21.06.2012

Erst im Fußball gewinnen und dann auch noch gute Filme machen

Alpeis
Alpeis:
Jetzt ganz festhlaten

Die bleierne Generation: Je mehr das Land in die Pleite schlittert, um so besser werden die Filme und die Fußballer aus Griechenland

Von Rüdiger Suchsland

Lange war unser Bild des modernen Grie­chen­land nicht nur im Kino ziemlich gemütlich: Holly­wood­star Anthony Quinn tanzte als Alexis Sorbas zur Musik von Mikis Theo­do­rakis über die Leinwände, Irene Papas sah gut aus, Melina Mercouri (die auch später mal Kultur­mi­nis­terin einer sozia­lis­ti­schen Regierung war) sang ein »Ein Schiff wird kommen« und spielte in der Komödie Sonntags... nie! ein Straßen­mäd­chen aus Piräus, das für grie­chi­sche Tragödien schwärmt, und bei Sarikakis' an der Ecke – ersatz­weise jeder anderen grie­chi­schen Stamm­kneipe unseres Vertrauens – gab’s danach grie­chi­schen Wein. Die Deutschen machten billigen Urlaub auf einer grie­chi­schen Insel, tankten im Schatten der Akropolis ein wenig Bildung und schauten sich im Winter einen der bleiern symbo­lis­ti­schen Filme von Theos Ange­lo­poulos an, der in den letzten Jahr­zehnten quasi den Allein­ver­tre­tungs­an­spruch fürs grie­chi­sche Kino innehatte.

Dann kam die Staatschul­den­krise, und alles wurde anders: Plötzlich stand das Land für Miss­wirt­schaft und Korrup­tion, waren die Griechen nicht mehr gemütlich, sondern Schul­den­ma­cher und levan­ti­ni­sche Faulenzer, die »unser Geld« verprassten. Oder Millionäre, »grie­chi­sche Reeder«, die es auf Ausland­konten bunkern. Oder Arbeits­lose und Studenten, die sich auf den Straßen mit Poli­zisten prügelten. Oder, neuer­dings: Die schlimmsten Neonazis des Konti­nents. Und die Bleierne Gene­ra­tion der Euro-Kicker, die zunächst unter Rehakles die schön­spie­lenden Goldenen Gene­ra­tionen der Tschechen und dann der Portu­giesen mit ihrem Destruc­tivo-Fußball in den Wahnsinn trieben, und in diesem Jahr den post­so­wjet­schen Panzer­kreuzer versenkten, und sich nun anschi­cken, an Jogis Buben Rache für drei Jahre Merkel-Diktate zu nehmen.

Ausge­rechnet in diesen Zeiten entstand im südöst­lichsten Land Europas aber noch etwas ganz anderes: Ein neues Kino, sozusagen das Gegen­s­tück zur Krise bildet. Originell, klug, voller Stil­willen, flott und witzig – und immer wieder sehr sehr über­ra­schend. In Filmen wie Attenberg – der vor ein paar Wochen ins Kino kam – und Dogtooth – der bei uns nur auf DVD zu sehen ist – gab es Sex und Spaß, Philo­so­phie und Musik (nicht Sirtaki, sondern Sinatra oder Francoise Hardy), Horror und Politik.

Mit dem elegi­schen Symbo­lismus eines Theos Ange­lo­poulos, der Anfang des Jahres verstarb, hat diese neue Welle des grie­chi­schen Kinos dezidiert nichts am Hut. Statt­dessen will man von der Wirk­lich­keit erzählen. Etwa in Wasted Youth von Argyris Papa­di­mitro­poulos, der die heftigen Straßen­kämpfe zwischen studen­ti­scher Jugend und Polizei zu Beginn der grie­chi­schen Krise wieder­spie­gelt. Dieser Film geht zurück auf die Episode vom Tod eines Jugend­li­chen, der durch Poli­zei­ku­geln starb. Er erzählt von diesem Jugend­li­chen und seinem Mörder, der auch nicht besser dran ist, als das Opfer.

Die eigent­liche »Greek New Wave« muss man aber noch anders beschreiben. Ihre Filme sind das Gegenteil von sozi­al­rea­lis­tisch. Ihre Szenarien sind künstlich und gekün­s­telt, wie ein im Labor durch­ex­er­ziertes Expe­ri­ment: Etwa die Geschichte eine Familie, die die Außenwelt voll­kommen ausblendet, und sich ein eigenes Universum schafft, eine Gegenwelt. Auch diese Themen­wahl steht für einen bewussten Gegen­ent­wurf: In einem Interview kurz vor seinem Tod sagte Ange­lo­poulos, dass sich das aktuelle grie­chi­sche Kino zu stark auf die Familie konzen­triere.
Dem erwidern die jüngeren Filme­ma­cher, dass in Grie­chen­land auch der grie­chi­sche Staat nur wie eine große Familie agiere: Man hilft nur den Leuten, die dazu­gehören. Zugleich sind Familien gewalt­be­reit und dysfunk­tional. Unter der Ober­fläche geht es daher in vielen Filmen um Fami­li­en­auf­stel­lungen mit filmi­schen Mitteln, um Patch­work­fa­mi­lien.

