Schwarze Nacht im Kino |
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Fipresci-Preisträger: Der russische Film Die Tochter (Dotch) |
Von Dieter Wieczorek
Das 16. Tallinn Black Nights Film Festival vom 12.-28.November (um diese Zeit beginnt die Nacht gegen 16:16 Uhr) bietet ein breites Programm von Wettbewerbs- und Nebenreihen, beginnend mit dem »Eurasia« betitelten Hauptwettbewerb, gefolgt vom Wettbewerb des estländischen Films, dem »Tridens Herring«-Wettbewerb, in dem baltische und nordeuropäische Werke (Deutschland eingeschlossen) gezeigt werden, dem »North American Indies«-Wettbewerb, der »Menschenrechtsektion«, »Nordic Lights«, »Forum« und »Panorama«-Programmen, neben anderen nationalen und themenspezifischen. Darüber hinaus integriert das »Black Nights«-Festival in den ersten Spieltagen ein eigenständiges Kurz- und Studentenfilmfestival, auch bekannt unter dem Titel »Sleepwalkers«. Hier werden neben den internationale Programmen vor allem estländische und baltische Filme gezeigt, neben Filmen der aufstrebenden »Baltic Film- und Mediaschool« in Tallinn. Des Weiteren ins Programm integriert finden sich ein Animations- und ein Kinderfilmfestival, sowie ein an Bedeutung gewinnender Filmmarkt, der während der Schlusstage der sechzehn Tage umfassenden Gesamtspielzeit des Festivals stattfindet.
Hervorzuheben im internationalen Wettbewerb ist das auch mit dem Hauptpreis gekürte ukrainische Werk House with a Turret von Eva Neymann. Dieses in Schwarzweiß gehaltene Film offeriert in raren Intensität ein intensives Spektrum der Einsamkeit, nicht allein des Hauptdarstellers, ein Achtjähriger, der sich durch verschneite Wintertage in Kriegszeiten auf den Weg zu seinem Großvater macht, nachdem er seine an Typhus erkrankte Mutter in einem Provinzkrankenhaus verlor, sondern auch all der Verstörten, Verlorenen und Verarmten, denen er auf seinem Weg begegnet. Die Kamera folgt seinem naiven, ungeschützten Blick auf die harsche Wirklichkeit. Nur in seinen Träumen findet er ein wenig Frieden und Glück. Diese kleinen Passagen des Entrinnens in poetischer Sensibilität, allem Desaster zum Trotz, einzufangen ist eine weitere besondere Qualität Neymanns Film.
Durchaus ausserergewöhnlich ist auch Wadjda, Erstlingswerk der Filmemacherin Haifaa Al-Mansour und zugleich erster komplett in Saudi-Arabien realisierter und finalisierter Film. Al-Mansour porträtiert, oft mit versteckter Kamera, eine selbstbewusste, rebellische Zwölfjährige in hypokriter Umgebung, strukturiert durch den gesamten Alltag überziehenden Regeln, unter strenger Aufsicht gehalten von ihrer Mutter wie der Lehrerin. Allen Widerständen zum Trotz sucht sie ihren Weg zu ein wenig Freiheit und Souveränität, nie ihren Traum aufgebend, ein Fahrrad zu haben, Symbol der weiblichen Auflehnung gegen stereotype Erziehung und geschlechtsbezogenes Rollenverhalten. Um ihr Ziel zu erreichen, lernt sie selbst Passagen des Korans auswendig, da hier ein Preisgeld zu gewinnen ist. Sie entpuppt sich als talentierter als all ihre dümpelnden, devoten Mitschülerinnen. Mit feinem Humor, Polemik und Pathos meidend, bietet Al-Mansour einen intensiven Blick in eine Gesellschaft in langsamer Transformation hin zur Respektierung von Individualität und Anerkenntnis des Rechts auf Selbstbestimmung.
