, oder sie bemän­gelten die Strei­chung bestimmter beson­derer, »schwie­riger« Sende­plätze, wie an der Entschei­dung, in Zukunft den Sende­platz »Gesell­schafts­doku« weit­ge­hend ersatzlos zu streichen. Oder am lieblosen Umgang mit den Themen­abenden, die einst ein Marken­zei­chen für Arte waren, jedoch bereits bei der letzten Sender­re­form um mehr als ein Drittel reduziert wurden. Generell sei, so kriti­sierten Produ­zenten am Rande die neue Sender­po­litik, »ein Schlag ins Genick der unab­hän­gigen Produ­zenten und Filme­ma­cher.«

Hauser argu­men­tierte demge­genüber kaum inhalt­lich, sondern struk­tu­rell, mit »Audience Flow« – »eine Bugwelle geht durch das ganze Programm« –, mit »Einschalt­im­pulsen« und mit dem Zuschau­er­zu­spruch. Der ist unbe­stritten gestiegen. Erst recht wenn man wie der Programm­di­rektor noch die Zahlen derje­nigen dazu­rechnet, die Arte-Beiträge im Internet als Streaming nachholen, oder »on demand« ansehen. Dort sei auch das Publikum deutlich jünger. Bis zu 200.000 Menschen rufen einzelne Filme ab – eine erfreu­liche Zusatz­ver­wer­tung, von der die Produ­zenten aller­dings bislang nicht profi­tieren. Zudem wirft Hausers Aufstel­lung einer impli­ziten »Gesamt­quote pro Film« und kumu­lierter Reich­weiten, zu denen unter Umständen auch noch DVD-Verkäufe zu zählen sind, neue Fragen auf: Wo wäre der Vergleichs­wert? Wie stünde Arte da, wenn auch alle anderen Sender ihr Programm sieben Tage ins Netz stellten, wenn man auch alle übrigen DVD-Verkäufe der Quote der jewei­ligen ausstrah­lenden Sender hinzu­rechnen würde? Im Verweis auf Internet-Zuschauer und DVD-Verkäufe liegt zudem immer auch ein Hauch von Abschied vom Fernsehen.

Demge­genüber verwies Thomas Frickel (AG DOK) auf die mangel­hafte Signi­fi­kanz der Quote im hier rele­vanten Bereich von einem Prozent. Zudem habe Arte ein Quoten­denken gar nicht nötig: »In bestimmten Bereichen macht sich eine Popu­la­ri­sie­rung breit, Marketing-Begriffe wie ›Fami­li­en­freund­lich­keit‹, ›Wieder­er­kenn­bar­keit‹ – die hat Arte eigent­lich nicht nötig. Dieser Sender ist ja wieder­er­kennbar.«

Ein letzter wichtiger Punkt, der ange­spro­chen wurde, ist die Frage nach den Programm­zu­lie­fe­rungen von Arte an die dritten Programme der ARD. Sie müssen kompa­tibel sein, worunter viele Produ­zenten leiden, die Themen oft nur noch unter­bringen können, wenn sich der gewünschte regionale Bezug nach­weisen lässt. Für die ARD ist Arte somit vor allem als preis­werter Lieferant und Zusatz­fi­nan­cier der Dritten Programme inter­es­sant. Immerhin 50 Prozent des deutschen Programms von Arte müssen mit den Dritten Programmen kompa­tibel sein, Formate und Formen doppeln sich. Auch hier antwor­tete Hauser in Leipzig auswei­chend, mit Verweis auf den fiktio­nalen Bereich und den Profit, den Arte daraus ziehe, mit relativ kleiner Betei­li­gung heraus­ra­gende Programme zu finan­zieren.

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Mitte November hat Arte nun die umfang­rei­chen Program­män­de­rungen für das kommende Jahr präzi­siert, die bereits ab Januar 2010 gelten. Vor zwei Jahren erst hatte es die letzte Reform der Programm­struktur gegeben: Sein­er­zeit hatte man den Beginn des Haupt­pro­gramm erst nach hinten auf 21 Uhr verlegt, auch damals hatte es schon geheißen, man wolle jüngere Zuschauer gewinnen. Nun zieht man vor, auf die »deutsche TV-Primetime 20.15 Uhr«, so Hauser. Von dieser Umstel­lung erhofft sich der Sender »eine wesent­liche Stärkung auch der zweiten Hälfte des Abend­pro­gramms«. Damit verbunden sind verscho­bene sowie neue oder ausge­baute Schwer­punkte: Montag sei der »Tag der Kultur«, dienstags würden von Arte kopro­du­zierte Serien wie »KDD« oder »Im Angesicht des Verbre­chens« von Dominik Graf gezeigt, freitags Wissen­schaft und Doku­men­tar­film. Neu ist vor allem die Einfüh­rung des Themen­be­reichs »Popkultur« am Donnerstag. Mit der Verän­de­rung antworte man, wie es aus dem Sender hieß, »auf verän­derte Seh- und Nutzungs­ge­wohn­heiten.« Insgesamt erwarte man, »ein breiteres Publikum« zu erreichen, sagte Hauser. Der dafür zur Verfügung stehende Etat wird erst im Februar bekannt gegeben, im Jahr 2009 belief er sich auf knapp 402 Millionen.

