Biutiful in einer besseren Welt |
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Soziale Diskrepanz: Der große Sprung über den Mittelklasse-Wagen in Biutiful |
»Und die Moral von der Geschicht…« hieß es früher einmal, wenn es darum ging, die enthaltene Lehre aus einer Erzählung klar und deutlich zusammenzufassen (bei »South Park« übernahm in den frühen Folgen das legendäre »Ich habe heute etwas gelernt« dieselbe Aufgabe).
In der heutigen Medienwelt macht man das genau so wenig, wie man das Ende eines Films oder eines Buchs mit dem Wort »Ende« kennzeichnet (wenn so was heute vorkommt, dann nur mit ironischem Unterton). Jemandem offen und eindeutig zu erklären, was die moralische Erkenntnis aus der vorhergehenden Geschichte ist, ist ein Anachronismus, den der auf- bzw. abgeklärte Medienkonsument als unangenehme Bevormundung und Belehrung ablehnt. Verschwunden ist die Moral in den Geschichten, die etwa das Kino erzählt, deshalb noch lange nicht, nur die Form, wie sie vermittelt wird, ist heute eine etwas andere.
Geändert hat sich dabei wohlgemerkt nur die Form, jedoch nicht die verschiedenen Intensitäten, mit der die Moral vorgetragen wird. Damals wie heute gab es etwa Geschichten, die sehr zurückhaltend mit ihrer moralischen Aussage umgingen, die es vollkommen dem Konsumenten überließen, eine Lehre darin zu finden bzw. eine daraus zu ziehen. Auf der anderen Seite gab und gibt es aber auch die Geschichten, die ihre Moral offensiv vor sich her tragen, die einem ganz klar sagen, welche Erkenntnis man daraus zu ziehen hat. Früher hieß es in solchen Fällen dann eben »Und die Moral von der Geschicht…«, heute wird einem (nur scheinbar diskreter) am Ende eines Films sein moralischer Inhalt noch einmal mit voller Wucht entgegen geschleudert. Da landet der Bösewicht im Gefängnis oder wird gleich erschossen, der Redliche wird belohnt und lebt fortan im Glück, das heldenhafte Engagement führt zu einer besseren Gesellschaft, etc. pp.
Unverändert komplex ist die Wirkung einer moralischen Aussage in einem Kunstwerk. Weitgehend unabhängig davon, was der Künstler diesbezüglich intendiert, nimmt jeder Konsument für sich individuell wahr, ob hier eine Moral versteckt ist, wenn ja, wie er diese moralische Aussage bewertet und ob sie dem Kunstwerk dient oder schadet. Entsprechend undurchsichtig und uneinheitlich sind dann auch meine Erfahrungen mit der Moral im Kino. Mal kann ich gut ohne jede Moral leben nach dem Motto »l’art pour l’art«, mal erkenne ich die enthaltene Moral, ohne dass sie mich weiter berührt, mal ist die Moral ein wichtiger Aspekt des Films und erweitert das Kunstwerk um eine philosophische Ebene, mal nervt mich die Moral derart, dass ein an sich guter Film dadurch ruiniert wird. Unzählige weitere Zustände kennt die Konstellation das Kino, die Moral und ich.
Eine erstaunliche Koinzidenz ergab sich diesbezüglich in den letzten Tagen beim Betrachten der Filme Biutiful von Alejandro González Iñárritu und In einer besseren Welt von Susanne Bier. Beide Regisseure schätze ich wegen ihren ergreifenden, manchmal schmerzhaften, offenen, (auch moralisch) vielschichtigen Filmen, die mit großem technischem Können inszeniert werden. Die beiden aktuell vorliegenden Filme folgen diesen Traditionen, erzählen (trotz vollkommen unterschiedlichen Handlungen und Situationen) in ähnlicher Weise von persönlichen und globalen Katastrophen und Problemen und stellen sich gleichermaßen die Frage, wie man sich dabei moralisch verhalten kann bzw. soll.
