ARTE in der »Qualitätsoffensive« |
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»Discoverysierung« bei ARTE zur Primetime: »Grenzgänger« |
Die »Causa Heinze« war gerade etwas abgekühlt, und die »Causa Brender« hatte ihren Höhepunkt noch längst nicht erreicht, als vor fast einem Jahr, beim 52. Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm Ende Oktober 2009 bereits die ungewohnt offene Eröffnungsrede von Festivaldirektor Claas Danielsen für Gesprächsstoff sorgte, der sich auch an den folgenden Tagen durch viele Diskussionen und Gespräche zog. Jetzt, nach fast einem Jahr muss man an diese Diskussion erinnern, und fragen, wie sich die Angelegenheit entwickelt hat.
Um offene Korruption und Nepotismus ging es dabei so wenig, wie um offene parteipolitische Einflussnahme. Vielmehr waren schleichende Veränderungen in den öffentlich-rechtlichen Sendern das Thema, jene Negativ-Entwicklungen, die nicht im Fehlverhalten von Einzelnen begründet liegen, sondern eher im »Zeitgeist«, und bei denen man noch nicht einmal den allermeisten Beteiligten ihren subjektiv guten Willen absprechen kann.
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»Das Fernsehen verarmt inhaltlich und ästhetisch, verliert breite Zuschauerschichten und wird immer irrelevanter. Wann endlich werden von den Marktforschungsinstituten die Nicht-mehr-Fern-Seher gezählt?! Ich nenne das mal die 'Schattenquote'. … Seien wir ehrlich: Die vordringlichste Aufgabe des Fernsehens ist nicht mehr Bildung, Aufklärung und gesellschaftliche Teilhabe, sondern die Ruhigstellung der vielen sozial absteigenden Menschen.« Starke Worte! Fern von populistischem generellen Fernseh-Bashing betonte Danielsen in seiner Kritik an der Verdrängung von Filmen mit Autorenhandschrift trotzdem, es gehe nicht um wohlfeile Schelte: »Und doch kann ich als sehender und hörender Mensch nicht umhin festzustellen, dass sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen freiwillig zum reinen Massenmedium hat degradieren lassen. Wir nähern uns dem kleinsten gemeinsamen Nenner und bekommen das geboten, was am wenigsten weh tut. Wir mauern uns mental ein und erzeugen ein Wir-Gefühl der Verängstigten.« Ausschließlich fixiert auf berechenbare Einschaltquoten und einen sicheren »Audience Flow« sei auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen das Programm »durchformatisiert worden«. Festgefügte Sendungsrezepte – etwa die stilistische Unsitte eines das Bild verdoppelnden Dauerkommentars – hätten das Medium erstarren lassen. »Hinter diesen Formatfassaden verstecken sich die verantwortlichen Redakteure und machen sich unangreifbar. Eine redaktionelle Handschrift jedoch können sie nicht mehr hinterlassen. Sie zeigen sich nicht mehr.«
Der Kern von Danielsens Kritik richtete sich vor allem gegen eine von ihm konstatierte generelle »gefährliche Haltung Programmverantwortlicher gegenüber dem Zuschauer«. Dieser werde »oft für eingeschränkt aufnahmefähig und etwas zurückgeblieben gehalten und damit letztlich als unmündiger Bürger abgestempelt. Komplexe, ungewöhnliche und fordernde Themen und Erzählweisen sind ihm angeblich nicht mehr zuzumuten.«
In dieser Situation werde vor allem der Dokumentarfilm, und ein »so unkontrollierbares, fantastisch wildes und manchmal auch anarchisches« Medium wie der animierte Kurzfilm, in den Büros der Programmplaner kaum noch wertgeschätzt, und weder von den Produktionsleitern ausreichend finanziert, noch angemessen im Programm platziert. »Ich fordere die Kolleginnen und Kollegen in den von uns allen finanzierten Funkhäusern auf: Steuern Sie um und widerstehen Sie. Zeigen Sie sich! Zeigen Sie ihre Frustration und Wut, die ich in Gesprächen mit intelligenten Redakteuren immer wieder höre.«
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Diese Sätze waren mehr als deutlich, denn auch wenn es hierin nicht explizit und bestimmt nicht ausschließlich um Arte ging, zielten sie doch ins Herz einiger Probleme des 1991 gegründeten deutsch-französischen Kulturkanals. Zudem waren einige weitere Hinweise Danielsens unverkennbar direkt auf Arte gemünzt: Die Kritik daran, dass Filme mit Originalsprachen in allen deutschen Fernsehsendern synchronisiert werden, statt untertitelt, wie der indirekte Hinweis darauf, dass Themen kaum noch vorkämen, die jenseits des regionalen oder nationalen Sendegebiets angesiedelt seien. Der griff den in Leipzig später mehrfach zu hörenden Vorwurf auf, viele ARD-Sender verfolgten den Trend, Arte nur noch als einfaches Anhängsel der eigenen Dritten Programme zu begreifen. Themen würden zunehmend auf ihre regionale Verwertbarkeit zurechtgestutzt, vermeintlich »schwierige« Themen und Stoffe mit internationalen Bezügen würden dadurch zunehmend ausgeklammert.
