Das Istanbul Film Festival |
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Fipresci-Gewinner Wuthering Heights von Andrea Arnold |
Von Dieter Wieczorek
Das allein durch seine quantitative Größe mit Recht zur ersten Garde der Weltfilmfestivals aufrückende Istanbuler Festival zeichnet sich vor allem durch seine unbestreitbare Aufmerksamkeit auf die Problematiken minoritärer Randgruppen wie auf politisch und sozial virulente Themen aus.
Gleichzeitig legt es sich Herausforderungen auf. Dem internationalen Wettbewerbsprogramm wurde die Selektionsaufgabe erschwert, da nur Filme, die auf andere Kunst- und Literaturwerke sich beziehen, hier Eingang finden konnten. Der von der Fipresci-Jury gekürte Film Wuthering Heights Andrea Arnolds (Großbritannien), Verfilmung der Novelle Emily Brontés, bestach durch seine kongeniale visuelle Arbeit, die Enge und Ausweglosigkeit sozial Unterdrückter im ländlichen Milieu des 19. Jahrhunderts in jeder Einstellung fühlbar werden ließ. Animalisierung von Gesten und Verhalten, impulsive, unstabile Emotionalität und symbiotisch halluzinogene Naturerfahrung, einziger Fluchtort des sozial Verhetzten, werden denkbar intensiv und überzeugend ins Bild gebracht.
Der spezielle Jury Preis ging an Joachim Triers in Cannes uraufgeführten Film Oslo, August 31st, der minuziös genau in brillanten Dialogen und kristallinen Bildern den misslingenden Re-Integrationsversuch eines drogenabhängigen Jugendlichen unmittelbar nach seiner Therapie in die Wirklichkeit einer genormten Gesellschaft nachzeichnet, die durch Hypokrasie, Lebenszweifel und Existenzängste gekennzeichnet ist.
Authentizitätseinklage und
Unabhängigkeitbedürfnis sind bei dem »Rückkehrer« zu stark ausgeprägt, zu scharf beobachtet er die Lebenslügen selbst seiner engsten Freude, als das dieses Leben der Anderen eine akzeptable Alternative zum Tod wäre. Trier dechiffriert gleichzeitig die Isolations- und Abwehrmechanismen der »Normalen«, die nicht in ihren eigenen sinnentleerten Abgrund schauen wollen. Schritt für Schritt folgt die Kamera dem Ablauf eines Tages, der nur in die Katastrophe führen kann.
Im nationalen Wettbewerb widmeten sich gleich mehrere Filme der kurdischen Problematik wie dem Thema des Sprachenverlustes auf türkischem Terrain. In den letzten Dekaden gingen hier bereits 18 Sprachen verloren. In Where is my Mother Tongue? Veli Kahramans beklagt ein alternder Mann den Verlust seiner Muttersprache Zaza, deren Wörter und Ausdrucksformen er durch ein Tonband zu retten versucht, das seinen Englisch sprechenden Engel nicht mehr interessiert.
Per Tonband gelangen auch die Nachrichten eines in der Ferne arbeitenden Mannes an seine des Lesens nicht fähige Frau, schließlich auch an seinen mittlerweile in der Grosstadt gezogenen Sohn, der nun nach der Bedeutung der alten kurdischen Wörter zu fragen beginnt. Der zweite Sohn ist in Orhan Eskiköy und Zeynel Do?an Film Voice of my father einer Widerstandsbewegung gefolgt. Das oftmals anhaltende Schweigen bei Telefonanrufen, die eher der Kontrolle dienen, deutet seine Mutter als seine Anrufe. Die auseinander gerissene Familie, deren tragisches Schicksal sich in einer nur einminütigen Sequenz der erzählenden Mutter verdichtet, ist gleichzeitig mit der Ausgliederung ihrer eigenen Sprache konfrontiert. Schmerzende Schulszenen werden evoziert, wo die Absage an die eigene Sprache zur Bedingung des Überlebens wurde.