Beide Filme sind erneut hervorragend inszeniert, getragen von guten Schauspielern und auch visuell sehr ansprechend, also kein grau in grauer Problemfilmrealismus. Wo so viel Übereinstimmung herrscht, verwundert es schon fast nicht, dass ich beide Filme letzten Endes enttäuschend fand, weil ich sie für moralisch unbefriedigend halte. Erklären lässt sich dieser negative Eindruck nur schwer, was an der bereits erwähnten Komplexität der beteiligten Faktoren liegt.
Natürlich erwarte ich weder von diesen noch von anderen Filmen, dass sie alle moralischen Fragen, die sie (absichtlich oder nicht) stellen, am Ende (für mich) befriedigend beantworten. Das ist schlicht unmöglich. Oft genug ist es sogar sehr anregend, wenn der Film eine klare moralische Antwort verweigert und nur die entsprechenden Fragen stellt, so dass man als Zuschauer zum Nachdenken angeregt wird. Der gleiche Effekt kann sich ergeben, wenn ein Film mehr als eine moralische Position präsentiert.
Bei Biutiful und In einer besseren Welt, die sich ja explizit in das Lager der moralisch relevanten Filme begeben (und eben keine reine Unterhaltung sind) funktioniert das für mich alles nicht. Viele, vielleicht zu viele Fragen und Probleme werden hier aufgeworfen, woraus der Film auch ein erhebliches Maß an Spannung zieht. Wie werden all diese Probleme gelöst, wie wird sich das „falsche“ bzw. „richtige“ Handeln der Protagonisten auswirken, wie wird man ihr Scheitern bzw. ihren Erfolg moralisch bewerten? Spannende Fragen, die mir hier zu schwach bzw. gar nicht beantwortet werden. Störend ist auch, dass beide Filme sehr versöhnlich enden, was nicht grundsätzlich ein Problem wäre (nicht jedes Drama muss am Ende todtraurig sein), was jedoch im Kontrast zu den vorher aufgetürmten Problembergen unrealistisch, wenn nicht gar verlogen wirkt.
Teil dieser Schwäche ist es, dass gewisse Handlungsstränge im Nichts verlaufen. Es ist, als ob die Regisseure zum Ende hin festgestellt hätten, dass sie die ganzen (zum Teil verknüpften) Problemstellungen, die sie anfangs aufgehäuft haben, nicht sinnvoll (weil zu zeitaufwendig oder zu komplex) werden auflösen können, weshalb sie sich für die Ausformulierung eines zentralen Konflikts entschieden und alle anderen Aspekte kommentarlos verschwinden lassen.
So ein Verhalten erinnert mich dann aber schmerzlich an die unschöne Praktik mancher Medien, die über Missstände und Elend irgendwo auf der Welt immer nur so lange und so weit berichten, wie dadurch Aufmerksamkeit, Betroffenheit und Entrüstung (die das Lebenselixier der Medien sind) erzeugt wird, die sich von diesem Thema aber schnell wieder abwenden, wenn es um die langwierige, komplexe und wenig schillernde (und deshalb nicht publikumswirksame) Aufgabe geht, echte Ursachen zu erkennen und Problemlösungen zu bieten.
Ich möchte Alejandro González Iñárritu und Susanne Bier nicht unterstellen, dass sie skrupellose Elendspornographen sind. Vielmehr glaube ich, dass es beide zu gut gemeint haben, dass sie in bester Absicht noch ein Problem und noch einen Missstand und noch eine Katastrophe draufgepackt haben, um noch kritischer, noch dramatischer, noch glaubhafter zu sein. Doch die Formel »Viel hilft viel« ist leider auch in moralisch-cineastischer Hinsicht ein fatales Missverständnis.
Der Text erschien zuerst auf Michael Haberlanders eigenem Blog traurigschönewelt – das Leben ist komplex.