24.05.2012

Ein starker Auftakt in Cannes 2012

»Amour« von Michael Haneke
Berührend: Amour von Michael Haneke

Die Zeit der Konfrontationen: Seidl – Vinterberg – Haneke

Von Dieter Wieczorek

Wenn europäi­sche Frauen ihre sexuellen Wünsche an afri­ka­ni­schen Stränden verwirk­li­chen wollen ist dies für beide Seiten eine oft unde­li­kate Ange­le­gen­heit. Für den öster­rei­chi­schen Filme­ma­cher Ulrich Seidl ist das sexuelle Unbehagen in der west­li­chen Welt perma­nentes Thema. Bereist 2007 kulmi­niertes es in seinem Werk Import/Export. Doch zielte er dort auf eine mehr oder weniger profes­sio­nelle Prosti­tu­ti­ons­szene, stehen diesmal in Paradies: Liebe unauf­fäl­lige Normal­bür­ge­rinnen im Zentrum, die mehr oder weniger stark unter der Unat­trak­ti­vität ihres Körpers leiden, aufgrund des Norma­litäts­druck im eigenen Land jedoch nie zu handel­süb­li­chen Lösungen zu greifen wagen. Einmal jedoch in Kenia einge­troffen, wandeln sich die Einstel­lungen selbst bei Schüch­ternen erstaun­lich schnell. Zu normal und allprä­sent ist hier das sexuelle Angebot, um es nicht wahr­zu­nehmen.

Seidl verfolgt vor allem eine Frau, die fast naiv und ohne Vorsätze in Kenia eintrifft, bald jedoch von enthu­si­as­ti­schen Lands­ge­fähr­tinnen am Ort in das sexuelle Warenhaus einge­führt wird. Es ist Seidl hoch anzu­rechnen, dass er bei aller Genau­ig­keit der Beob­ach­tungen seine Prot­ago­nisten nie der Lächer­lich­keit preisgibt, selbst nicht in Szenen, wo die Frauen ins Vulgäre abdriften und Kenianer oft sehr erwünschte stra­te­gi­sche Lügen von sich geben.

Die häusliche Mutter Theresa, oft über­for­dert von ihrer ebenfalls dick­lei­bigen Tochter, säubert zunächst beim Eintreffen im Hotel­zimmer die an sich schon klinisch sauberen Toiletten. Allein mit dieser einfachen Geste fängt Seidl sogleich im Bild die unüber­brück­bare Distanz zwischen den Kulturen ein. Der erste Blick auf den Strand erinnert in seiner visuellen Stärke an Werk wie Giorgio De Chiricos, Réne Magrittes oder Edward Hoppers. Am Strand, wie im Wasser, warten bewe­gungslos aushar­rende Silhou­etten bis zum Horizont auf die Möglich­keit, die Hotel­be­su­cher anzu­spre­chen und wie immer von ihnen zu profi­tieren. Immer wieder schafft Seidl Bilder sugges­tiver Stärke und Klarheit, wie die militä­ri­schen Patrouil­lien, die Sonnen­ba­dende von wartenden Kenianers abschirmen.

