Das Kino hat die Kunst geschluckt |
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Christian Marclay’s The Clock |
Von Axel Timo Purr
Venedig kann einem ganz schön zum Hals raushängen. In der Hochsaison, die inzwischen fast das ganze Jahr andauert, drängen sich die Massen durch ein disneyartiges Museumsdorf wie die Schweine auf dem Weg zur Schlachtbank. Filme sind vor der Glitzerkulisse inzwischen fast generell zum Scheitern verurteilt – die Stadt radiert wie ein schwarzes Loch einfach alles aus: Plot, Schauspieler, Regiekünste – das letzte Opfer sind André Téchiné und seine Impardonnables. Und wären nicht die maroden Seitengassen, die an die düsterste sozialistische Immobilienendzeit erinnern und genau den Bruch erzeugen, den eine lebende Stadt ausmacht, wäre Venedig keine Reise mehr wert.
Und wäre da nicht die alle zwei Jahre stattfindende Kunstbiennale, die wie eine Taucherglocke im Fäkaliensumpf etwas anderes bietet als die Reproduktion von Massentraumbildern und Erwartungshaltungen. Natürlich muss man auch hier verdrängen, vor allem zur Eröffnung, wenn sich die Reichen und Schönen ein Stelldichein geben und die vermeintliche Unabhängigkeit der Kunst in ihre Schranken weisen; wenn die Ansammlung an Yachten eine derartig groteske Angeberdichte aufweist, dass sogar der letzte Konservative terroristische Anwandlungen bekommt und nur noch schießen und bomben möchte, um die Welt endlich vom Unrat der ungerechten Verteilung des Kapitals zu befreien.
Aber die Yachten können nicht auf Land fahren und die Geräusche der Partys auf Peggy Guggenheims Sammlungsdach verebben auch schon eine Straßenecke weiter und dann ist eigentlich wieder fast alles gut. Denn auch die Massen wollen eigentlich nur das Museum Venedig sehen, nicht aber die Arsenale, die Giardini und die vielen von Künstlern und Nationen angemieteten venezianischen Paläste und Häuser, in denen es nicht nur Kunst vor schöner Kulisse gibt, sondern auch Kino vor nichts. Denn die Kulisse ist, muss auch hier schwarz sein, auch wenn es im Grunde nicht Kino heißt, sondern Videokunst. Aber die seit den frühen 1960ern erstmals hinter dem Wort Video auftauchende Kunst ist auf der 54. Biennale irgendwie verschluckt worden. Denn im Zentrum der gezeigten Videoarbeiten stehen weniger Experimente mit dem Medium, Synthesen von Film und Raum, selbstreferentielle Gedankenspiele oder Metareflektionen aus Technik- und Inhaltsvignetten. Stattdessen dominieren die narrativen Elemente, werden Geschichten erzählt, gibt es immer wieder großes Kino zu bestaunen, das gerade durch die Ingredienz Kunst – es einfach einmal anders zu versuchen – eine Gewürznote erhält, die erfrischend und aufregend ist, aber fast nie dominiert.
Das einzige Problem ist die Zeit. Denn Videokunst steht irgendwie fast immer im Weg. Zumindest steht sie in keinem Verhältnis zu dem Tempo, mit dem ein jeder durch Ausstellungen eilt. Vor einer Lichtinstallation zu flüchten, einem wirren Gemälde, einem nichtssagenden Potpourri aus Schränken steht in keinem Verhältnis zu einer halben Stunde Film – eine Tempoverlangsamung gelingt da nur in den seltensten Fällen. Immerhin ist diese schwierige Hürde am einfachsten in Venedig zu nehmen, denn wer will schon frühzeitig aus der Taucherglocke steigen, um auf der Schlachtbank zu enden oder in Fäkalien zu ertrinken?
Deshalb also möglichst tief und lang hinab. Und wer es mag und den selbstreferentiellen- und beweihräuchernden Beigeschmack der Haupträume des schlingensiefschen Altars im deutschen Pavillion scheut, sollte auf die hinteren Nebenräume und eine filmische Werkschau des vor einem Jahr verstorbenen Künstlers ausweichen. Nicht der schlechteste Anfang.
Aber nicht nur die Toten, auch die Lebenden, haben provozierende, aufregende Geschichten zu erzählen. Etwa nicht weit von Schlingensief entfernt, in einem finsteren Untergeschoss des internationalen Pavillions der in Berlin lebende, israelische Künstler Omer Fast. Sein Five Thousand Feet Is The Best (2010) ist ein virtuos gemischtes Video, dass Inteviewsequenzen mit dem Remote-Piloten einer Kampfdrohne als Rahmen für wunderbar erzählte Geschichten benutzt, die einen vollkommen unbekannten Sog entfalten, weil sie in einem Niemandsland von persönlichen Betroffenheit und politischer Entrüstung navigieren. Ein irrer Trip, der auch filmtechnisch- und ästhetisch absoluter Hochgenuss ist!