In diesem Zusammenhang war es mehr als eine Randnotiz, als während des Leipziger Festivals Sabine Rollberg, Arte-Beauftragte des WDR und Arte-Redaktionsleiterin, von der AG DOK, dem Interessenverband der Autoren, Regisseure und Produzenten, für ihr »dickes Fell« ausgezeichnet wurde. Bei der Verleihung der alle zwei Jahre verliehenen Auszeichnung lobte die AG DOK Rollberg für ihr »hervorragendes Bemühen um den Erhalt und die Pflege des Dokumentarfilms als Bestandteil öffentlich-rechtlicher Fernsehprogramme«. Sie habe sich dem allgemeinen Trend zur Missachtung von Filmemachern nicht angeschlossen, hieß es in der Laudatio. Rollberg sei »nach wie vor von der Vision eines völlig anderen, nur dem öffentlich-rechtlichen Programmauftrag und insbesondere der Kultur verpflichteten Fernsehens erfüllt«. Mit der Wahl der Preisträgerin wolle die Arbeitsgemeinschaft den WDR und andere Sender »zu einer intensiveren Wertschätzung des Autorenfilms ermutigen«. Sie verbinde damit »die Hoffnung auf Erhalt der Eigenständigkeit der WDR/Arte-Redaktion. Herausragende Programmarbeit, wie sie in dieser Redaktion nachweislich über viele Jahre hinweg geleistet wurde, verlangt nach einem adäquaten redaktionellen Freiraum, der von äußeren Vorgaben frei gehalten werden muss.«
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Entsprechend angespannt angesichts der im Raum stehenden Vorwürfe war die Stimmung denn auch bereits vor Beginn, als am vierten Festivaltag einen ganzen Nachmittag lang im Rahmen des »Leipziger Forum für innovatives dokumentarisches Fernsehen«, einer gemeinsamen Veranstaltung von DOK Leipzig und dem Documentary Campus e.V., über »Die Zukunft von Arte« debattiert wurde – namentlich im Hinblick auf den Dokumentarfilm und vor dem Hintergrund der aktuell bevorstehenden neuen Arte-Programmstruktur. Auf dem Podium saßen Arte-Programmdirektor Dr. Christoph Hauser und seine für Dokumentarisches zuständigen Redaktionsleiter. Die Mehrzahl der rund 250 Fachbesucher im Publikum bestand aus Produzenten und Filmemachern, die in der Regel eigene Arte-Erfahrungen vorweisen konnten.
Der Beginn ließ sich versöhnlich an: Danielsen, der die Moderation übernahm, gestand seine Liebe zu Arte und lobte den Sender als das immer noch »spannendste Programm« im Hinblick auf Dokumentarfilme; Hauser stellte klar, die Dokumentation sei »neben Fiktion und Berichterstattung das wichtigste Genre« und »das prägende Element« für Arte, jede Woche zeige man 23 Stunden Erstaufführungen und über 40 Stunden Wiederholungen im Programm. Mit über 70 Millionen Euro ginge mehr als ein Drittel des gesamten Programmbudgets an Dokumentationen – und Arte sei hier in erster Linie Co- oder Auftragsproduzent, nicht Ankäufer. Auf die Kritik, etwa der AG DOK, am deutlich verstärkten Einkauf angloamerikanischer Filme, ging Hauser nicht ein.