Exililierung und vergebliche Suche der Rückkehr zum Ursprungsort markieren auch M. Tayfur Aydins The Trace. Hier verlangt die sterbende Großmutter nach der Rückkehr zu dem Ort, von dem sie einst vertrieben wurde. Auf dem Weg verstirbt sie. Ihr Sohn und Enkel, letzterer zu Anfang befangen in eigene Liebes- und Identitätsprobleme nur unwillig dem Auftrag folgend, vermögen nur unter größten Schwierigkeiten in das mittlerweile wieder verschanzte Grenzlandterrain zu gelangen. In endloser Mühe ziehen sie den Sarg über eine verschneite Bergspitze, einzige Möglichkeit, dem Wunsch der Verstorbenen gerecht zu werden. Auch in Aydins Film wird das ein Leben lang verschwiegene tragische Urereignis, des genoziden Massakers in einer nur kurzen Einstellung evoziert, in wundersamen Kontrast mit dem Verstreichen der Zeit in diesem meditativen, von phantastischen Naturaufnahmen begleiteten Film. Aydin schafft in seinem Erstlingswerk, der Adaptation einer Kurzgeschichte Yavuz Ekincis, ein in Erinnerung bleibendes bildmächtiges Werk mit multiplen Bedeutungsschichten und Konflikten, zwischen Generationsmentalitäten, Stadt- und Landleben, Vergangenheit und Gegenwart, ethnischen Spannungen und territorialen Abgrenzungen.
Auch Muzaffer Özdemirs Home verzeichnet eine misslingende Rückkehr. Hier kehrt auf der Suche nach Rast und erinnernder Wiederfindung ein Intellektueller zu seiner ländlichen Kindheitsumgebung zurück, um dort nur mit misstrauischer, administrativer Überwachung und der Schaden genommen habenden Landschaft konfrontiert zu werden, die das unausweichliche Einbrechen des destruktiven »Fortschritts« ankündigt.
Der nationale Fiprescipreis wie auch der »Golden Tulip«-Preis für den besten Film, vergeben vom Istanbul Festival, gingen an Emin Alpers Beyond the Hill, eine metaphorisch realistische Beschreibung paranoisch halluzinogenen Wahrnehmungen einer ihr Territorium verteidigenden Familie, mit strenger Hand geleitet durch ein patriarchalisches Oberhaupt, der einen imaginierten benachbarten Feind mit Vergeltungsabsichten für nicht begangene Straftaten angreift. Die internen Kommunikationsbarrieren in dieser patriarchalischen Organisation werden von Alpers luzid herausgearbeitet. Auch dieses, in bergischen Territorien gedrehtes Werk besticht durch die Wucht seiner landschaftlichen Panoramen.
Das herausragende, da jenseits aller historisierenden Problematik ansetzende Werk lieferte Zeki in Inside. In diesem fremdartigen, an Beckett erinnernde Werk wird die pathetisch isolierte Selbstdemontage eines Intellektuellen beobachtet, der in seinen inneren Diskursen immer mehr sich in absurde Selbstdeutungen verliert, die ihm jede Kommunikation oder »Berührung« verunmöglichen. Lediglich sadistisch-masochistische Attitüden stehen dem Distanzierten noch als Aktionsform bereit, umgeben von ehemaligen »Weggefährten«, die ihre Selbstleere in Gehabe und scheinbar freudigen Ritualen im streng hierarchisierten Gruppenverband ausagieren. Demirkubuz schafft einen außergewöhnlichen Film, dessen zwischen Camus »Der Fremde«, Eugène Ionescos absurden Theater und Thomas Bernhards »Die Korrektur« siedelnde Tonalität sich tief einprägt.
Unbestreitbar ist das Istanbuler Festival für sozialpolitische und virulente Themenstellungen sensibilisiert und engagiert. Neben einem »Human Rights of Cinema«-Programm, das allein bereits aus zehn Werken bestand, beeindruckte in thematischen Programm »Whats happening in Greece« besonders Hristos Karakepelis »Row Material«, der ausgehend von den sich verschärfenden Lebensbedingungen der Abfallsucher und Verwerter nicht nur das Bild einer Gesellschaft in Krise, sondern einer gänzlich unkontrollierten skizziert. Er bringt hochgiftige Arbeitsvorgänge ins Bild, die den zumeist als »illegale« Gastarbeiter Ausgebeuteten in kürzester Zeit bleibende Schäden zufügt, und die gesamte Umgebung gleich mit verseuchenden. Mit zitternden Händen, sich dauern den schmerzenden Körper kratzend, wird hier die wirtschaftliche Krise zum Bild menschenverachtender Barbarei kondensiert. Karakepelis zeigt den vollständigen Verwertungsprozess des Abfalls und porträtiert eine Vielzahl von Betroffenen, beginnend mit den nächtlichen Einsammlern bis zum Abtransport der wieder verwertbaren Aluminiumblöcke.
Den »arabischen Frühling« nahm man in Istanbul zum Anlass einer Reflexion auf das »Filmen der Revolution«, in dem die unterschiedlichsten Formen der Repräsentation und (Re-) Konstruktion »revolutionärer« Ereignisse nachgegangen wurden. Begleitet wurde der Programmblock von einer Diskussion der engagierten Filmemacher, in der zumindest Einigkeit herrschte über die essenzielle Funktion der Komplexität in Dokumentarfilm, im Gegensatz zu simplifizierenden TV Reportagen.
