26.04.2012

Ordnung und Moral

BEYOND THE HILL (Tepenin Ardi) von Ermin Alperl
Goldene Tulpe für den besten türkischen Film:
BEYOND THE HILL (Tepenin Ardi)
von Ermin Alperl

Beim Filmfestival von Istanbul zeigt sich das türkische Kino klüger als seine Gesellschaft

Von Rüdiger Suchsland

»Nicht lächeln bitte!« gebietet der Photo­graph. Wir sehen nur das Antlitz der jungen Frau im Objektiv, vor einer hellen, gesichts­losen Wand. Sie heißt Mina, es soll ihr Visum­s­photo werden. Und viel­leicht liegt es ja schon an diesem Bild, an dem zu gleich­mäßig blassen, ausdrucks­armen Licht und der irgendwie spröden Atmo­s­phäre, dass es den ganzen Film über nichts werden wird, mit der Ausreise nach Amerika. Sie hofft sehr darauf, denn sie ist jung und sehnt sich nach etwas anderem als ihrem bishe­rigen Leben. Einem Neuanfang nach der Scheidung vom unge­liebten Mann. Immerhin ein neuer Job ist dann drin in einem Café, wo sie anderen, nicht minder Bedürf­tigen das Glück aus dem Kaffee­satz liest. Wenn sie das tut, das ist für die Zuschauer schnell klar, redet sie eigent­lich nur von sich selbst.

Present Tense, Belmin Sölyemez' gleich­mäßig erzähltes, sehr geglücktes Spiel­film­debüt erhielt jetzt im Wett­be­werb des Inter­na­tio­nalen Film­fes­ti­vals von Istanbul, das am Sonntag nach 16 Tagen zuende ging, den Preis für die beste Haupt­dar­stel­lerin (Sanem Oge). Der elegische Film steht gleich für mehrere Tendenzen die in den allein 40 türki­schen Filmen sichtbar wurden. Noch nie gab es so viele weibliche Filme­ma­che­rinnen im Programm. Damit einher geht auch ein erkennbar stärkeres Interesse für die Stellung der Frauen in der türki­schen Gesell­schaft. Im Fall von Present Tense ist es mit Mina eine junge, ganz der Moderne zuge­wandte Figur, durchaus reprä­sen­tativ für das urbane, bildungs­bür­ger­lich-intel­lek­tu­elle Publikum, dem man auf dem Festival begegnet. Zugleich lebt Mina in ökono­misch und sozial prekären Verhält­nissen: arbeitslos, unglück­lich und als frisch Geschie­dene allein gelassen von einer Gesell­schaft, die sich zur Zeit eher rückwärts orien­tiert, sich ein wenig hilflos an überholte Tradi­tionen klammert. Die jüngeren türki­schen Filme­ma­cher blicken auf diese Gesell­schaft, in ausdrucks­starken, sehr oft eindrucks­voll kompo­nierten kräftigen Bildern, selbst wenn die Filme ansonsten miss­glückt sind, und schauen auch dann nicht weg, wenn es unbequem wird. So griff gleich eine Handvoll Filme die nach wie vor ungelöste Kurden­pro­ble­matik auf, in Doku­mentar- wie Spiel­filmen, Sogar zum Komö­dienstoff taugte dieses Sujet über­ra­schen­der­weise: Murat Sara­coglus In Flames erzählt von einem Feuer­wehr­mann aus dem Norden der Schwarz­meer­küste. Obwohl er nicht will, soll er aus dem kurdi­schen Dyabakir einen Feuer­wehr­wagen holen, ein Geschenk des dortigen Bürger­meis­ters. Mit dem rotla­ckierten Fahrzeug auf dem dick noch der Name der Kurden­me­tro­pole steht, fährt er dann durch die halbe Türkei, begegnet den Vorur­teilen der anderen, und legt die eigenen ab. Saracoglu, der auch das Drehbuch schrieb, hat einen Weg gefunden, um das Plädoyer für Vers­tän­di­gung und Großher­zig­keit in eine amüsante, kaum senti­men­tale Form zu gießen, eine clevere Balance zwischen schlich­teren und hinter­grün­digen Witzen, von den manche genau betrachtet dann gar nicht so sehr zum Lachen sind: Dauernd wird der Wagen von einer para­no­iden Armee ange­halten, irgend­wann kommt gar ein Bomben­ent­schär­fungs­team und sperrt einen ganz Platz ab, um das kurz geparkte Fahrzeug zu unter­su­chen.