Feine Unterschiede wurden hier vor allem in Details deutlich: Etwa in der jeweiligen Wortwahl: Ob man von Dokumentarfilm spricht, oder von Dokumentation, ist mehr als eine Nuance. Sie markiert den Unterschied zwischen explizitem Kinoanspruch und einem beliebig offenen Raum zwischen bestem Fernsehen und austauschbarem Format-TV. Noch immer werden bei Arte auch herausragende Dokumentarfilme produziert, wie die hierfür zuständige Annie Bataillard eindrücklich darstellte: Eisenfresser und Darwin’s Nightmare, Filme von Errol Morris und Frederick Wiseman, Material von Thomas Heise oder Anne Cavalies Stille Orte. Vieles findet seinen Weg ins Kino – hier zeigt sich Arte als ein einzigartiger Ort in der Fernsehlandschaft. Aber die Tendenz zur Popularisierung ist klar.
Vieles läuft davon auch bei Arte nur noch zu später Stunde. Zur Primetime sendete man zuletzt Doku-Serien wie »Auf der legendären Teeroute«, »Grenzgänger« oder »Die schönsten Küsten Frankreichs«. Standardisierung in der Form und ein »positives Weltbild«, »in erster Linie familientauglich … kurzweilig und leicht zugänglich« (so die für Dokumentationen und Magazine zuständige Kornelia Theune) kennzeichnen diese Serien, die von Senderseite mit dem Satz verkauft werden, man versuche mit Neugier das Fremde zu erforschen. Im Ergebnis allerdings finden diese Mainstreamproduktionen zumeist nur das Immergleiche, immer schon bekannte. Andere Beobachter sprechen von zunehmender »Discoverysierung«. Freilich steht nicht allein die Machart infrage, sondern auch, ob Derartiges eigentlich die Aufgabe von Arte ist.
Theune rechtfertigte das Ergebnis – »Es ist für uns keine ›art mineur‹. Es ist eine andere Form des Dokumentarischen, und dazu stehen wir« – mit dem Erfolg: Durchschnittlich 315.000 Zuschauer in Deutschland und 570.000 in Frankreich und das Überschreiten der »magischen Zielmarke« von 1 Prozent Marktanteil erlaube erst, »auf anderen Sendeplätzen genau das zu tun, was Sie alle immer wieder mit Recht von Arte erwarten, nämlich künstlerische und formelle Risiken einzugehen.«
Dieses Prinzip ist aus dem Literaturverlagswesen – Suhrkamp – lange bekannt und mitunter sehr erfolgreich. Im Ergebnis bedeutet es allerdings, dass – ein Beispiel aus jüngster Zeit – dann das über Jahre mit dem Billig-Privatsender Vox verbundene Gesicht von Dirk Steffens, dessen Moderationen meist allenfalls den Tiefgang eines Kinderplantschbeckens haben, plötzlich zur besten Sendezeit auf Arte zu sehen ist.
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Neben solchen bezeichnenden Fallbeispielen kreiste die rund dreistündige Debatte in Leipzig vor allem um Grundsatzfragen: Wo sei das Alleinstellungsmerkmal von Arte? fragte Danielsen. Oder sei dies zuviel verlangt, ein zu elitärer Anspruch in einer zunehmend anspruchslosen Fernsehlandschaft? Theune verwies auf Unterschiede in der Umsetzung: Weniger dramatisierend, weniger inszenierend, weniger an den Zuschauer heranschmeißen und bestand darauf: Man könne es sich nicht erlauben, auf allen Sendeplätzen »immer nur superoriginell und einzigartig zu sein«. Aber warum eigentlich nicht? War nicht dies einmal der Gründungsgedanke von Arte, etwas Besonderes, im besten Fall Einzigartiges zu liefern.
