Abschied aus der Väterwelt |
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Marion Cotillard in Jacques Audiards Rust and Bone |
Eine Frau, die man leicht übersieht, und an der nur auffällt, dass sie taubstumm ist, wird plötzlich interessant, weil sie einer richtig anguckt. Da fühlt sie plötzlich ihre Attraktivität und in diesem Moment wird sie tatsächlich attraktiver für die Welt um sie herum. Ein Gangster, der nicht lesen kann. Ein grober Schläger, der sein Geld damit verdient, dass er für einen Immobilienhai die Schmutzarbeit macht, erinnert sich daran, dass er einst vor vielen Jahren ein begabter Pianist gewesen ist, und erweckt, halb aus unbewusstem Entschluss dieses verschüttete Talent wieder zum Leben. Der Takt des Klaviers wird zum Herzschlag des Kinos, doch immer bleiben die Faustschläge, zu denen diese zärtlichen Finger fähig sind, im Gedächtnis des Zuschauers präsent...
Es sind solche körperlichen Merkmale, die eher unscheinbaren Gesten und die kleinen Widersprüche, über die Jacques Audiard alles über seine Figuren erzählt.
Und es sind die großen Momente, die seine Filme ausmachen. Etwa dieser: Malik, die Hauptfigur von Audiards Gefängnisfilm Un prophète, ein Häftling, der für sechs Jahre in Haft sitzt, muss dort auf Druck der Knastmafia seinen ersten Mord begehen. Er muss ausgerechnet den einen töten, der nett zu ihm ist, den Freundlichen der ihm erklärt, warum er unbedingt Lesen lernen sollte. Er will das nicht tun. Aber der Druck auf ihm ist gewaltig, und alles Sträuben hilft nichts. Diese Mordszene ist eine der fürchterlichsten des Kinos, weil der Regisseur zeigt, wie schwer das ist, einen Menschen mit einer Rasierklinge zu töten, wie lang das dauert, weil er das Blut zeigt, das literweise ausläuft und den Dreck, diese ganze Materialität des Tötens, und weil er in diese Anstrengung auch den inneren Druck legt, der auf Malik lastet, weil der Zuschauer diesen Druck teilt, denn er weiß ja, dass Malik nur diese Chance hat, und will darum ja, dass der Mord gelingt, aber..., aber...
Oder die Szene, in der Carla, die Hauptfigur des von Hitchcock inspirierten Suspense-Thrillers Sur mes lèvres, eine taubstumme Büroangestellte, die abends oft das Kind ihrer alleinerziehenden Freundin hütet, während diese das Nachtleben genießt, mit dieser Freundin zusammentrifft. Noch bevor diese auch nur den Mund aufmacht, um von ihren neuesten erotischen Erfahrungen zu erzählen, wissen wir schon alles über sie. Wir wissen es, weil wir die Gesten sehen, mit denen sie sich bewegt, weil wir ihren Gesichtsausdruck sehen, als sie zum Sprechen ansetzt, und weil wir den Pullover sehen, den sie anhat.
Oder in Audiards neuestem Film, Rust and Bone (Original: De rouille et d’os, dt.: Der Geschmack von Rost und Knochen): Etwa nach 25 Minuten verweilt die Kamera erstmals eine Weile bei Stephanie, der zweiten Hauptfigur des Films. Die hübsche, keineswegs zerbrechlich wirkende junge Frau arbeitet in der Wal-Show eine Freizeitparks, und diese Minuten, in denen Audiard die Show zeigt, gehören zu den besten des ganzen Films: Man guckt einfach zu bei den Übungen, sieht die riesigen Tiere und ihre Kunststücke, sieht und spürt Stephanies geradezu zärtliches Verhältnis zu ihnen, spürt auch die Gefahr, die dabei immer in diesen „Killerwalen“ liegt. Es ist wirklich einfach nur großartig gemacht, wie hier die Gefahr angedeutet wird, wie wir hier untergründig ahnen was geschieht, bevor es geschieht und wie der Regisseur die Aufgabe meistert, dass es uns dann doch enorm schockiert, als plötzlich einer der Wale aus dem Bassin schießt, die Plattform auf der die Dresseure stehen, zerschmettert, und Stephanie plötzlich im Wasser schwimmt, und Blut darin...