Ein wenig ruhiger geht es bei den Österreichern und Markus Schinwald zu. Stumme Geschichten in einem leerstehenden Fabrikgebäude, in denen die Protagonisten von Orient (2011) weniger eine Beziehung untereinander als mit der Architektur der verwaisten Räume eingehen. Was in deskriptiven Worten wenig aufregend klingt, ist filmisch – und erzählerisch – jedoch genauso aufregend wie eine andere wunderbar stille Arbeit, Elad Lassrys Untitled (Ghost) (2011). In die Proben einer Balletttruppe spielt sich eine semipermeable Ballerina ein, unzweifelhaft eine Geistin, die nur vom Betrachter, nicht aber von den anderen Tänzern wahrgenommen wird. Auch ohne Lassrys Referenz auf die Tradition der „Geisterfotografie“, die seit den Anfängen der Fotografie existiert, kann diese Arbeit gerade wegen ihrer geisterhaften Stille mühelos dem Impuls weitereilen zu müssen, widerstehen.
Überhaupt die Stille. Gebe es nicht die dokumentarischen Arbeiten des Algeriers Mohamed Bourouissa, der in Boloss eine Spielhölle erkundet oder Ahmed Bassiounys letzte Aufnahmen über den Aufstand in Ägypten (bevor er selbst erschossen wurde), bleibt es meist ruhig. Selbst die von Tomislav Gotovac auf DVD gezogenen Familienpornos aus den 1970ern sind stumme Filme und auch Berry Bickle gelingt es mit einer stillen Videoarbeit indigene Alltagsdynamiken zu fixieren und dabei noch wohltuend herauszustreichen, dass es auch ein Zimbabwe, ein Afrika jenseits des politischen Supergaus gibt
Eine weitere Facette der Stille ist die von Anton Ginzburg. In seinem Hyperborea wird die antike Legende eines Ortes, der frei von Krankheit, Altern und Krieg ist durch die Suche nach dieser Welt in unserer Gegenwart ersetzt: ein flirrendes Gleiten durch Orte und Landschaften jenseits des Polarkreises, At the Back of the Northwind. Ginzburg, der den ganzen Pallazo Bollani zur Verfügung hat, reichert seine Suche mit Skulpturen, Fotos und Zeichnungen zu einem multimedialen Six-Pack an, von dem man nicht genug kriegen kann und fast trunken vor Kälte in die schwüle Hitze Venedigs zurückgeworfen wird – oder den Tauchgang fortführt.
Nicht nur in seiner Ganzheitlichkeit, auch ästhetisch ähnlich frappierend ist The Cloud of Unknowing von Ho Tzu Nyen aus Singapur. Sind es bei Ginzburg jedoch Kälte und Wind, ist es bei Nyen eine Wolke, die seinen Film zu einem erzählerischen Ganzen transformiert und am Ende des Films eine ähnliche Wirkung erzeugt wie Ginzburgs in den Vorführraum geleiteten Kälteschwaden.
Und dann geht es tatsächlich auch ohne Dunkelheit und große Projektionsfläche: die russische Künstlerin Olga Chernysheva hat Monitore zu Bilderrahmen mit virtuellen Passepartouts mutiert. In der passepartourierten Fläche sind entweder Stills oder kurze dokumentarische Videoclippings eingebettet – Alltäglichkeiten des Moskauer Alltags, die unter den Bildern und Filmen auf dem weißen Passepartout mit Tagebuchnotizen von Chernysheva angereichert werden und eine seltene poetische Dichte ausstrahlen, nicht nur auf dem Einzelnscreen mit bewegten oder unbwegten Bild, sondern auch in ihrer gesamten Raumwirkung.
Dass Kino Kunst und Kunst Kino ist und das eine das andere fressen und dabei doch gewinnen kann – eine wunderbare Synthese all dieser platten Phrasen gelingt dem filmischen Beitrag in Venedig vielleicht am besten, der mit dem Preis des besten Künstlers ausgezeichnet wurde, Christian Marclays 24 Stunden Montage The Clock (hier ein Auschnitt zwischen 16.07-16.12 Uhr). Mit sechs Assistenten hat Marclays innerhalb von zwei Jahren tausende von Kinofilmen gesichtet und zu einer faszinierenden Echtzeitmontage destilliert, in der alle ausgewählten Filmszenen nur ein Thema verhandeln: das der verlaufenden Zeit. Und spätestens hier ist dann auch das ganze Hass-Venedig egal, weil man wegen der Öffnungszeiten der Arsenale allein schon drei Tage benötigt um Marclays Werk in voller Länge zu genießen und bis dahin die Stadt in ihren schmutzigen Fluten längst versunken ist.
Art Biennale, 4. Juni bis 27. November 2011, Venedig.