Ordnung und Moral |
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Goldene Tulpe für den besten türkischen Film: BEYOND THE HILL (Tepenin Ardi) von Ermin Alperl |
»Nicht lächeln bitte!« gebietet der Photograph. Wir sehen nur das Antlitz der jungen Frau im Objektiv, vor einer hellen, gesichtslosen Wand. Sie heißt Mina, es soll ihr Visumsphoto werden. Und vielleicht liegt es ja schon an diesem Bild, an dem zu gleichmäßig blassen, ausdrucksarmen Licht und der irgendwie spröden Atmosphäre, dass es den ganzen Film über nichts werden wird, mit der Ausreise nach Amerika. Sie hofft sehr darauf, denn sie ist jung und sehnt sich nach etwas anderem als ihrem bisherigen Leben. Einem Neuanfang nach der Scheidung vom ungeliebten Mann. Immerhin ein neuer Job ist dann drin in einem Café, wo sie anderen, nicht minder Bedürftigen das Glück aus dem Kaffeesatz liest. Wenn sie das tut, das ist für die Zuschauer schnell klar, redet sie eigentlich nur von sich selbst.
Present Tense, Belmin Sölyemez' gleichmäßig erzähltes, sehr geglücktes Spielfilmdebüt erhielt jetzt im Wettbewerb des Internationalen Filmfestivals von Istanbul, das am Sonntag nach 16 Tagen zuende ging, den Preis für die beste Hauptdarstellerin (Sanem Oge). Der elegische Film steht gleich für mehrere Tendenzen die in den allein 40 türkischen Filmen sichtbar wurden. Noch nie gab es so viele weibliche Filmemacherinnen im Programm. Damit einher geht auch ein erkennbar stärkeres Interesse für die Stellung der Frauen in der türkischen Gesellschaft. Im Fall von Present Tense ist es mit Mina eine junge, ganz der Moderne zugewandte Figur, durchaus repräsentativ für das urbane, bildungsbürgerlich-intellektuelle Publikum, dem man auf dem Festival begegnet. Zugleich lebt Mina in ökonomisch und sozial prekären Verhältnissen: arbeitslos, unglücklich und als frisch Geschiedene allein gelassen von einer Gesellschaft, die sich zur Zeit eher rückwärts orientiert, sich ein wenig hilflos an überholte Traditionen klammert. Die jüngeren türkischen Filmemacher blicken auf diese Gesellschaft, in ausdrucksstarken, sehr oft eindrucksvoll komponierten kräftigen Bildern, selbst wenn die Filme ansonsten missglückt sind, und schauen auch dann nicht weg, wenn es unbequem wird. So griff gleich eine Handvoll Filme die nach wie vor ungelöste Kurdenproblematik auf, in Dokumentar- wie Spielfilmen, Sogar zum Komödienstoff taugte dieses Sujet überraschenderweise: Murat Saracoglus In Flames erzählt von einem Feuerwehrmann aus dem Norden der Schwarzmeerküste. Obwohl er nicht will, soll er aus dem kurdischen Dyabakir einen Feuerwehrwagen holen, ein Geschenk des dortigen Bürgermeisters. Mit dem rotlackierten Fahrzeug auf dem dick noch der Name der Kurdenmetropole steht, fährt er dann durch die halbe Türkei, begegnet den Vorurteilen der anderen, und legt die eigenen ab. Saracoglu, der auch das Drehbuch schrieb, hat einen Weg gefunden, um das Plädoyer für Verständigung und Großherzigkeit in eine amüsante, kaum sentimentale Form zu gießen, eine clevere Balance zwischen schlichteren und hintergründigen Witzen, von den manche genau betrachtet dann gar nicht so sehr zum Lachen sind: Dauernd wird der Wagen von einer paranoiden Armee angehalten, irgendwann kommt gar ein Bombenentschärfungsteam und sperrt einen ganz Platz ab, um das kurz geparkte Fahrzeug zu untersuchen.