Der dritte beeindruckende Wettbewerbsbeitrag kam aus Griechenland. Boy Eating the Bird’s Food von Ektoras Lygizos taucht tief ein in die verwirrten Wahrnehmungen und unstabilen psychotischen Verhaltensweisen eines jungen Mannes. Die Close-up-Einstellungen erlauben dem Zuschauer weder Übersicht noch Distanznahme, positionieren ihn dagegen in der gleichen klaustrophoben Position, in der auch der Protagonist sich befindet. In pausenlosen schnellen und unkontrollierten Bewegungen, einer durch Nahrungsmangel verursachten Trance, kostet und verschlingt dieser alles, was sich in seiner unmittelbaren Umgebung befindet, eingeschlossen das Futter seiner beiden Vögel, die einzigen Wesen nebenbei, für die er wirklich sich sorgt. Dieser Hypernervöse folgt hilflos einer jungen Frau durch die Strassen und Korridore, die den Zuschauer in eine ebenso nervöse Erwartungshaltung versetzen. Lygios schafft eine missbehagliche ansteigende Spannung. Die beschleunigte Desorientierung eines verwirrten Geistes lassen Darren Aronofskys Requiem for a Dream anklingen.
Der deutsche Beitrag, Margarethe von Trottas Hannah Arendt verschenkt leider das bedeutsame Thema der Konfrontation mit der administrativen Banalität des »Bösen«, die während des Eichmann-Prozesses in Israel für Arendt zur schockhaften Evidenz wurde, da ihr Film sich auf die sentimentalen Aspekte Arendts privater Umgebung konzentriert, den in die Vereinigten Staaten emigrierten Intellektuellen, wie auch ihren israelischen Freunde, nicht zu vergessen Heidegger, der in einer Rückblende vor ihr als junger Studentin kniend um Liebe bettelt. All diese Figuren sind tendenziell porträtiert als eine Schar hysterischer Jugendlicher zwischen Ressentiments und simpler Moralisierung. Auf der anderen Seite offeriert Trotta einige Minuten puren intellektuellen Genuss, den als Universitätsrede ins Bild gebrachte Meisterdiskurs Arendts zur Frage der Würde des Denkens. Diese Passage bleibt gewiss in Erinnerung.
Sowohl im »Eurasien« wie im estländischen Wettbewerkprogramm fiel Toomas Hussard Mushrooming auf durch seine satirische Behandlung der mentalen und moralischen Degradation eines hochrangigen Politikers und eines Rockstars in kritischen, karriereschädlichen Situationen. Zweifellos gewinnt das Thema an Aktualität angesichts der kürzlich eröffneten Korruptionsvorwürfen hochsituierter Politiker in Estland. Auf der anderen Seite zeigt Hussard in beeindruckender Luzidität die massenmediale Manipulation der Fakten durch groteske Rhetorik und sentimentale Strategien. Ebenfalls bemerkenswert in der estländischen Sektion war Ain Mäeots Film Demons, auf den ersten Blick eine Studie zur Spielermentalität, auf den zweiten ein transparenter Kommentar zur Konfrontation der Naiven mit den falschen Versprechungen einer Konsumgesellschaft, die für all diejenigen strikt in die Katastrophe führt, die nicht gerüstet sind für ihre Spiele und Risiken.
Im »Tridens Herring«-Wettbewerb, der nordeuropäische und baltische Filmproduktionen zusammen schließt, fand der deutscher Beitrag Jan Ole Gersters Oh Boy große Beachtung, der aufs Neue und beachtlich verdichtet eine bekannte Geschichte variiert: die Rat- und Lustlosigkeit eines jungen Mannes, Identität, Status oder gesellschaftliche Rolle anzuerkennen. Der Einladung seiner Freundin zu bleiben, lehnt er gleich zu Beginn des Filmes ab, sein Kontakt mit der Führerscheinordnungsbehörde konfrontiert ihm mit bürokratisch legitimierten sadistischen Ritualen ritueller Degradation, sein Vater, Karikatur eines erfolgreichen Geschäftemachers mit sadistischen Tendenzen, bietet ihm keine Perspektive, und selbst Begegnungen mit scheinbar freieren Menschen, wie mit einer Schauspielerin, die einst in ihn verliebt war, entpuppen sich auf den zweiten Blick nicht unproblematisch, da auch diese nicht frei sind von massiven Traumata und sich letztlich in hilfloser Selbstbehauptung verlieren. Der Mangel an einem akzeptierbaren und sinnerfüllten Lebensmodell kulminiert in Gersters auf Schwarzweiß reduzierter Filmsprache zu einer letzten Begegnung mit einem alten Einsamen in einer Berliner Kneipe, der sein Leben lang keinen Weg zu einem geselligen Leben gefunden hat und kurz darauf ohne jeden Verwandten in einem Krankenhaus stirbt. Für den Jungen wird der Alte zur Vision seines eigenen Lebens, tun sich ihm nicht noch neue Wege auf. Gersten betont, einen sehr subjektiven, auf eigenen Erfahrungen aufruhenden Film gemacht zu haben, entgegen der Verlockung, und ein Erfolg versprechendes Skript zu verfilmen. Der tatsächliche Erfolg seines Filmes in Deutschland, besonders auch in Berlin, indiziert, dass das Verlangen nach persönlichen Filmsprachen angesichts zunehmender Skriptkontrolle nur umso größer wird.