Wenn man sich mit Jacques Audiard näher beschäftigt, ist man zunächst vor allem überrascht: Kaum zu glauben, dass dieser französische Regisseur, von dem man erst vor gut zehn Jahren zum ersten Mal wirklich aufmerksam wurde, als er mit seinem Film Sur mes lèvres in der »Panorama«-Sektion der Berlinale vertreten war, bereits Ende April 60 Jahre alt wurde. Noch überraschter ist man, wenn man ihm gar zum persönlichen Gespräch begegnet: Er sieht jünger aus, eher wie Ende 40, höchstens Anfang 50, hat eine helle, fast jugendlich klingende Stimme und bösartige Zungen würden jetzt wohl die Vermutung anstellen, dass das alles auch daran liegen könnte, dass er lange, vielleicht zu lange nicht mehr gewesen ist, als der Sohn. Der Sohn nämlich des berühmten Drehbuchautors Michel Audiard (1920-1985), der eine riesige Menge erfolgreicher Drehbücher schrieb, unter anderem ein gutes Dutzend erfolgreicher Starvehikel für Jean-Paul Belmondo. Zunächst wollte Jacques nichts mit dem Beruf seines Vaters zu tun haben und studierte Philosophie an der Sorbonne, und las neben den seinerzeit aktuellen Strukturalisten auch die Werke von Hegel. Später holte ihn das Filmgeschäft dann doch noch ein, und er arbeitete zunächst als Cutter und Regieassistent, und schrieb später dann Drehbücher. Sein erstes, das er gemeinsam mit dem Vater verfasste, wurde gleich ein moderner Klassiker: Das Auge von Claude Miller.
Das Kino sei kein mythischer, sondern ein sehr prosaischer Ort, das habe ihm sein Vater beigebracht, sagt Audiard – ganz im Gegensatz zu dem, was scheinbar seine Filme erzählen. Vierzehn Jahre und über zehn Drehbücher später führte Audiard 1994 dann zum ersten Mal Regie bei Regarde les hommes tomber (Wenn Männer fallen). Es folgten Un héros très discret und Sur mes lèvres, sein Durchbruch. Enorm viel Beifall gab es dann für Der wilde Schlag meines Herzens, ein Remake von James Tobacks Film Fingers aus dem Jahr 1978. Diesen Stoff hat er stark verändert. Es sollte, so erzählte Audiard seinerzeit in einem Interview, ihm selbst nahe stehen, »ein Leben führen, das ich irgendwie nachvollziehen kann«. Und abgesehen von dem großen Kontrast, den eine Figur in sich trägt, die gleichzeitig mit dem Knüppel arme Familien aus Wohnungen vertreibt, und im nächsten Moment dann eine Bach-Sonate spielt, über den Kontrast zwischen Schönheit und Hässlichkeit, zwischen einer schönen Vergangenheit und einer bösen Zukunft, den die Hauptfigur dann umdreht, und am Ende ein Impressario des bürgerlichen Musikbetriebs ist, der mit den Traumata seiner Vergangenheit zu kämpfen hat, kommt einem auch hier wieder das Verhältnis zwischen Vater und Sohn in den Sinn.