Christoph Hauser antwortete als Programmdirektor grundsätzlicher: »Ich bin kein Verfechter der Nischendefinition von Arte. Wer in die Nische sich begibt, wird darin austrocknen; am Schluss wird nichts übrig bleiben, kein Themenfeld und kein Genre, das nicht von anderen auch besetzt ist.« Er wolle in Erinnerung rufen, dass Arte nicht als Nischensender gegründet worden sei, »sondern als kulturelles Vollprogramm, ein Voll-Programm, das alles macht, außer Unterhaltung und Sport.« Entscheidend sei, qualitativ besser und innovativer zu sein. Die bessere Qualität sei für ihn das Unterscheidungsmerkmal von Arte. »Daher ist nicht der Rückzug angesagt, sondern die Qualitätsoffensive.«
Auf diese Ausführungen entspann sich eine lebhafte Debatte. Heftig widersprach unter anderem Gabriela Bussmann, vom Dokumentar-Filmfestival Visions du Réel in Nyon: Mit 0.8 – 1.0 Prozent Marktanteil sei man Nische, nicht Vollprogramm. Und Arte sei eine der letzten Nischen, in der kreative künstlerisch-ambitionierte Filmemacher einen Sendeplatz finden könnten. Aus dieser Nische gelte es ästhetisch-politisches Kapital zu schlagen, man müsse für sie das Publikum sensibilisieren, nicht diese umgekehrt einem Massenpublikum anzupassen. »Sonst sieht niemand mehr diese Filme!«
Auch andere Diskussionsteilnehmer äußerten sich in eine ähnliche Richtung, oder sie bemängelten die Streichung bestimmter besonderer, »schwieriger« Sendeplätze, wie an der Entscheidung, in Zukunft den Sendeplatz »Gesellschaftsdoku« weitgehend ersatzlos zu streichen. Oder am lieblosen Umgang mit den Themenabenden, die einst ein Markenzeichen für Arte waren, jedoch bereits bei der letzten Senderreform um mehr als ein Drittel reduziert wurden. Generell sei, so kritisierten Produzenten am Rande die neue Senderpolitik, »ein Schlag ins Genick der unabhängigen Produzenten und Filmemacher.«
Hauser argumentierte demgegenüber kaum inhaltlich, sondern strukturell, mit »Audience Flow« – »eine Bugwelle geht durch das ganze Programm« –, mit »Einschaltimpulsen« und mit dem Zuschauerzuspruch. Der ist unbestritten gestiegen. Erst recht wenn man wie der Programmdirektor noch die Zahlen derjenigen dazurechnet, die Arte-Beiträge im Internet als Streaming nachholen, oder »on demand« ansehen. Dort sei auch das Publikum deutlich jünger. Bis zu 200.000 Menschen rufen einzelne Filme ab – eine erfreuliche Zusatzverwertung, von der die Produzenten allerdings bislang nicht profitieren. Zudem wirft Hausers Aufstellung einer impliziten »Gesamtquote pro Film« und kumulierter Reichweiten, zu denen unter Umständen auch noch DVD-Verkäufe zu zählen sind, neue Fragen auf: Wo wäre der Vergleichswert? Wie stünde Arte da, wenn auch alle anderen Sender ihr Programm sieben Tage ins Netz stellten, wenn man auch alle übrigen DVD-Verkäufe der Quote der jeweiligen ausstrahlenden Sender hinzurechnen würde? Im Verweis auf Internet-Zuschauer und DVD-Verkäufe liegt zudem immer auch ein Hauch von Abschied vom Fernsehen.
Demgegenüber verwies Thomas Frickel (AG DOK) auf die mangelhafte Signifikanz der Quote im hier relevanten Bereich von einem Prozent. Zudem habe Arte ein Quotendenken gar nicht nötig: »In bestimmten Bereichen macht sich eine Popularisierung breit, Marketing-Begriffe wie ›Familienfreundlichkeit‹, ›Wiedererkennbarkeit‹ – die hat Arte eigentlich nicht nötig. Dieser Sender ist ja wiedererkennbar.«
Ein letzter wichtiger Punkt, der angesprochen wurde, ist die Frage nach den Programmzulieferungen von Arte an die dritten Programme der ARD. Sie müssen kompatibel sein, worunter viele Produzenten leiden, die Themen oft nur noch unterbringen können, wenn sich der gewünschte regionale Bezug nachweisen lässt. Für die ARD ist Arte somit vor allem als preiswerter Lieferant und Zusatzfinancier der Dritten Programme interessant. Immerhin 50 Prozent des deutschen Programms von Arte müssen mit den Dritten Programmen kompatibel sein, Formate und Formen doppeln sich. Auch hier antwortete Hauser in Leipzig ausweichend, mit Verweis auf den fiktionalen Bereich und den Profit, den Arte daraus ziehe, mit relativ kleiner Beteiligung herausragende Programme zu finanzieren.