Der zweite, aus dem Rahmen fallende Film der »Tridens Herring«-Sektion kam aus Russland. Aleksandr Kasatkins und Natalya Nazarovas Film Tochter taucht sensibel ein in die für Jugendliche No-Future signalisierende Welt einer russischen Provinzkleinstadt. Mangels Alternativen flüchten sie einerseits in die wohl kontrollierte Welt des leichten Sex und Drogenkonsums, andererseits sind sie konfrontiert mit orthodox religiösen Lebenswerten, die ihnen »Sünde« vorhalten. Die Filmemacher vervielfachen die Problematik auf Felder wie orthodoxe Wahnvorstellungen, die zur Selbststilisierung als Racheengel führen, die Problematik des Beichtgeheimnis selbst in extremen Situationen, der schnell aufkeimenden Lynchjustiz in geschlossenen Enklaven und Folterpraktiken der Polizei hinter geschlossenen Türen. In diesem von Gewalt geprägten Desaster gelingt es ihnen zugleich, die Geschichte einer scheuen und sanften Liebe zu gestalten, die nie aufgesetzt wirkt, nicht zuletzt aufgrund der überzeugenden schauspielerischen Leistung der jungen Akteure. Die Fipresci vergab ihren Preis an dieses vielschichtige und trotz des lokalspezifischen Zuschnitts überaus aktualitätsbezogenen Werkes: da-Gott-existiert-ist-alles-erlaubt.
Aus dem breit gefächerten »Panorama«-Programm sei nur ein Film zitiert, der ebenfalls seine Stärke durch die persönliche Betroffenheit der japanisch-koreanischen Filmemacherin Yang Yonghi gewinnt. Nach der japanischen Okkupation in Korea wurden den koreanischen Annektierten nie die Chance einer wirklichen Integration in die japanische Gesellschaft eröffnet. Sie bleiben stets ausgeschlossen von wirklichen Berufschancen. Als Konsequenz folgten einige von ihnen dem Ruf der Repatriierung (nach Nordkorea), was zur endgültigen Spaltung von Familien führte und sich in Folge als eine verhängnisvolle Illusion entpuppte. Vor ihrem aktuellen fiktionalen Film Our Homeland ging Yang dieser wenig bekannten, ihr eignes Familienschicksal spiegelnden Problematik, bereits in zwei vorhergehenden Dokumentarfilmen nach. Hier nutzt sie die Mittel der Dramaturgie, um dem Konflikt vor allem mit einer psychologischen Dimension zu bereichen, der Frage nach der Verantwortung für die Rücksendung nach Nordkorea, die die endgültige Spaltung der Familie einleitete.
Im gut ausgewählte »Human Right«-Programm soll hier nur an das wichtige Schweizer Werk Forbidden Voices von Barbara Miller erinnert werden, das drei Frauen in drei Ländern (Kuba – China – Irak) in ihrem täglichen Kampf für die fundamentalsten Freiheitsrechte und ein Überleben in Würde porträtiert. Ihnen gemeinsam ist, neue Kommunikationsformen wie Facebook zu nutzen, für sie die einzige Form eines effektiven Widerstandes, der ihnen den Ausbruch aus der Anonymität ermöglicht, in der sie stets Opfer geblieben wären.
Das Team des Black Night Festival betreut alle geladenen Gäste mit einer herzlichen Aufmerksamkeit, die es schwer machen, wieder von hier aufzubrechen, gewiss mit dem Wunsch, bald zurück zu kommen. Dies ist der richtige Ort, ihnen dafür zu danken. (Dieter Wieczorek war Mitglied der diesjährigen Fipresci-Jury.)