19.07.2012

Zerbrech­lich­keiten

Martin Otters Vang Bong
Martin Otters Vang Bong
– bilderstarke Annäherung
an eine blinde Existenz

Randständige und Borderline-Existenzen auf dem Dokumentarfilmfestival »Vision du Réel« in Nyon

Von Dieter Wieczorek

Nicht die unwich­tigste Funktion von Doku­men­tar­fes­ti­vals ist die Schaffung einer Sensi­bi­lität: für Minder­heiten und für alles, was die Welt ins Abseits drängt. Der Doku­men­tar­film vermag, für die Zerbrech­lich­keit der Existenz, an Beispielen von Einzel­schick­salen, zu sensi­bi­li­sieren und den für eine humane Kultur entschei­denden Schritt von der Anony­mität in die Öffent­lich­keit zu leisten.

Als das US-ameri­ka­ni­sche Eltern­paar von der Xeroderma pigmen­tosum-Erkran­kung ihrer Tochter erfahren, hören sie zum ersten Mal von dieser extrem seltenen Haut­krank­heit, die die Betrof­fenen zwingt, jedes Tages­licht, wie auch starkes Kunst­licht, für immer zu meiden. Doch statt sich von der tragi­schen Situation emotional aus der Bahn werfen zu lassen, entscheidet das Paar, ihre Farm am Stadtrand von New York zu einem Raum umzu­ge­stalten, der auch anderen betrof­fenen Kindern einen Ort voller Abenteuer und sinn­li­cher Erleb­nisse offeriert. Carlo Shalom Hinter­mann doku­men­tiert in der italie­ni­schen Produk­tion The Dark Side of the Sun diese Kinder und ihre stets besorgten Eltern, zeigt die kleinen Glücks­mo­mente dieser fragilen Exis­tenzen, wie auch die nur hier möglichen Augen­blicke der Gemein­sam­keit und Freund­schaft in ihrer ansonsten unun­ter­bro­chenen Isolation. Hinter­mann reichert den rein doku­men­ta­ri­schen Teil mit Sequenzen eines Anima­ti­ons­films an, der in Form einer mythi­schen Fabel mit Feen und Prinzen den Kindern ihr schwie­riges Los in phan­tas­ti­scher Weise erzählt und ihnen auf diese Weise einen sinn­vollen Ort im Leben einzu­nehmen erlaubt. Gewiss hätte man sich in Hinter­manns Film ein Wort mehr über das finan­ziell wohl aufwen­dige Projekt und seine öffent­liche Zugäng­lich­keit gewünscht, in einem Land, dass sich nicht gerade durch medi­zi­ni­sche Versor­gung für jedermann profi­liert. So bleibt der Film ein gelun­genes Beispiel einer gross­zügigen und beein­dru­ckenden Initia­tive.

Der Viet­na­mese Thanh Nguyen erblin­dete bei einem Angriff der Ameri­kaner. In völlige Verarmung gedrängt, schlägt er sich in der auch in Nach­kriegs­zeit anhal­tenden Hunger­zeiten mit seiner Tochter als Bettler durch Land, entdeckt dann seine Fähigkeit, ganze Texte zu memo­rieren. Zur eigenen Schrift findet er in einer nächsten Etappe, und als Lehrer gelingt es ihm nach den entbeh­rungs­rei­chen Jahren, seine eigene Existenz wie die seiner Familie zu sichern. Martin Otter (Deutsch­land) porträ­tiert in Vang Bong zugleich Nguyens Tochter und Ehefrau, wie der Erblin­dete selbst zwei außer­ge­wöhn­lich starke, in sich selbst ruhende Figuren. In reinen Schwarz-Weiss Sequenzen fängt er in bewusst unscharfen Bildern und Nahauf­nahmen eine traum­hafte Land­schaft ein, die Orien­tie­rungs­lo­sig­keit und Nähe zugleich signa­li­siert, ein fragiles Gleich­ge­wicht zwischen Sehen und Blindheit. Noch einmal passieren alle Betei­ligten ihre Erin­ne­rungen und kommen­tieren sie aus heutiger Sicht. Über die konkrete Doku­men­ta­tion der Einzel­schick­sale hinaus schafft Otter eine Metapher des Über­le­bens trotz allem.