Seidl nimmt sich Zeit, den üblichen Stadien der miss­lin­genden Annähe­rung glaubhaft nach­zu­zeichnen. Der erste Schritt, die sensuelle Neugierde auf die andere Haut wird von den Kumpa­ninnen erweckt und stimu­liert. Der erste wirklich sexuelle Kontakt misslingt, da Teresa (noch) nicht bereit ist, Sex ohne Liebe zu leben. Ihre immer wieder einge­for­derte Erwartung nach wirk­li­cher Liebe wird dann scheinbar erfüllt, zumindest rheto­risch und auf den ersten Blick. Geleitet von Verlangen nach Zärt­lich­keit gibt Teresa gar hilflose Verhal­tens­an­wei­sungen an ihren Geliebten, um an seine Gefühle glauben zu können und sich – in bewusster Selbst­täu­schung – als wirkliche Geliebte zu empfinden. Dann jedoch wird sie als solche auch in Beschlag genommen, ihre »Liebe« wird einge­for­dert, konfron­tiert mit den allesamt tatsäch­lich bedürf­tigen Fami­li­en­an­gehö­rigen ihres neuen Partners. Seidl zeigt, auch dies ist hervor­zu­heben, die faktisch fatalen Misstände der lokalen schu­li­schen und medi­zi­ni­schen Insti­tu­tionen, um hier nicht Miss­ver­s­tänd­nisse aufkommen zu lassen. Schliess­lich konfron­tiert mit dem stra­te­gi­schen Lügen­ge­flecht ihres bereits verhei­ra­teten Partners akzep­tiert Teresa den nächsten Schritt illu­si­ons­loser sexueller Anfrage, der erst dann an seine Grenzen stösst, als ihre Anfor­de­rungen selbst von den bedürf­tigen Kenianern nicht mehr erfüllbar erscheinen. Es folgt die schmerz­hafte Konfron­ta­tion mit der eigenen Selbst­de­gra­da­tion.

Seidl schafft schmerz­hafter Bilder der schein­baren Dominanz dieser Frauen, die im eigenen Land immer nur in der Verlie­rer­rolle agieren und sich Afrikaner zu eroti­schen Spiel­zwe­cken leisten, die sie zuweilen vorführen wie Haustiere. Die Kenianer dagegen wagen sich selbst dann nicht zu wehren, wenn sie geschlagen werden, wie es die enttäuschte Teresa tut, als sie ihren Geliebten mit seiner Ehefrau und Kind begegnet. Mate­ri­elle und sensuelle Bedürf­tig­keit treffen in denkbar schärfster Form aufein­ander. Seidl gelingt, doku­men­ta­ri­sche Schärfe mit Groteske und zuweilen auch humor­vollen Szenen zu verbinden, um die oftmalig zum Uner­träg­li­chen tendie­rende Miss­ach­tung nicht als Eska­la­tion der Gewalt ausklingen zu lassen.

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Eine andere Konfron­ta­tion, hier mit einem der letzten Tabus unserer Tage, der Kinder­schän­dung, unter­nimmt der ehemalige Dogma 95-Anhänger Thomas Vinter­berg in Jagd. Der dänische Filme­ma­cher zeigt die blitz­ar­tige einset­zende Degra­die­rung eines wohl geach­teten, aner­kannten, befreun­deten, verehrten und geliebten Pädagogen, der angeklagt von einem Kind in das schräge Licht des Verge­wal­ti­gers gerät. Vinter­berg zeigt, wie das »Geständnis« dem Mädchen fast in den Mund sugge­riert wird, er zeigt, wie durch Legi­ti­ma­ti­ons­druck der Admi­nis­tra­tion auch andere Kinder zu Geständ­nissen gepuscht werden. Dies mag seinen Film als etwas verein­fa­chend erscheinen lassen. Doch der nunmehr einset­zende, fast aussichts­lose Kampf des Ange­klagten um seinen Arbeits­platz, seine Freunde, selbst um sein Recht im Super­markt einzu­kaufen, zeigt über­zeu­gend die jederzeit wieder zum Aufbre­chen bereiten Aggres­si­ons­po­ten­ziale idyl­li­scher Klein­s­tädte und örtlicher Gemein­schaften. Mit beein­dru­ckenden psycho­dra­ma­tur­gi­scher Einstel­lungen exem­pli­fi­ziert Vinter­berg die unmög­liche Rückkehr zur Kommu­ni­ka­tion. Mit Deli­ka­tesse gestaltet er die Szenen der Wieder­be­geg­nung zwischen dem ankla­genden Kind und dem Ange­klagten. Hinrei­chend Raum, um zu über­zeu­genden Figuren zu werden, gesteht Vinter­berg auch dem Sohn des Ange­klagten und seinem einzigen noch zu ihm stehenden Freund zu. Vinter­berg zeigt die fatale Seite jeder Tabui­sie­rung, die keine ratio­nelle Kontrolle und Einsicht mehr zulässt, dagegen archai­sche Energien freisetzt. Man kann Jagd als Gegenpol zu seinem heraus­re­genden Film Festen aus dem Jahr 1998 lesen. War es hier ein lange verdrängtes Fami­li­en­ge­heimnis, das plötzlich an den Tag kommt, ist es hier die in der media­li­sierten Welt die ohne jede Schon- und Korrek­ti­ons­zeit hervor­bre­chende Falsch­mel­dung, die das Debakel initiiert.