Um die Macht der Paranoia, die auch die der Väter und der Tradition ist, ging es auch in Emin Alpers Beyond the Hill (Tepenin Ardi), dem hintergründigsten, facettenreichsten und filmisch reifsten Film im türkischen Wettbewerb, der vollkommen zu recht neben dem Hauptpreis auch noch den Preis der internationalen Filmkritik (Fipresci), sowie den fürs beste Drehbuch erhielt. Man fragt sich von Anfang an: Ist dies ein Märchen, oder ein realistisches Dokument? Zwischen diesen beiden extremen, unvereinbaren Polen steht der Film.
Eine Männergesellschaft, irgendwo in der Türkei. Drei Generationen, ein Vater, zwei Söhne, drei Enkel, lauter »Inglourious Basterds« im Hier und Jetzt, in einem Niemandsland jenseits unseres Alltags. Sie leben eins mit der Natur, mit den Tieren, die sie hegen und jagen, zwischen Fluss und Wäldern, in einem Tal inmitten einer atemberaubend schönen, wilden Berglandschaft, und mit »den Anderen«, den unsichtbaren Feinden hinter den Bergen. Die Geschichte beginnt sehr ruhig und konzentriert, so wie viele Filme, die in den letzten Jahren aus der Türkei zu sehen waren, ganz in der Tradition jener »Neuen Welle« des türkischen Kinos, für die Namen wie Nuri Bilge Ceylan (zuletzt Once Upon a Time in Anatolia, Reha Erdem (My Only Sunshine und Bec vakit) und Semih Kaplanoglu (Yumurta, Süt, Bal, der Berlinale-Sieger von 2010), stehen. Im Laufe des Films nimmt sie dann aber zunehmend Fahrt und Spannung auf, wird immer schneller und dichter.)
Zugleich sorgt der Regisseur dafür, dass unsere Blickrichtung immer wieder den Standpunkt wechselt. In Großaufnahmen lernen wir die einzelnen Personen als Individuen, als Menschen in ihrer jeweiligen Würde kennen. Faik, der alte Bauer, dem das Land gehört, der sich um die Tiere kümmert, und überzeugt ist, dass er keinen würdigen Nachfolger findet. Sein Sohn Nusret, der ihn mit den beiden erwachsenen Enkeln Caner und Zafer besucht, lebt sowieso in der Stadt, und hat auch zehn Jahre nach dem Tod seiner Frau nicht wieder geheiratet. Und der ältere Sohn Mehmet lebt zwar mit dem Vater draußen, aber er ist, wie Faik sagt, »zu schwach«. Die Schuld der Väter, die Sünden der Söhne und die Dynamik der Familie – die Zuschauer werden zu Zeugen einer Familienaufstellung mit filmischen Mitteln, die die inneren Risse, die Dynamik und Spannung dieser drei Generationen aufzeigt. Dann wieder sieht man Soldaten, uniformierte Besucher, die – wie Aliens aus einem anderen Universum –, durch die Berge streifen. Sie sind mal real, mal aber auch offenkundige Halluzinationen, Projektionen des ältesten Enkels Zafer, der die Traumata seines Militärdienstes noch nicht verkraftet hat. Schließlich wirkt die Kamera selbst wie ein Besucher aus einer anderen Welt, wie ein Voyeur, der durch die Büsche, versteckt, von außen dem Treiben zusieht.
In seinem allerersten Film ist Emin Alper ein unerhört reifes Werk geglückt, das echtes Kino ist, und unbedingt die große Leinwand verdient. Alper entfaltet einen Strudel voller Bezüge und unter der Oberfläche lauernder Konflikte. Beyond the Hill (Tepenin Ard?) fragt danach, was den Mann zum Mann macht: Die Frau? Die Waffe in der Hand? Das Stück Land unter den Füßen? Die Feinde? Er zeigt den Zusammenprall von Tradition und Moderne, von Stadt und Land, guten Sitten und Amoral, Träumen und Wirklichkeit, osmanisch-imperialer Vergangenheit und republikanischer Zukunft, und in alldem eine Parabel auf die türkische Gegenwartsgesellschaft. Und er zeigt das »Andere«.