Dies gilt jeden­falls für die beiden Schlüs­sel­fi­guren dieses neuen grie­chi­schen Film­wun­ders: Athina Rachel Tsangari (geboren 1966) und Yorgos Lanthimos (geboren 1973). Alles begann 2004 bei den Olym­pi­schen Spielen. Denn die Orga­ni­sa­toren zeigten – warum auch immer? Ob aus Not, Unwissen oder tarsäch­li­cher Kenntnis? – großen Mut zur Radi­ka­lität: Der Choreo­graph Dimitris Papaio­annou erhielt die Position eines »Künst­le­ri­schen Leiters« für die Eröff­nungs-und Abschluss­ze­re­monie. In seinem Team, das die Festakte der Olym­pi­schen Spiele in Athen gestal­tete, versam­melte er begabte junge Avant­gar­de­künstler, unter anderem auch Tsangari und Lanthimos.

»Die Olym­pi­schen Spiele 2004 bedeu­teten einen histo­ri­schen Wende­punkt in Grie­chen­land – nicht nur weil die poli­ti­sche Krise mit den Spielen ihren Ausgang nahm, sondern weil man den Mut besaß, eines der größten Medie­ner­eig­nisse der Welt, das Grie­chen­lands Identität als moderne westliche Gesell­schaft neu defi­nieren sollte, in die Hände von ein paar Avant­gar­de­künst­lern zu legen. Für viele Griechen war es damals immens wichtig, ihr Land auf diese Weise vor den Augen der Welt reprä­sen­tiert zu sehen.«
(Athina Rachel Tsangari)

Lanthimos insze­nierte nach dem Regie­stu­dium Videos und Werbe­filme, auf die Olympiade folgte sein erster Spielfilm Kinetta (2005) und 2009 Dogtooth, der in Cannes preis­ge­krönt wurde und später für den Oscar für den »besten fremd­spra­chigen Film« nominiert. Damit war Grie­chen­land auf der Kino­land­karte verankert. Wech­sel­seitig produ­zieren sie die Filme, bei denen der jeweils andere Regie führt – aus der Not heraus, dass in Grie­chen­land die ande­ren­orts übliche Infra­struktur des Filme­ma­chens nicht existiert.
Tsangaris Film Attenberg ist eine betörende weibliche Selbst­fin­dungs­ge­schichte mit den Mitteln des Tanz­thea­ters und erzählt von einer jungen Frau, die ihre Jung­fräu­lich­keit in dem Moment verliert, wo ihr Vater stirbt. Zwei Abschiede, zwei Formen von Aufbruch und Erwachsen-werden.
Klaus­tro­pho­bi­sche Szenarien stehen in Lanthimos' Filmen im Zentrum: Wie in Dogtooth (Kynodontas), in dem es um eine Familie geht, bei der die beiden Eltern ihre drei inzwi­schen fast erwach­senen Kinder mit Angst, Lügen und absurden Regeln von der Außenwelt isoliert hat. Das Leben jenseits der Grund­s­tücks­grenzen kennen sie nur vom Hören­sagen.

In Lanthimos neuem Film Alpen geht es an der Ober­fläche um eine Gruppe von Außen­sei­tern, die eine unge­wöhn­liche Dienst­leis­tung anbieten: Sie verspre­chen Trau­ernden, ihren Schmerz zu lindern, indem sie die Stelle der Verstor­benen einnehmen. Sie nennen sich mit Code-Namen »Mont Blanc«, »Matter­horn« und »Monte Rosa« und in fremden Häusern, tragen Kleidung toter Menschen und spielen sogar geliebte Erin­ne­rungen nach. Dabei folgen sie einer Reihe strikter Regeln, allen voran: keine emotio­nalen oder intime Bindungen eingehen. Doch Regeln sind dafür da, gebrochen zu werden. Alpen ist eine beein­dru­ckende Mischung aus Gesell­schafts­kritik, Tristesse und absurdem Humor – eine grie­chi­sche Tragödie des 21. Jahr­hun­derts.

Es ist nicht so schwer, in diesen surrealen Meis­ter­werken Paral­lelen zum Zustand eines Landes zu suchen, das allzu­lange in seinem eigenen Universum, nach eigenen Regeln gelebt hat und den Blick auf bittere Wahr­heiten immer noch vermeidet, das sich in bedrän­gende, lähmende, völlig will­kür­liche Rituale flüchtet – oder gleich in ihnen gefangen bleibt.

Das neue grie­chi­sche Kino ist trotzdem kein Kino der Krise, sondern ein Kino, das der Krise trotzt.