Ein starker Auftakt in Cannes 2012 |
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Berührend: Amour von Michael Haneke |
Von Dieter Wieczorek
Wenn europäische Frauen ihre sexuellen Wünsche an afrikanischen Stränden verwirklichen wollen ist dies für beide Seiten eine oft undelikate Angelegenheit. Für den österreichischen Filmemacher Ulrich Seidl ist das sexuelle Unbehagen in der westlichen Welt permanentes Thema. Bereist 2007 kulminiertes es in seinem Werk Import/Export. Doch zielte er dort auf eine mehr oder weniger professionelle Prostitutionsszene, stehen diesmal in Paradies: Liebe unauffällige Normalbürgerinnen im Zentrum, die mehr oder weniger stark unter der Unattraktivität ihres Körpers leiden, aufgrund des Normalitätsdruck im eigenen Land jedoch nie zu handelsüblichen Lösungen zu greifen wagen. Einmal jedoch in Kenia eingetroffen, wandeln sich die Einstellungen selbst bei Schüchternen erstaunlich schnell. Zu normal und allpräsent ist hier das sexuelle Angebot, um es nicht wahrzunehmen.
Seidl verfolgt vor allem eine Frau, die fast naiv und ohne Vorsätze in Kenia eintrifft, bald jedoch von enthusiastischen Landsgefährtinnen am Ort in das sexuelle Warenhaus eingeführt wird. Es ist Seidl hoch anzurechnen, dass er bei aller Genauigkeit der Beobachtungen seine Protagonisten nie der Lächerlichkeit preisgibt, selbst nicht in Szenen, wo die Frauen ins Vulgäre abdriften und Kenianer oft sehr erwünschte strategische Lügen von sich geben.
Die häusliche Mutter Theresa, oft überfordert von ihrer ebenfalls dickleibigen Tochter, säubert zunächst beim Eintreffen im Hotelzimmer die an sich schon klinisch sauberen Toiletten. Allein mit dieser einfachen Geste fängt Seidl sogleich im Bild die unüberbrückbare Distanz zwischen den Kulturen ein. Der erste Blick auf den Strand erinnert in seiner visuellen Stärke an Werk wie Giorgio De Chiricos, Réne Magrittes oder Edward Hoppers. Am Strand, wie im Wasser, warten bewegungslos ausharrende Silhouetten bis zum Horizont auf die Möglichkeit, die Hotelbesucher anzusprechen und wie immer von ihnen zu profitieren. Immer wieder schafft Seidl Bilder suggestiver Stärke und Klarheit, wie die militärischen Patrouillien, die Sonnenbadende von wartenden Kenianers abschirmen.
Seidl nimmt sich Zeit, den üblichen Stadien der misslingenden Annäherung glaubhaft nachzuzeichnen. Der erste Schritt, die sensuelle Neugierde auf die andere Haut wird von den Kumpaninnen erweckt und stimuliert. Der erste wirklich sexuelle Kontakt misslingt, da Teresa (noch) nicht bereit ist, Sex ohne Liebe zu leben. Ihre immer wieder eingeforderte Erwartung nach wirklicher Liebe wird dann scheinbar erfüllt, zumindest rhetorisch und auf den ersten Blick. Geleitet von Verlangen nach Zärtlichkeit gibt Teresa gar hilflose Verhaltensanweisungen an ihren Geliebten, um an seine Gefühle glauben zu können und sich – in bewusster Selbsttäuschung – als wirkliche Geliebte zu empfinden. Dann jedoch wird sie als solche auch in Beschlag genommen, ihre »Liebe« wird eingefordert, konfrontiert mit den allesamt tatsächlich bedürftigen Familienangehörigen ihres neuen Partners. Seidl zeigt, auch dies ist hervorzuheben, die faktisch fatalen Misstände der lokalen schulischen und medizinischen Institutionen, um hier nicht Missverständnisse aufkommen zu lassen. Schliesslich konfrontiert mit dem strategischen Lügengeflecht ihres bereits verheirateten Partners akzeptiert Teresa den nächsten Schritt illusionsloser sexueller Anfrage, der erst dann an seine Grenzen stösst, als ihre Anforderungen selbst von den bedürftigen Kenianern nicht mehr erfüllbar erscheinen. Es folgt die schmerzhafte Konfrontation mit der eigenen Selbstdegradation.
Seidl schafft schmerzhafter Bilder der scheinbaren Dominanz dieser Frauen, die im eigenen Land immer nur in der Verliererrolle agieren und sich Afrikaner zu erotischen Spielzwecken leisten, die sie zuweilen vorführen wie Haustiere. Die Kenianer dagegen wagen sich selbst dann nicht zu wehren, wenn sie geschlagen werden, wie es die enttäuschte Teresa tut, als sie ihren Geliebten mit seiner Ehefrau und Kind begegnet. Materielle und sensuelle Bedürftigkeit treffen in denkbar schärfster Form aufeinander. Seidl gelingt, dokumentarische Schärfe mit Groteske und zuweilen auch humorvollen Szenen zu verbinden, um die oftmalig zum Unerträglichen tendierende Missachtung nicht als Eskalation der Gewalt ausklingen zu lassen.