Parallel zu diesen Verän­de­rungen kommt zwei positive Nach­richten: Zum einen, die, dass Arte 2009 in Deutsch­land auf sein erfolg­reichstes Jahr zurück­bli­cken kann, und die Einschalt­quote den höchsten Wert in der Unter­neh­mens­ge­schichte erreichte. Danach liegt der Markt­an­teil in der Primetime bei gut 0,9 Prozent (2008: 0,8 Prozent), ganztägig bei 0,7 Prozent (0,6 Prozent). Der Anteil dürfte sich 2010 weiter verbes­sern, denn bereits Ende 2009 soll Arte in allen deutschen Fern­seh­haus­halten rund um die Uhr empfangbar sein. Nach einer Verein­ba­rung mit der Kabel Deutsch­land GmbH, wird Arte in weiteren 7,8 Millionen Haus­halten zuge­schaltet.

Was wird diesen Zuschauern geboten? Ein Sender, der sich in den letzten Jahren auf der einen Seite wieder seiner ureigenen Aufgaben besinnt, der die unsäg­li­chen Docu-soaps abge­schafft, die oft recht schlichten, boule­var­desken Koch- und Reise­sen­dungen zumindest reduziert hat. Ein Sender, der ande­rer­seits alles, was nach Elfen­bein­turm aussehen könnte, scheut, wie der Teufel das Weih­wasser, und weiterhin an dem Anspruch festhält, ein Voll­pro­gramm bieten zu wollen. Ein Anspruch, der ange­sichts der Verhält­nisse doch eher fiktiv ist – aus Quoten­gründen, und weil man in seiner einzig­ar­tigen deutsch-fran­zö­si­schen Struktur eben letzt­end­lich eine kultur­po­li­ti­sche Kopf­ge­burt ist – aus der sich freilich Kapital schlagen ließe.

»Arte« muss aufhören, seine Beson­der­heiten zu verste­cken, bezie­hungs­weise sich für sie zu entschul­digen kommen­tiert hierzu die Kölner Medi­en­wis­sen­schaft­lerin und Autorin Heike-Melba Fendel: »In Frank­reich gibt es das Sprich­wort: ›Qui s'excuse, s'accuse‹. Ich empfehle Arte umgekehrt eine affir­ma­tive Strategie: Aus der Schwäche eine Stärke zu machen.« In Straßburg argu­men­tiert man, Arte wolle jüngere Zuschau­er­schichten erschließen – wobei der Sender mit einem Durch­schnitts-Zuschau­er­alter von 55 Jahren keines­wegs zu den »ältesten« im Land gehört. Hierzu soll neben der struk­tu­rellen Reform und einer stilis­ti­schen Verjün­gung vor allem die inhalt­liche Erschließung des Terrains »Popkultur« herhalten. Geboren worden dürfte dieser Gedanken nach den relativ erfolg­rei­chen Sommer­pro­gramm­schwer­punkten »Summer of Love« und »Sommer der 70er«.

Aber eine 22-Uhr Doku­men­ta­tion über die Beatles ist viel­leicht nett, aber dann doch nur, was die älteren Herr­schaften in den Gremien für Jugend­kultur halten, und wenn dann von »Lifestyle, Mode und Design« zu lesen ist, davon, in den ersten Sendungen begleite man Karl Lagerfeld, Jean Paul Gaultier und weitere wichtige Mode­schöpfer bei den aufrei­benden Momenten vor ihren Modeshows, dann kann man nur müde lächeln. Mit Popkultur hat das wenig zu tun, und unter 20-jährige für Arte inter­es­sieren kann man eher mit einer gut gemachten Literatur- oder Kino-Sendung, als mit so etwas.

