05.07.2012

Die 48. Mostra inter­na­zio­nale del Nuovo Cinema in Pesaro 2012

COMME UN UOMO SULLA TERRA
Schockierend: COMME UN UOMO SULLA TERRA

Das italienische Festival an der Adriaküste hält seinen hohen Stil

Von Dieter Wieczorek

Das auch als „Pesaro Film Festival“ bekannte jährliche Filmer­eignis im Juni steht nicht nur in Italien für ein ausge­spro­chen kritisch orien­tiertes und politisch sensibles Festival. Mit Ober­hausen zu verglei­chen leistete das Festival seit den Zeiten des Kalten Krieges Pionier­ar­beit bei der Präsen­ta­tion von Schlüs­sel­werken aus Zonen hinter dem „Eisernen Vorhang“. In den 80ger Jahren kumu­lierte diese Tendenz in einer großen Werkschau des sowje­ti­schen Films. Bis heute sind in Pesaro Filme aus dem Osten und Südosten Europas nicht wegzu­denken. Gleich­zeitig gibt das Festival der Präsen­ta­tion von Buch­ver­öf­fent­li­chungen zur Film­ge­schichte ebenso Raum wie der Begegnung mit aktuellen Filme­ma­chern.

Neben dem im Stadt­zen­trum gelegenen Teatro Speri­men­tale, Haupt­spielort des Festivals, sind die nächt­li­chen Projek­tionen auf dem benach­barten zentralen Platz Pesaros der Haupt­an­zie­hungsort. Hier ist es dem Festival unter der Leitung Giovanni Spagn­o­lettis hoch anzu­rechnen, dass weder Main­stream noch Unter­hal­tungs­kino gezeigt werden, sondern problem­ori­en­tierte und konfron­tie­rende Werke, wie – um nur ein Beispiel zu nennen – „Djeca“, das letzte Werk der aus Sarajevo stam­menden Aida Begic (*1976). In dessem Zentrum steht der Alltag eines eltern­losen Geschwis­ter­paares in einem ausein­an­der­drif­tenden, sozialen Gefüge.

Wenn auf dem grossen Platz die Lichter ausgehen, beginnen die mitternächt­li­chen Projek­tionen in dem gleich um die Ecke liegenden Palazzo Gradari, wo unter anderem das aus Paris kommende, an einem „Cinéma de Diffe­rence“ orien­tierte, inno­va­tive Audio­vi­sua­lität und Konfron­ta­tion mit welt­weiten – vorwie­gend proble­ma­ti­schen – gesell­schaft­li­chen Trans­for­ma­tionen zusammen bringende Inter­na­tio­nale Festival Signes de Nuit zu Gast war.

Ange­sichts der ange­spannten mate­ri­ellen Situation hat die Festi­val­lei­tung auch in diesem Jahr eine über­zeu­gende Lösung gefunden. Als besondere Programm­blöcke wurde das aktuelle doku­men­ta­ri­sche Film­schaffen in Italien und eine große Werkschau, die frühesten Kurzfilme einge­schlossen, Nanni Morettis geboten, der die Einladung auch mit seiner Präsenz ehrte. Für all dieje­nigen, die Morettis origi­nellen, fragilen und selbst­re­fle­xiven Stil mit „Caro Diario“ (1993) entdeckten, ist die Konfron­ta­tion mit seinen früheren Werken besonders aufschluss­reich, da bereits hier sich sein spezi­fi­scher Stil formte und zu Filmen mit noch weit unge­zü­gel­terer Kommen­tar­lust führte. Daneben stehen Werke, die sein Bewusst­sein einer tragi­schen Konstel­la­tion heutiger Existenz in west­li­chen Gesell­schafts­formen zum Ausdruck bringen. Als Beispiel sei nur „La Messa è finita“ (1985) genant, wo ein junger Priester seine eigene, zur Abtrei­bung driftende Schwester nicht vor der Selbst­ver­let­zung abhalten kann und von seinem mit einer weit jüngeren Frau fremd­ge­henden, sein Recht als Glück­su­cher und -stifter einklagt Vater um Rat gefragt wird, während sich seine Mutter wortlos umbringt. Die gegen­wär­tigen Formen der Glücks­suche und ihrer Inter­pre­ta­tion zeigt Moretti in einem ambi­va­lenten, egozen­tri­schen Licht, da sie vor allem zur Desin­te­gra­tion von Lebens­ge­mein­schaften führen. Der Glücks­an­spruch erscheint hier als Verschul­dung ohne Schuld­be­wusst­sein und ohne Alter­na­tive, ohne dass jemals ein mora­li­sie­render Ton ange­schlagen wird. Stets orien­tiert an signi­fi­kanten Orten gesell­schaft­li­cher Trans­for­ma­tion zeichnet Moretti beispiels­weise die Versamm­lung der sich neu ausrichten wollenden kommu­nis­ti­schen Partei auf, in der vor allem Selbst­kritik und Trau­er­ar­beit geleistet wird; sich jeden Kommen­tars enthal­tend (Palom­bella rossa, 1989).