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Das Sterben ist Thema in Michael Hanekes ebenfalls im Haupt­wett­be­werb laufenden Film Amour. Für jeden einzelnen Zuschauer ist dieser Film eine Konfron­ta­tion mit dem eigenen Tod, gerade da Haneke alle Spek­ta­ku­la­rität oder Parti­ku­la­rität vermeidet. Ein älteres Paar lebt in eher komfor­ta­blen Umständen in einer großzügig ausge­legten Wohnung. Beide haben ihre Profes­sion, ihre Souver­änität und Unab­hän­gig­keit, sind umgeben von Kindern, verfügen über hinrei­chend Mittel für medi­zi­ni­sche Betreuung und empfangen Besuche dankbarer Schüler... doch die körper­liche Degra­da­tion der ehema­ligen erfolg­rei­chen Klavier­leh­rerin schreitet langsam und unab­wendbar voran, lässt sie nicht nur körper­liche, sondern geistige Kapa­zitäten verlieren bis hin zur eigenen Identität. Ihr Ehemann umsorgt sie, singt ihr Kinder­lieder vor, um sie noch erreichen sie können, in der Endphase. Er folgt ihrem einstmals gegebenen Liebes­ver­spre­chen, sie niemals in eine Klinik zu expor­tieren.

Haneke orches­triert die exis­ten­zi­elle Schlüs­sel­si­tua­tion mit den üblichen Ingre­di­en­zien: besser-wissen-wollende, jedoch meist abwesende Kinder, mehr oder weniger hilf­reiche häusliche Assistenz und hilflose Freunde. Er zeigt auch das Eindringen des Todes in die Traumwelt des sich aufop­fernden Mannes, der langsam an seine eigenen Grenzen stößt. Der Film kommt ohne jede Über­ra­schung oder Modi­fi­ka­tion aus und verstärkt so nur den Eindruck der Unab­wend­bar­keit des Todes. Es kommt der Moment, wo die leidende Frau selbst keine kurzen Momente der Wiederer­in­ne­rung und der minimalen Erleich­te­rungen erleben kann, der Moment, wo der Körper nur noch anhal­tender Schmerz ist. In diesem Zustand tötet der liebende Mann schließ­lich den Körper seiner ehema­ligen Frau, und gibt sich – wie Indizien in Hanekes Film andeuten – auch selbst den Tod. Ohne dass dies hinrei­chend akzen­tu­iert worden wäre ist Hanekes Werk einer der stärksten filmi­schen Beiträge zur Eutha­nasie, denn niemand wird die notwen­dige Konse­quenz dieser Tat ange­sichts der Filmes und seiner Prot­ago­nisten miss­ver­stehen können.

Nur eine Szene erlaubt sich Haneke, die einen kleinen Ausflug aus der Permanenz des insis­tie­renden Todes. Eine Taube kommt in die Wohnung geflogen. Der alte Mann fängt sie mit großen Schwie­rig­keiten ein und drückt sie an sich. Doch diese Szene bleibt letztlich alle­go­risch oder meta­pho­risch undeutbar. Sie erscheint ein neutrales additives Ereignis, besten­falls als ein »Einbruch der Natur« zu lesen, als Instanz des schlicht weiter­lau­fenden Lebens selbst, ohne Verspre­chen oder meta­phy­si­sche Über­höhung, Einbruch des fragilen Vogel­kör­pers, der wieder frei­ge­lassen wird.