No more Fear Mourad Ben Cheikhs (*Tunis, 1964), sogleich 2011 in Cannes aufgegriffen, konturiert neue Konfliktfelder angesichts der Machtergreifung islamischer Formationen, wie auch zwischen jugendlichen Revoltierenden und erfahrenen Repräsentanten des vorhergehenden Widerstandes. Als filmische Form wählt er die Erlebnisse und Sichtweisen einiger ausgewählter Protagonisten, wie die eines Politikers, einer Folterpraktiken anklagenden Rechtsanwältin und einer Facebook-Aktivistin und Photographin. Allein dies brachte den Film Kritik ein in einem Revolutionsland, das keine Heroen oder Führergestalten mehr anerkennen möchte, keine »Repräsentanten« einer Bewegung, die sich rein als eine des Volkes deklariert. Der Kampf darum, wer die aktuelle Geschichte Tunesien erzählen darf ist bereits breit entfacht. Die latente Willkürlichkeit jeder Geschichtserzählung verdichtet sich bei Cheik in der Figur des Patienten einer psychiatrischen Klinik, der fotographische Kollagen aus Zeitungsschnippseln fertigt.
Weit mehr taucht Elyes Bacar (*Tunis, 1971) in seinem unter Zeitdruck gefertigten Werk Parole Rouge ein in die tägliche Konfusion, die Stimmenvielfalt und den Enthusiasmus der ersten Stunden. Zugleich gibt er detaillierten Beobachtungen in Form von Langeinstellungen Raum, die Kamera verweilt auf gealterten Gesichtern und nachdenklichen Gesten verweilen lassend. Begleitumstände von Mordakten werden rekonstruiert, die Körper der Getöteten gezeigt. Die gegenwärtigen Kontroversen, etwa anlässlich der Rückkehr des Islamistenführers Rached Ghannouchi nach 22 Jahren im Exil, werden in ihrer Ambiguität aufgezeichnet. Baccar beschränkt sich auf das Einfangen des emotionalen Panoramas der Stimmen der Beteiligten, er folgt den Aktionen ohne Off-Kommentar, nicht ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Die additive Struktur seines Filmes entspricht der Unvorhersehbarkeit der Ereignisse. Gedreht zwischen dem 17. Dezember bis Ende Dezember 2011 hat das Werk bereits heute historische Funktion. Gegen die nunmehr regelmäßig einsetzenden Proteste der Salafisten bei jeder neuen Projektion des Films, die die Auslassung ihrer Rolle im Widerstand beklagen, dokumentiert der Film schlicht ihre faktische Abwesenheit zu Anfang der Krise, die mit ihrer aktuellen Positionsergreifung in der tunesischen Gesellschaft im denkbaren Missverhältnis steht.
Konzentriert auf die Erfahrungen, Zukunftskonzepte und Hoffnungen einiger Jugendlicher während des Revolten auf dem Tahrir Square Kairos liefert auch der im politischen Aktionismus erfahrene (siehe kürzlich Palazzo delle Aquile, 2011) Stefano Savona (*Palermo, 1969) ein Bild der Unübersichtlichkeit. Bereits am 25. Januar 2011 am Ort fängt Savona den Enthusiasmus der ersten Stunden ein, gekennzeichnet von spontaner Kommunikation zwischen bisher getrennten Gruppen und sozialen Schichten im Rahmen eines sich neu formierenden Gemeinschaftsgefühls.
Die völlig anders strukturierte Erfahrung einer aus der Distanz wahrgenommen Revolte wählt ein nicht genannt bleibender, irgendwo im französischen Exil lebender Iraner in Fragments of a Revolution. Zu einem Zeitpunkt; da internationale Journalisten bereits des Landes verwiesen wurden, verfolgt er täglich die offiziellen TV wie die fragmentarischen Nachrichten seiner im Iran aktiven Freunde während der »grünen Revolution«, zumeist über Facebook-Filmsegmente und Emails, deren Adressen oft gewechselt werden. Diese kontrastierenden Nachrichten erlauben keine Überschau oder Synthetisierung. Sie beschränken sich auf die Konstatierung von Hoffnungen und Enttäuschungen. Der Filmemacher filmt sich selbst in seiner isolierten Beobachtungszelle, in einer zur Aktionslosigkeit verurteilten Haltung, reduziert auf hilflose Informationssuche angesichts einer zur Virtualität tendierenden Realitätserfahrung.