Solche Verhältnisse trifft man immer wieder in den letzten Filmen Audiards, sie sind offensichtlich sein Thema. Mal direkt, wie in »Der wilde Schlag meines Herzens« in dem der Sohn eine Art brutale Fürsorge für seinen Vater übernimmt, die auch über dessen Tod hinaus reicht, als er seine Ermordung an deren Drahtzieher rächt, Oder jetzt in Rust and Bone, in dem der Vater ziemlich alles, vor allem seine körperliche Gesundheit dafür riskiert, dass er dem Sohn ein besseres Leben verschafft, oder ihm auch ganz einfach das Leben rettet. Imaginärer, abgründiger findet man dieses Verhältnis in »Un Prophet«, in dem die Rolle des bösen Vaters von dem korsischen Paten Luciano besetzt ist, der im Gefängnis ein alttestamentarisch-brutales Regime führt.
Den zweiten Fixpunkt in Audiards Geschichten bildet die bürgerliche Gesellschaft, oder noch konkreter das bürgerliche Leben. Audiard zeigt oft Deklassierte, die am Ende in der Regel in die Gesellschaft zurückkehren. Fast ein bisschen zu schlicht und zu idyllisch ist dies gezeichnet: Das Flugticket nach Johannisburg, mit dem das Paar aus Sur mes lèvres aus der französischen Angestelltenwelt flieht, in der es sich kennenlernte. Der Betrieb der klassischen Musikkonzerte, in der das Paar aus Der wilde Schlag meines Herzens zum Schluss des Films lebt. Oder die Welt des Profiboxens und der Luxushotels, in der Rust and Bone endet.
In diesen Filmen erleben Audiards Figuren immer Lernprozesse; Audiard selbst spricht, das deutsche Wort verwendend, von »Bildungsroman«. Am Ende ihrer Reise, die sie durch Abgründe und Prüfungen führen wird, kehren diese Figuren gewissermaßen ins Leben zurück, sie verlassen die Welt, die ihnen ihre Väter hinterlassen haben – denn diese Väterwelt ist keine gute. Man muss sie verlassen, um sich zu resozialisieren. So müssen Stephanie und Ali beide lernen, was Liebe überhaupt ist, bevor sie sich lieben können: Sie hat Liebe nie erfahren, er kennt selbst die Worte dafür nicht.
Kino bei Audiard ist pysisch und direkt, eine Form der Weltbeziehung. Darum ist es auch überaus politisch, aber nie plakativ. »Ich mache Kino, kein Fernsehen«, antwortet Audiard hierzu so knapp wie klar. Kino sei eine realistische Kunst. Aber heute stehe es vor anderen Fragen, es brauche die Realität nicht mehr so nötig wie früher. »Das Kino von Renoir zeigt mir die Spätphase der Dritten Republik. Neorelaismus gibt mir eine Vorstellung von der italienischen Gesellschaft zwischen 1945 und 1960. Und der neue deutsche Film von einem guten Jahrzehnt Bundesrepublik. Kino wenn es gut ist, ist immer eine Quelle für Fakten.«
Wie wird man mit ähnlichem Blick einst Audiards Filme wiedersehen? Sind es die Welten der jungen Männer mit ihrer Grobheit und Tapsigkeit, aus der der es kein Entrinnen gibt? Oder der Pragmatismus der Frauen, ihre Handfestigkeit, mit der sie das Tier im Manne zu zähmen wissen – sie alle auf ihre Dompteusen und Versehrte: Eine Witwe, eine Taubstumme, eine Verkrüppelte, und eine, die als Chinesin kein Wirt Französisch spricht, aber auf dem Klavier jeden Misston hört.
Audiard ist wie gesagt eher ein Regisseur der kleinen Gesten. Des nervösen Zitterns, des Herzschlags. Aber dessen Pochen vergisst man nicht, sein Bild brennt sich ein ins Hirn des Betrachters. Seine Zukunft als Regisseur erscheint Audiard daher, jenseits aller Melancholie, völlig unklar. Denn kann man im Zeitalter digitaler Bildermalerei noch wie einst im Kino Wahrhaftigkeit finden? Die stärkste Inspiration findet er heute in Asien. »Aber warum? Weil das dortige Kino eine sehr exakte Form ist, über diese Gesellschaften und Menschen und Welten zu sprechen.«