So ist dies ein Film über die Macht der Väter, die Macht des Schicksals, die Macht der Paranoia – inszeniert voller Schönheitssinn, Dramatik, großer surrealer phantastischer Momente, mit soziologischem Blick, Sinn für Irrsinn und ironischem Humor. Eine Art zeitgenössischer Western aus der Türkei.
Die bekannten Gegensatzpaare des türkischen Kinos – Väter vs. Söhne; Stadt vs. Land; Tradition vs. Moderne – wurden auch in anderen Filmen mit frischem Leben und Bildern erfüllt, und auf neue Weise verhandelt. Ein weiteres geglücktes Beispiel war Snake von Caner Erzincan, der vom zurückgebliebenen Grenzland des türkischen Ostens erzählt, wo die Menschen vom Schmuggel leben, oder vom Sammeln von Schnecken und Schlangen. Der Held ist ein etwas träger Schlangenfänger, der von Zahnschmerzen geplagt wird, und sich völlig unglücklich in die schöne Zahnärztin in der Provinzstadt verliebt. Um diesen Kern herum wird die Szenerie des Dorfes entfaltet, in dem sechs Zehnjährige um ein Mädchen werben, ein Kapitalist die Bauern ausbeutet, wilde Pferde in den Bergen leben, und sich regelmäßig eine Schlange durch die Gegend ringelt. Gegenüber diesem Film, der Ernstes mit gescheiter Leichtigkeit verhandelte blieb Tayfur Ardins The Trace in bedeutungsschwerer Tristesse stecken: Schöne Landschaftsbilder rahmten eine Story, die lebende Kurden, untote Armenier und eine tote Mutter verknüpfte und daher wie gemacht war für den masochistische Teil des typischen westlichen Festivalpublikums – linkes Blut-und-Boden-Kino.
Dass sich auch ältere Republiken schwer tun, mit vergangenen Sünden ins Reine zu kommen, belegten in diesem Jahr gleich mehrere Beiträge des gewohnt starken französischen Kinos. Neben Vincents Garenqs Todesstrafenmelo Présumé coupable muss man zwei ausgezeichnete Beiträge besonders herausheben: Da ist zum einen der neue Film von Matthieu Kassowitz: L’ordre et la morale (Rebellion) ist ein hitzig inszenierter Politthriller,
der auf einer historischen Episode beruht: 1988, kurz vor der Wahl zwischen Mitterand und Chirac nahmen Unabhängigkeitsaktivisten in Neu Caledonien ein paar Geiseln. Die Armee nahm der Polizei alles aus der Hand und beendete die Sache blutig. Wie brutal und verbrecherisch auch demokratisch gewählte Regierungen agieren, wenn man sie nur lässt zeigt auch Yasmina Adis Dokumentarfilm Ici on noie les Algériens (»Hier ertränkt man Algerier«): Adi erzählt die
erschütternde Geschichte eines der dunkelsten Ereignisse der französischen Nachkriegsgeschichte – der Ertränkung von bis zu 200 algerischen Demonstranten am 17. Oktober 1961 in der Pariser Seine – und das skandalöse Totschweigen dieses Massakers bis in die heutigen Tage.
Beide Filme zeigen passend zu den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen die Wirklichkeit hinter idyllischen Multikultimärchen a la Ziemlich beste Freunde: Es sind nicht die Einwanderer, es ist die Mehrheitsgesellschaft, die ihre Machtposition nicht preisgeben und in der Integrationsdebatte keine Kompromisse machen will. Was den Türken ihre Kurden, das sind den Deutschen ihre Türken und den Franzosen ihre Algerier.