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Mitte November hat Arte nun die umfangreichen Programmänderungen für das kommende Jahr präzisiert, die bereits ab Januar 2010 gelten. Vor zwei Jahren erst hatte es die letzte Reform der Programmstruktur gegeben: Seinerzeit hatte man den Beginn des Hauptprogramm erst nach hinten auf 21 Uhr verlegt, auch damals hatte es schon geheißen, man wolle jüngere Zuschauer gewinnen. Nun zieht man vor, auf die »deutsche TV-Primetime 20.15 Uhr«, so Hauser. Von dieser Umstellung erhofft sich der Sender »eine wesentliche Stärkung auch der zweiten Hälfte des Abendprogramms«. Damit verbunden sind verschobene sowie neue oder ausgebaute Schwerpunkte: Montag sei der »Tag der Kultur«, dienstags würden von Arte koproduzierte Serien wie »KDD« oder »Im Angesicht des Verbrechens« von Dominik Graf gezeigt, freitags Wissenschaft und Dokumentarfilm. Neu ist vor allem die Einführung des Themenbereichs »Popkultur« am Donnerstag. Mit der Veränderung antworte man, wie es aus dem Sender hieß, »auf veränderte Seh- und Nutzungsgewohnheiten.« Insgesamt erwarte man, »ein breiteres Publikum« zu erreichen, sagte Hauser. Der dafür zur Verfügung stehende Etat wird erst im Februar bekannt gegeben, im Jahr 2009 belief er sich auf knapp 402 Millionen.
Parallel zu diesen Veränderungen kommt zwei positive Nachrichten: Zum einen, die, dass Arte 2009 in Deutschland auf sein erfolgreichstes Jahr zurückblicken kann, und die Einschaltquote den höchsten Wert in der Unternehmensgeschichte erreichte. Danach liegt der Marktanteil in der Primetime bei gut 0,9 Prozent (2008: 0,8 Prozent), ganztägig bei 0,7 Prozent (0,6 Prozent). Der Anteil dürfte sich 2010 weiter verbessern, denn bereits Ende 2009 soll Arte in allen deutschen Fernsehhaushalten rund um die Uhr empfangbar sein. Nach einer Vereinbarung mit der Kabel Deutschland GmbH, wird Arte in weiteren 7,8 Millionen Haushalten zugeschaltet.
Was wird diesen Zuschauern geboten? Ein Sender, der sich in den letzten Jahren auf der einen Seite wieder seiner ureigenen Aufgaben besinnt, der die unsäglichen Docu-soaps abgeschafft, die oft recht schlichten, boulevardesken Koch- und Reisesendungen zumindest reduziert hat. Ein Sender, der andererseits alles, was nach Elfenbeinturm aussehen könnte, scheut, wie der Teufel das Weihwasser, und weiterhin an dem Anspruch festhält, ein Vollprogramm bieten zu wollen. Ein Anspruch, der angesichts der Verhältnisse doch eher fiktiv ist – aus Quotengründen, und weil man in seiner einzigartigen deutsch-französischen Struktur eben letztendlich eine kulturpolitische Kopfgeburt ist – aus der sich freilich Kapital schlagen ließe.
»Arte« muss aufhören, seine Besonderheiten zu verstecken, beziehungsweise sich für sie zu entschuldigen kommentiert hierzu die Kölner Medienwissenschaftlerin und Autorin Heike-Melba Fendel: »In Frankreich gibt es das Sprichwort: ›Qui s'excuse, s'accuse‹. Ich empfehle Arte umgekehrt eine affirmative Strategie: Aus der Schwäche eine Stärke zu machen.« In Straßburg argumentiert man, Arte wolle jüngere Zuschauerschichten erschließen – wobei der Sender mit einem Durchschnitts-Zuschaueralter von 55 Jahren keineswegs zu den »ältesten« im Land gehört. Hierzu soll neben der strukturellen Reform und einer stilistischen Verjüngung vor allem die inhaltliche Erschließung des Terrains »Popkultur« herhalten. Geboren worden dürfte dieser Gedanken nach den relativ erfolgreichen Sommerprogrammschwerpunkten »Summer of Love« und »Sommer der 70er«.
Aber eine 22-Uhr Dokumentation über die Beatles ist vielleicht nett, aber dann doch nur, was die älteren Herrschaften in den Gremien für Jugendkultur halten, und wenn dann von »Lifestyle, Mode und Design« zu lesen ist, davon, in den ersten Sendungen begleite man Karl Lagerfeld, Jean Paul Gaultier und weitere wichtige Modeschöpfer bei den aufreibenden Momenten vor ihren Modeshows, dann kann man nur müde lächeln. Mit Popkultur hat das wenig zu tun, und unter 20-jährige für Arte interessieren kann man eher mit einer gut gemachten Literatur- oder Kino-Sendung, als mit so etwas.