Um die Macht der Paranoia, die auch die der Väter und der Tradition ist, ging es auch in Emin Alpers Beyond the Hill (Tepenin Ardi), dem hinter­grün­digsten, facet­ten­reichsten und filmisch reifsten Film im türki­schen Wett­be­werb, der voll­kommen zu recht neben dem Haupt­preis auch noch den Preis der inter­na­tio­nalen Film­kritik (Fipresci), sowie den fürs beste Drehbuch erhielt. Man fragt sich von Anfang an: Ist dies ein Märchen, oder ein realis­ti­sches Dokument? Zwischen diesen beiden extremen, unver­ein­baren Polen steht der Film.

Eine Männer­ge­sell­schaft, irgendwo in der Türkei. Drei Gene­ra­tionen, ein Vater, zwei Söhne, drei Enkel, lauter »Inglou­rious Basterds« im Hier und Jetzt, in einem Niemands­land jenseits unseres Alltags. Sie leben eins mit der Natur, mit den Tieren, die sie hegen und jagen, zwischen Fluss und Wäldern, in einem Tal inmitten einer atem­be­rau­bend schönen, wilden Berg­land­schaft, und mit »den Anderen«, den unsicht­baren Feinden hinter den Bergen. Die Geschichte beginnt sehr ruhig und konzen­triert, so wie viele Filme, die in den letzten Jahren aus der Türkei zu sehen waren, ganz in der Tradition jener »Neuen Welle« des türki­schen Kinos, für die Namen wie Nuri Bilge Ceylan (zuletzt Once Upon a Time in Anatolia, Reha Erdem (My Only Sunshine und Bec vakit) und Semih Kapla­noglu (Yumurta, Süt, Bal, der Berlinale-Sieger von 2010), stehen. Im Laufe des Films nimmt sie dann aber zunehmend Fahrt und Spannung auf, wird immer schneller und dichter.)

Zugleich sorgt der Regisseur dafür, dass unsere Blick­rich­tung immer wieder den Stand­punkt wechselt. In Groß­auf­nahmen lernen wir die einzelnen Personen als Indi­vi­duen, als Menschen in ihrer jewei­ligen Würde kennen. Faik, der alte Bauer, dem das Land gehört, der sich um die Tiere kümmert, und überzeugt ist, dass er keinen würdigen Nach­folger findet. Sein Sohn Nusret, der ihn mit den beiden erwach­senen Enkeln Caner und Zafer besucht, lebt sowieso in der Stadt, und hat auch zehn Jahre nach dem Tod seiner Frau nicht wieder gehei­ratet. Und der ältere Sohn Mehmet lebt zwar mit dem Vater draußen, aber er ist, wie Faik sagt, »zu schwach«. Die Schuld der Väter, die Sünden der Söhne und die Dynamik der Familie – die Zuschauer werden zu Zeugen einer Fami­li­en­auf­stel­lung mit filmi­schen Mitteln, die die inneren Risse, die Dynamik und Spannung dieser drei Gene­ra­tionen aufzeigt. Dann wieder sieht man Soldaten, unifor­mierte Besucher, die – wie Aliens aus einem anderen Universum –, durch die Berge streifen. Sie sind mal real, mal aber auch offen­kun­dige Hallu­zi­na­tionen, Projek­tionen des ältesten Enkels Zafer, der die Traumata seines Militär­dienstes noch nicht verkraftet hat. Schließ­lich wirkt die Kamera selbst wie ein Besucher aus einer anderen Welt, wie ein Voyeur, der durch die Büsche, versteckt, von außen dem Treiben zusieht.

In seinem aller­ersten Film ist Emin Alper ein unerhört reifes Werk geglückt, das echtes Kino ist, und unbedingt die große Leinwand verdient. Alper entfaltet einen Strudel voller Bezüge und unter der Ober­fläche lauernder Konflikte. Beyond the Hill (Tepenin Ard?) fragt danach, was den Mann zum Mann macht: Die Frau? Die Waffe in der Hand? Das Stück Land unter den Füßen? Die Feinde? Er zeigt den Zusam­men­prall von Tradition und Moderne, von Stadt und Land, guten Sitten und Amoral, Träumen und Wirk­lich­keit, osmanisch-impe­rialer Vergan­gen­heit und repu­bli­ka­ni­scher Zukunft, und in alldem eine Parabel auf die türkische Gegen­warts­ge­sell­schaft. Und er zeigt das »Andere«.