Das Haupt­pro­blem ist die hier zugrunde liegende Defi­ni­tion von »Kultur«. Derzeit arbeitet Arte an vorderster Front mit an dem Prozess einer schlei­chenden Umde­fi­nie­rung von Kultur, der Verwäs­se­rung und Auswei­tung eines einst klar umris­senen, spezi­fisch gefassten Kultur­be­griffs, in dem Kunst und künst­le­ri­sche Qualitäts­fragen im Zentrum standen, hin zu einem besten­falls ethno­lo­gi­schen und »erwei­terten« Kultur­be­griff, unter den Lifestyle-Themen ebenso fallen, wie Kochen, Reisen, Mode und Design.

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Bleibt nach immer neuen Programm­re­formen und ständiger Opti­mie­rung und Effi­zi­enz­stei­ge­rung im Sinne höherer Einschalt­quoten, die Frage: Was ist Arte? Und wozu gibt es den Sender jenseits des Quoten­drucks von einem Prozent? Der Vergleich mit 3sat, aber auch mit den außer­or­dent­lich erfolg­rei­chen hoch­an­spruchs­vollen Radio­pro­grammen von Deutsch­land­funk und Deutsch­land­ra­di­oKultur, die alles das machen, was im Fernsehen jenseits des »Philo­so­phi­schen Quartetts« und Alexander Kluges verpönt ist – lange Wort­bei­träge – zeigt, dass man bei Kultur­in­ter­es­sierten Erfolg haben kann – wenn man sich auf deren Niveau einlässt, wenn man sich klar macht, dass Kultur immer etwas für – mal größere, mal kleinere – Minder­heiten ist. Wer alle kriegen will, hat am Ende keinen. So wurde in Leipzig auch immer wieder die Abwan­de­rung ganzer Zuschau­er­schichten ange­spro­chen, gearg­wöhnt, das Stamm­pu­blikum gehe Arte verloren.

»Man liebt Arte nicht dafür, dass es so tut, als ließe sich sein struk­tu­reller Aberwitz verste­cken. Man liebt es als Impuls­geber, als regel­mäßiger Schöpfer von Ausnah­me­sen­dungen und Model­l­erfolgen, die dann verändert ins öffent­lich-recht­liche Voll­pro­gramm einsi­ckern können.« fasst es Heike-Melba Fendel zusammen. Solche Impulse hat Arte – zum Beispiel mit einem Projekt wie »24 Stunden Berlin« auch in jüngster Zeit immer wieder gesetzt. Aber zu wenig.

Die Frage nach dem Selbst­ver­s­tändnis von Arte kann am Ende nur damit beant­wortet werden, dass sich Arte gerade in Zeiten sich ausdif­fe­ren­zie­render Programme und der »Verspar­tung« auf seine Kern­kom­pe­tenzen besinnt. Die Kern­kom­pe­tenz von Arte heißt Kultur im Sinne kompo­miss­loser Hoch­kultur und deren Vermitt­lung. Nichts anderes. Das Problem ist im Fall von Arte aber nicht so sehr das, was der Sender macht, sondern das, was er nicht (mehr) macht. Kultur heißt auch immer Infra­ge­stel­lung und Irri­ta­tion, weder nur Wissens­ver­mitt­lung und Infor­ma­tion, noch Lifestyle. Es kann nicht immer nur darum gehen, die Menschen »da abzuholen, wo sie stehen« – ein Prinzip, das auf protes­tan­ti­schen Kirchen­tagen und bei der SPD zur Genüge und mit bekanntem Miss­er­folg prak­ti­ziert wird.

Affir­ma­tive Strategie hieße, in Zeiten, in den denen die gesell­schaft­liche Debatte von einem Konsens der Intel­lek­tua­litäts­feind­lich­keit geprägt wird, und das vom tele­vi­si­onären Main­stream kondi­tio­nierte Mehr­heits­pu­blikum noch ein gutes Gewissen dabei hat, wenn es jede Sendung auf ihr Unter­hal­tungs­po­ten­tial reduziert, direkt gegen­zu­steuern, und zu expe­ri­men­tieren, was Fernsehen der Zukunft bedeuten könnte. Viel­leicht ist kreatives Fernsehen überhaupt das Schlüs­sel­wort.

In der Nische, die der Arte-Programm­di­rektor so sehr fürchtet, sammelt sich zwar manchmal auch Staub, wenn man sie nicht putzt; eine Nische könnte aber auch als Vorrats­kammer dienen. Als ein Ort, in dem man Vorräte für Not- und Krisen­zeiten ansammelt. Vorräte, über die man nicht überleben kann. Das Fernsehen wird man als Medium nur ernst­nehmen können, wenn es sich gerade in Zeiten schwin­dender Ressourcen solche produk­tiven Nischen schafft und ihren Bestand fördert. Was spricht dagegen, dass Arte eben diese Rolle spielt?