Im über Jahr­zehnte anhal­tenden krie­ge­ri­schen Chaos Libanons versucht Rami Nihawi in seinem Film Yamo das Leben seiner eher schweig­samen Mutter Nawam zu rekon­stru­ieren, in immer wieder neu anset­zenden Versuchen des Dialogs, der auch ihre privaten Momente, ihre Wünsche und Ängste einzu­fangen versuchen. In der politisch-sozialen Umbebung gebro­chener Iden­ti­täten und stets sich wandelnder ideo­lo­gi­scher Iden­ti­fi­ka­ti­ons­an­ge­bote verqui­cken sich leichthin Erin­ne­rung und Phantasie. Nihami will das komplexe und ambi­va­lente Geflecht der Wirk­lich­keits­wahr­neh­mung zu einer relativen Klarheit dechif­frieren, nicht zuletzt, um sich selbst besser zu verstehen. Die Doku­men­tar­film­form als Selbstori­en­tie­rung und Erfassung der Einzel-Existenz findet hier einen gelungen Ausdruck.

Das Porträts des Aussen­sei­ters Mattijs in Marc Schmidts De Regels van Matthijs ist einer der stärksten Beiträge des Wett­be­werb­pro­gramms in Nyon. Dem unter einer elabo­rierten Autis­mus­form wie unter para­no­iden Schüben leidenden jungen Mann ist Marc Schmidt bereits in seiner eigenen Schule begegnet. Dies erlaubt ihm einen fast exklu­siven Zugang zu einem Menschen, der unfähig zu Empathie oder Intuition ist, und der sein eigenes Überleben jeden Tag aufs Neue erkämpfen muss durch perma­nente Analyse und Über­prü­fung aller ihm zur Verfügung stehenden Infor­ma­tionen. Darunter leidend, nicht zu wissen, was seine Dialog­partner wirklich denken und empfinden, ist sein Leben einem unaus­ge­setzten Kontroll­zwang unter­worfen, der in unver­meid­li­chen Momenten des Versagens zu Aggres­si­ons­schüben führt. Selbst­mord ist eine Möglich­keit, die für Matthijs jederzeit mitbe­dacht wird.

Auf der anderen Seite, in besseren Momenten, ist Mattijs ein Mann, der lacht und fast schel­misch wirkt, der sich über seine eigenen Grenzen in luziden Momenten im Klaren ist und sich zeitweise auch ohne Ängste in seinem Kontext einzu­ordnen vermag. Schmidt gelingt es, sein sehr komplexes Porträt zu zeichnen, nicht zuletzt, da Matthijs ihm vertraut, da er ihm vertrauter scheint, als andere, seine Emotionen für ihn lesbarer scheinen, selbst ohne Kommu­ni­ka­tion. Einen Einspruchs­ver­trag will Matthijs jedoch und zugleich zu Anfang der Dreh­zeiten. Seine Existenz verkom­pli­ziert sich, da er seinen eigenen Wohnraum, für ihn lebens­not­wen­diger Schutz­raum in einer über­kom­plexen Realität, ständigen Verän­de­rungen und Eingriffen unter­wirft, die schliess­lich selbst die Außen­mauern einbe­ziehen. Die juris­ti­sche Konfron­ta­tion ist unver­meid­lich und berührt seine fragile Existenz entscheiden. In seinem Film wollte Schmidt vor allem einen schwie­rigen Freund in Erin­ne­rung behalten und anderen vorstellen. Und zwei­fellos prägt sich der einzig­ar­tige Matthijs, dem Schmidt auch Gele­gen­heit gibt, seine Philo­so­phie zu entwi­ckeln, den Zuschauern tief ein.