So ist dies ein Film über die Macht der Väter, die Macht des Schick­sals, die Macht der Paranoia – insze­niert voller Schön­heits­sinn, Dramatik, großer surrealer phan­tas­ti­scher Momente, mit sozio­lo­gi­schem Blick, Sinn für Irrsinn und ironi­schem Humor. Eine Art zeit­genös­si­scher Western aus der Türkei.

Die bekannten Gegen­satz­paare des türki­schen Kinos – Väter vs. Söhne; Stadt vs. Land; Tradition vs. Moderne – wurden auch in anderen Filmen mit frischem Leben und Bildern erfüllt, und auf neue Weise verhan­delt. Ein weiteres geglücktes Beispiel war Snake von Caner Erzincan, der vom zurück­ge­blie­benen Grenzland des türki­schen Ostens erzählt, wo die Menschen vom Schmuggel leben, oder vom Sammeln von Schnecken und Schlangen. Der Held ist ein etwas träger Schlan­gen­fänger, der von Zahn­schmerzen geplagt wird, und sich völlig unglück­lich in die schöne Zahnärztin in der Provinz­stadt verliebt. Um diesen Kern herum wird die Szenerie des Dorfes entfaltet, in dem sechs Zehn­jäh­rige um ein Mädchen werben, ein Kapi­ta­list die Bauern ausbeutet, wilde Pferde in den Bergen leben, und sich regel­mäßig eine Schlange durch die Gegend ringelt. Gegenüber diesem Film, der Ernstes mit gescheiter Leich­tig­keit verhan­delte blieb Tayfur Ardins The Trace in bedeu­tungs­schwerer Tristesse stecken: Schöne Land­schafts­bilder rahmten eine Story, die lebende Kurden, untote Armenier und eine tote Mutter verknüpfte und daher wie gemacht war für den maso­chis­ti­sche Teil des typischen west­li­chen Festi­val­pu­bli­kums – linkes Blut-und-Boden-Kino.

Dass sich auch ältere Repu­bliken schwer tun, mit vergan­genen Sünden ins Reine zu kommen, belegten in diesem Jahr gleich mehrere Beiträge des gewohnt starken fran­zö­si­schen Kinos. Neben Vincents Garenqs Todes­stra­fen­melo Présumé coupable muss man zwei ausge­zeich­nete Beiträge besonders heraus­heben: Da ist zum einen der neue Film von Matthieu Kassowitz: L’ordre et la morale (Rebellion) ist ein hitzig insze­nierter Polit­thriller, der auf einer histo­ri­schen Episode beruht: 1988, kurz vor der Wahl zwischen Mitterand und Chirac nahmen Unab­hän­gig­keits­ak­ti­visten in Neu Cale­do­nien ein paar Geiseln. Die Armee nahm der Polizei alles aus der Hand und beendete die Sache blutig. Wie brutal und verbre­che­risch auch demo­kra­tisch gewählte Regie­rungen agieren, wenn man sie nur lässt zeigt auch Yasmina Adis Doku­men­tar­film Ici on noie les Algériens (»Hier ertränkt man Algerier«): Adi erzählt die erschüt­ternde Geschichte eines der dunkelsten Ereig­nisse der fran­zö­si­schen Nach­kriegs­ge­schichte – der Erträn­kung von bis zu 200 alge­ri­schen Demons­tranten am 17. Oktober 1961 in der Pariser Seine – und das skan­dalöse Totschweigen dieses Massakers bis in die heutigen Tage.
Beide Filme zeigen passend zu den bevor­ste­henden Präsi­dent­schafts­wahlen die Wirk­lich­keit hinter idyl­li­schen Multi­kul­timär­chen a la Ziemlich beste Freunde: Es sind nicht die Einwan­derer, es ist die Mehr­heits­ge­sell­schaft, die ihre Macht­po­si­tion nicht preis­geben und in der Inte­gra­ti­ons­de­batte keine Kompro­misse machen will. Was den Türken ihre Kurden, das sind den Deutschen ihre Türken und den Franzosen ihre Algerier.