In nur zehn Minuten resümiert Wael Omar (*Kairo) ein entscheidendes Vorereignis der ägyptischen Revolte: das brutale Niederschlagen von Protesten angesichts der ersten Scheinwahlen im September 2005. Die Straßenschlachten werden kommentiert von Journalisten, Intellektuellen und politischen Verantwortlichen, die sich zur Konstatierung der Unfähigkeit des Regimes zum politischen Wandel verdichten.
Der sich weitgehend auf Off-Kommentierung beschränkende us-amerikanisch-ukrainische Beitrag Andrei Zagdanskys (*Ukraine, 1956) Orange Winter leistet in mehrerem Sinne Transformationsarbeit. Der in langen Wintertagen unausgesetzte Widerstands der Anhänger des durch einen Attentatversuch entstellte Yushchenkos gegen die unter Fälschungsverdacht stehenden Wahlen werden angereichert mit Informationen über den Einfluss Putins sowie über eine Serie von den aktuellen Ereignissen folgenden »Selbstmorden« und Entlassungen zentraler Aktionsfiguren. Weiterhin wird die Konfrontationen auf der Strasse mit einem zeitgleich stattfindenden Fußballmatch sowie den um Intrigen und Machtspiele kreisenden Präsentationen der Opern »Godunov« und »La Traviata« in Kiews Theater parallelisiert. Völlig unkommentiert und angesichts der Dokumentation der erheblichen Widerstandskraft der Bevölkerung auch unverständlich bleibt die nur genannte Tatsache, dass bereits wenig später wieder der russlandtreue Yanukovich ins Amt zurückkehrt. Zagdanskys Konzept, die Revolution zu filmen, bietet den Vorteil, komplexere Hintergründe und chronologisch weiter ausgreifende Achsen ins Spiel zu bringen. Gleichzeitig basiert es auf der fragwürdigen, da niemals neutralen Kommentarmacht.
Die eher historischen Beiträge zum Revolutionspräsentation sind weit fiktionaler angelegt. In der libanesisch-großbritischen Produktion Leila and the WolveS Heiny Srours (*Beirut, 1945) wird die Rebellion einer Reihe von Frauen gegen die traditionelle Frauenrolle und gleichzeitig gegen die politische Unterdrückung in der palästinensisch-libanesischen Region seit der ersten Hälfte der 20. Jahrhunderts thematisiert und zu oft anekdotischen und suggestiven Szenen verdichtet.
Der gleichen Widerstandslinie, doch weit weniger fiktional, folgt Hanan Abdalla (*London, 1988), Tochter ägyptischer politischer Aktivisten in In the Shadow of a Man. Sie kehrt im Februar 2011 nach Ägypten zurück und porträtiert eine Reihe von Frauen in ihren verschiedensten Formen der Auflehnung gegen Unterwerfungsrituale der Ehe. Vor allem überzeugt die Heiterkeit und Kraft dieser ausführlich zu Wort kommenden Frauen, selbst angesichts lebensbedrohlicher Herausforderungen.
Der älteste Beitrag der variantenreichen Werkschau zur Repräsentationsproblemtik der Gegenwart stellt der 1966 von Gillo Pontecorno (*Pisa, 1919-2006) Battle of Algiers. Die italienisch-algerische Koproduktion verdichtet als Fiktion historische Faktizität dramaturgisch. Diese weitere Variante der Konstruktion des Realen, der bis dahin teuerste Film in der Geschichte Algeriens, 1966 mit dem Hauptpreis Venedigs gewürdigt, ist zum Symbol der Widerstands geworden. Von der ersten Szene, einer Folterung, bis zu den letzten, das überraschende, kompromisslose Wiederaufbrechen einer nationalen – hier auch nicht ansatzweise religiös motivierten – Befreiungsbewegung gegen die übermächtige Staatsmacht, liefert der Film eine luzide Analyse der Mechanismen des die Ermordung von Zivilisten in Kauf nehmenden Untergrundkampfes wie der zynisch-pragmatischen Unmoral der Staatsmacht, die sich leichthin über Menschenrechte hinwegsetzt, wenn es der eigenen Selbsterhaltung dient.
Das »Filmen der Revolution« ließe sich resümieren, pendelt zwischen zwei gleich problematischen Polen: die pure Ausgesetztheit in der Aktion und die intentionsgesteuerte narrative Konstruktion der »Geschichte«.
Das großzügige Istanbuler Festival lädt seine akkreditierten Gäste wiederholt zu Umtrunk und Beköstigungen, organisiert eine Stadtrundfahrt und kulminiert in einer Bootfahrt zwischen den Kontinenten. Wer einmal hier war, wird schwer davon lassen können.