Das Hauptproblem ist die hier zugrunde liegende Definition von »Kultur«. Derzeit arbeitet Arte an vorderster Front mit an dem Prozess einer schleichenden Umdefinierung von Kultur, der Verwässerung und Ausweitung eines einst klar umrissenen, spezifisch gefassten Kulturbegriffs, in dem Kunst und künstlerische Qualitätsfragen im Zentrum standen, hin zu einem bestenfalls ethnologischen und »erweiterten« Kulturbegriff, unter den Lifestyle-Themen ebenso fallen, wie Kochen, Reisen, Mode und Design.
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Bleibt nach immer neuen Programmreformen und ständiger Optimierung und Effizienzsteigerung im Sinne höherer Einschaltquoten, die Frage: Was ist Arte? Und wozu gibt es den Sender jenseits des Quotendrucks von einem Prozent? Der Vergleich mit 3sat, aber auch mit den außerordentlich erfolgreichen hochanspruchsvollen Radioprogrammen von Deutschlandfunk und DeutschlandradioKultur, die alles das machen, was im Fernsehen jenseits des »Philosophischen Quartetts« und Alexander Kluges verpönt ist – lange Wortbeiträge – zeigt, dass man bei Kulturinteressierten Erfolg haben kann – wenn man sich auf deren Niveau einlässt, wenn man sich klar macht, dass Kultur immer etwas für – mal größere, mal kleinere – Minderheiten ist. Wer alle kriegen will, hat am Ende keinen. So wurde in Leipzig auch immer wieder die Abwanderung ganzer Zuschauerschichten angesprochen, geargwöhnt, das Stammpublikum gehe Arte verloren.
»Man liebt Arte nicht dafür, dass es so tut, als ließe sich sein struktureller Aberwitz verstecken. Man liebt es als Impulsgeber, als regelmäßiger Schöpfer von Ausnahmesendungen und Modellerfolgen, die dann verändert ins öffentlich-rechtliche Vollprogramm einsickern können.« fasst es Heike-Melba Fendel zusammen. Solche Impulse hat Arte – zum Beispiel mit einem Projekt wie »24 Stunden Berlin« auch in jüngster Zeit immer wieder gesetzt. Aber zu wenig.
Die Frage nach dem Selbstverständnis von Arte kann am Ende nur damit beantwortet werden, dass sich Arte gerade in Zeiten sich ausdifferenzierender Programme und der »Verspartung« auf seine Kernkompetenzen besinnt. Die Kernkompetenz von Arte heißt Kultur im Sinne kompomissloser Hochkultur und deren Vermittlung. Nichts anderes. Das Problem ist im Fall von Arte aber nicht so sehr das, was der Sender macht, sondern das, was er nicht (mehr) macht. Kultur heißt auch immer Infragestellung und Irritation, weder nur Wissensvermittlung und Information, noch Lifestyle. Es kann nicht immer nur darum gehen, die Menschen »da abzuholen, wo sie stehen« – ein Prinzip, das auf protestantischen Kirchentagen und bei der SPD zur Genüge und mit bekanntem Misserfolg praktiziert wird.
Affirmative Strategie hieße, in Zeiten, in den denen die gesellschaftliche Debatte von einem Konsens der Intellektualitätsfeindlichkeit geprägt wird, und das vom televisionären Mainstream konditionierte Mehrheitspublikum noch ein gutes Gewissen dabei hat, wenn es jede Sendung auf ihr Unterhaltungspotential reduziert, direkt gegenzusteuern, und zu experimentieren, was Fernsehen der Zukunft bedeuten könnte. Vielleicht ist kreatives Fernsehen überhaupt das Schlüsselwort.
In der Nische, die der Arte-Programmdirektor so sehr fürchtet, sammelt sich zwar manchmal auch Staub, wenn man sie nicht putzt; eine Nische könnte aber auch als Vorratskammer dienen. Als ein Ort, in dem man Vorräte für Not- und Krisenzeiten ansammelt. Vorräte, über die man nicht überleben kann. Das Fernsehen wird man als Medium nur ernstnehmen können, wenn es sich gerade in Zeiten schwindender Ressourcen solche produktiven Nischen schafft und ihren Bestand fördert. Was spricht dagegen, dass Arte eben diese Rolle spielt?