Unter den italie­ni­schen Doku­men­tar­filmen besonders hervor­zu­heben sind vor allem dieje­nigen, die den Akten zivilen Unge­hor­sams gegen eine korrupte Admi­nis­tra­tion nachgehen. In „Ju Tarramutu“ (2010) Paulo Pisanelli wird der Aufstand der nach einem Erdbeben aus ihrer Stadt Aquila vertrie­benen, in Baracken oder anonymen Neubauten unter­ge­brachten Anwohner doku­men­tiert. Als Barri­ka­den­bre­cher dringen sie nach ein Jahr des Wartens auf Einlösung politisch stra­te­gi­scher Verspre­chungen des Berlus­coni Regimes in ihre eigene Stadt ein, in der die Aufräum­ar­beiten noch nicht einmal begonnen hatten. Sie machen sich eigen­s­tändig ans Werk der Abfall­be­sei­ti­gung und der Wieder­er­obe­rung ihres Leben­sortes. Ein neues Gemein­schafts­ge­fühl entstand.

In „Palazzo delle Aquile“ (2011) Stefano Savonas, Alessia Portos und Ester Sparatore besetzen 18 obdachlos gewordene Familien über Monate hinweg das Bürger­meis­teramt Palermos und klagten den Abzug aus den Räumen nur gegen eine erneute Einquar­tie­rung ein. Das Filmteam war stets präsent, um die internen Prozesse und Konflikte dieser an ihrem Recht auf Wohnraum fest­hal­tenden Gruppe aufzu­zeichnen, zwischen Unnach­gie­big­keit und Kompro­miss­be­reit­schaft, zwischen anonymer Admi­nis­tra­tion und perso­naler extremer Notdürf­tig­keit.

In eher medi­ta­tiver Form folgen Milo Adamio und Luca Scivo­letto in „A Nord Est“ (2010) dem Pfad zwischen Venedig und dem Garder See, um den land­schaft­li­chen und sozialen Verfall als Resultat einer desolaten, kurz­sichtig profit­ori­en­tierten Politik zu exem­pli­fi­zieren. In wenigen Jahr­zehnten sind hier land­schaft­liche Paradiese zu Zonen der Ö ko-Kata­trophe herun­ter­ge­wirt­schaftet worden, zu verwahr­losten und verlas­senen Nullorten.

In einem eher enig­ma­ti­schen Stil kommen Felice d’Agostino und Arturo Lavorato auf ein verges­senes Detail­faktum zurück: die nieder­ge­schla­gene Rebellion 1971 in Reggio Calabria. In „In Attesa dell’Avvento“ (2011) werden Archiv­ma­te­rial und nicht ohne Pathos insze­nierte Szenen in eine fremd­ar­tige Inter­fe­renz gebracht. Das Werk ü berzeugte die Jury der Orizzonti-Sektion des Festivals in Venedig im letzten Jahr, die hier ihren Haupt­preis vergab.

In „Thys­sen­krupp Blues“ (2008) kommen Pietro Balla und Monica Repetto im ersten Teil auf die Kata­strophe in Turins Fabrik­halle zurück, bei der aufgrund mangelnder Sicher­heits­vor­rich­tungen mehrere Arbeiter ums Leben kamen. Im zweiten Teil entwi­ckelt sich der Film zu einem exem­pla­ri­schen Porträt eines der Über­le­benden, zu einer Nach­zeich­nung einer von Einsam­keit und Zukunfts­un­si­cher­heit gekenn­zeich­neten Existenz modernen Skla­ven­tums, die wegen der jobbe­dingten anhal­tenden Abruf­be­reit­schaft in soziale Isolation und Desin­te­gra­tion abdriftet.

In „Come un uomo sulla terra“ (2008) folgen Andrea Egres, Dagmawi Yimers und Riccardo Biadenes der kaum wahr­ge­nom­mener Wirk­lich­keit aus dem Sudan in Richtung Italien flie­henden Emigranten. Die Nach­zeich­nung des Menschen­han­dels, der grund­losen, zuweilen sich über Jahre sich erstre­ckenden Inhaf­tie­rungen in Einrich­tungen ohne ein Minimum hygie­ni­scher oder medi­zi­ni­scher Versor­gung, bis hin zu purem Mord, dies alles nicht ohne Absprache mit italie­ni­scher Instanzen und dem Still­schweigen inter­na­tio­naler Orga­ni­sa­tionen ist viel­leicht der scho­ckie­rendste Beitrag dieser italie­ni­schen Doku­men­tar­film­werk­schau. Berlus­coni schloss einen Handels­ver­trag mit Gadaffi und vertraute diesem die Besei­ti­gung des Problems der anhal­tenden Flücht­lings­ströme nach Italien an, mit allen wohl mitbe­dachten und kalku­lierten Konse­quenzen, unter Still­schweigen auch der Welt­presse, ausge­nommen selbst­ver­s­tänd­lich Farbrizzio Gattis Groß­re­por­tage »Bilal«.

Nicht zuletzt bot das dies­jäh­rige Programm Pesaros eine Werkschau der Ober­hau­sener Kurz­film­tage, eine Wieder­auf­nahme der dies­jäh­rigen Retro­spek­tive am deutschen Ort. In vier Programmen wurde das Ober­hau­sener Manifest, von den Werken seiner Vorphase bis zu den Folgen gewürdigt.

Das Festival in Pesaro richtet zwei kleinere Programm­pausen während des Tages ein, die in den zwei Part­ner­schafts­re­stau­rants Möglich­keiten zu Austausch und Diskus­sion bieten. Spät in der Nacht, selbst nach den mitternächt­li­chen Programmen, trifft man sich, fast mit dem gesamten nicht unter den leich­testen Bedin­gungen arbei­tenden Mitar­bei­ter­team, noch einmal an einer Strandbar neben einer Skuptur Arnaldo Pomodoros.