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Eine andere Konfrontation, hier mit einem der letzten Tabus unserer Tage, der Kinderschändung, unternimmt der ehemalige Dogma 95-Anhänger Thomas Vinterberg in Jagd. Der dänische Filmemacher zeigt die blitzartige einsetzende Degradierung eines wohl geachteten, anerkannten, befreundeten, verehrten und geliebten Pädagogen, der angeklagt von einem Kind in das schräge Licht des Vergewaltigers gerät. Vinterberg zeigt, wie das »Geständnis« dem Mädchen fast in den Mund suggeriert wird, er zeigt, wie durch Legitimationsdruck der Administration auch andere Kinder zu Geständnissen gepuscht werden. Dies mag seinen Film als etwas vereinfachend erscheinen lassen. Doch der nunmehr einsetzende, fast aussichtslose Kampf des Angeklagten um seinen Arbeitsplatz, seine Freunde, selbst um sein Recht im Supermarkt einzukaufen, zeigt überzeugend die jederzeit wieder zum Aufbrechen bereiten Aggressionspotenziale idyllischer Kleinstädte und örtlicher Gemeinschaften. Mit beeindruckenden psychodramaturgischer Einstellungen exemplifiziert Vinterberg die unmögliche Rückkehr zur Kommunikation. Mit Delikatesse gestaltet er die Szenen der Wiederbegegnung zwischen dem anklagenden Kind und dem Angeklagten. Hinreichend Raum, um zu überzeugenden Figuren zu werden, gesteht Vinterberg auch dem Sohn des Angeklagten und seinem einzigen noch zu ihm stehenden Freund zu. Vinterberg zeigt die fatale Seite jeder Tabuisierung, die keine rationelle Kontrolle und Einsicht mehr zulässt, dagegen archaische Energien freisetzt. Man kann Jagd als Gegenpol zu seinem herausregenden Film Festen aus dem Jahr 1998 lesen. War es hier ein lange verdrängtes Familiengeheimnis, das plötzlich an den Tag kommt, ist es hier die in der medialisierten Welt die ohne jede Schon- und Korrektionszeit hervorbrechende Falschmeldung, die das Debakel initiiert.
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Das Sterben ist Thema in Michael Hanekes ebenfalls im Hauptwettbewerb laufenden Film Amour. Für jeden einzelnen Zuschauer ist dieser Film eine Konfrontation mit dem eigenen Tod, gerade da Haneke alle Spektakularität oder Partikularität vermeidet. Ein älteres Paar lebt in eher komfortablen Umständen in einer großzügig ausgelegten Wohnung. Beide haben ihre Profession, ihre Souveränität und Unabhängigkeit, sind umgeben von Kindern, verfügen über hinreichend Mittel für medizinische Betreuung und empfangen Besuche dankbarer Schüler... doch die körperliche Degradation der ehemaligen erfolgreichen Klavierlehrerin schreitet langsam und unabwendbar voran, lässt sie nicht nur körperliche, sondern geistige Kapazitäten verlieren bis hin zur eigenen Identität. Ihr Ehemann umsorgt sie, singt ihr Kinderlieder vor, um sie noch erreichen sie können, in der Endphase. Er folgt ihrem einstmals gegebenen Liebesversprechen, sie niemals in eine Klinik zu exportieren.
Haneke orchestriert die existenzielle Schlüsselsituation mit den üblichen Ingredienzien: besser-wissen-wollende, jedoch meist abwesende Kinder, mehr oder weniger hilfreiche häusliche Assistenz und hilflose Freunde. Er zeigt auch das Eindringen des Todes in die Traumwelt des sich aufopfernden Mannes, der langsam an seine eigenen Grenzen stößt. Der Film kommt ohne jede Überraschung oder Modifikation aus und verstärkt so nur den Eindruck der Unabwendbarkeit des Todes. Es kommt der Moment, wo die leidende Frau selbst keine kurzen Momente der Wiedererinnerung und der minimalen Erleichterungen erleben kann, der Moment, wo der Körper nur noch anhaltender Schmerz ist. In diesem Zustand tötet der liebende Mann schließlich den Körper seiner ehemaligen Frau, und gibt sich – wie Indizien in Hanekes Film andeuten – auch selbst den Tod. Ohne dass dies hinreichend akzentuiert worden wäre ist Hanekes Werk einer der stärksten filmischen Beiträge zur Euthanasie, denn niemand wird die notwendige Konsequenz dieser Tat angesichts der Filmes und seiner Protagonisten missverstehen können.
Nur eine Szene erlaubt sich Haneke, die einen kleinen Ausflug aus der Permanenz des insistierenden Todes. Eine Taube kommt in die Wohnung geflogen. Der alte Mann fängt sie mit großen Schwierigkeiten ein und drückt sie an sich. Doch diese Szene bleibt letztlich allegorisch oder metaphorisch undeutbar. Sie erscheint ein neutrales additives Ereignis, bestenfalls als ein »Einbruch der Natur« zu lesen, als Instanz des schlicht weiterlaufenden Lebens selbst, ohne Versprechen oder metaphysische Überhöhung, Einbruch des fragilen Vogelkörpers, der wieder freigelassen wird.