14.03.2013

Aufstand in Bullerbü

Uus maailm
Fröhlicher Aufbruch in die Revolution:
Uus maailm

Die singen, die Esten! Und sind insgesamt ein eher fröhliches Volk – Die Estnische Filmtage in München gewähren Einblicke in die baltische Seele

Von Dunja Bialas

Estland, das nörd­lichste Land des Baltikums, wurde bekannt durch seine »Singende Revo­lu­tion«. Weit­ge­hend friedlich, durch die Kraft seiner Lieder, schaffte das kleine Land 1990 die Unab­hän­gig­keit von der großen Sowjet­union.
Von außen betrachtet – und sicher­lich der Stereo­typie verfal­lend – charak­te­ri­siert genau dies das estnische Volk: Große Ideen und ein unbe­dingter Wille paaren sich in ihm mit einer Leich­tig­keit, die die Esten wie der lachende Gegen­ent­wurf zu ihren schwer­mü­tigen Nachbarn, den Finnen, erscheinen lassen. Viel­leicht ist es der Kleinheit des Landes geschuldet und diesem durchaus benei­dens­wertem Frohsinn, dass man hier­zu­lande so wenig über die Esten weiß. Obwohl in dem Land, das kaum mehr Einwohner zählt als die baye­ri­sche Landes­haupt­stadt, eine starke deutsch-baltische Gemeinde regen Kontakt zu Deutsch­land hält.

Um dies zu ändern und die estnische Kultur den Mia-san-mia-Münchnern nahe­zu­bringen, finden dieses Jahr zum zweiten Mal die Estni­schen Filmtage statt. Vor zwei Jahren, im Grün­dungs­jahr der Filmtage, war Tallinn gerade europäi­sche Kultur­haupt­stadt; dieses Jahr gilt es, 100 Jahre estni­schen Film zu feiern.

Eröffnet wird, um direkt in die aufmüpfig-heitere Seele der Landes­ge­nossen hinzu­führen, mit dem Doku­men­tar­film New World – Uus maailm von Jaan Tootsen. »New World« heißt ein Stadtteil in Tallinn, der im Krieg weitest­ge­hend zerbombt wurde und später im Stalin-Stil wieder errichtet wurde. Dennoch gibt es noch etliche kleine, typisch estnische Holz­häuser in dem Viertel, was ihm einen kleinen Anflug von Bullerbü verleiht. »Mehr von diesem Bullerbü« mag sich eine Gruppe von Akti­visten gedacht haben, als sie mittels pfiffiger Sabotage versuchten, ihren Stadtteil autofrei zu machen. In nächt­li­chen Hein­zel­männ­chen-Aktionen malten sie Zebra­streifen auf die Straßen, blockierten Park­plätze und feierten verschwö­re­ri­sche Partys. Vier Jahre dauerten ihre – realen! – Aktionen, vier Jahre lang rieben sie sich an der starren Büro­kratie und setzten sich konser­va­tiven Nachbarn aus, die in ihnen pauschal durch­ge­knallte Hippies sahen. Ob ihre Aktionen zum Erfolg wurden, ähnlich der »Singenden Revo­lu­tion«, kann an diesem Donnerstag um 19:30 Uhr im Vortrags­saal der Biblio­thek im Münchner Gasteig gesehen werden, wenn die Estni­schen Filmtage eröffnet werden.

Wie von den Dämonen von Dosto­je­wski heim­ge­sucht, blicken die Spiel­süch­tigen in Deemonid (Demons) in die Abgründe der eigenen Seele. Ange­trieben von der Gier nach dem Geld und der Sucht, sich mit aber­wit­zigen Konsum­gü­tern auszu­statten, verhed­dern sie sich immer mehr in einem Netz von Lügen und persön­li­chem Chaos. Und wo die Finnen in schwer­mü­tigen Seelen­still­stand verfallen würden, versprühen die Esten immer noch rasante Fröh­lich­keit. Eine tragi­ko­mi­sche Geschichte.

Ein Geheimnis des estni­schen Frohsinns, folgt man der Doku­men­ta­tion The Kaplinski System, liegt in der Hingabe zum Einfachen, nicht zum Kompli­zierten, und in der Hinnahme der ewigen Wieder­kehr des Alltags als etwas schlicht Gegebenes, das einem zwar die Exis­tenz­frage stellt, die aber bejahend ange­nommen wird. »Sauber­ma­chen ist niemals zu Ende / Der Ofen ist niemals heiß genug / Bücher werden nie ausge­lesen / Das Leben ist niemals vollendet« heißt es bei Jaan Kaplinski, einer der wich­tigsten estni­schen Schrift­steller. In der unberührten Natur in Südest­land erlebt er in den einfachen Dingen und simplen Alltags­tä­tig­keiten eine tief­ge­hende Spiri­tua­lität.

Nicht nur während der »Singenden Revo­lu­tion«, auch im Alltag und in den Familien gehören Lieder einfach dazu. Der poetische Doku­men­tar­film Regilaul – laulud õhust (Regilaul – Lieder aus der Luft) nimmt sich der hohen estni­schen Gesangs­kultur an: Sie ist stark und monoton, scheint direkt aus den Sphären der Luft zu kommen und ist maßgeb­lich für die estnische Identität, die mit ihren Liedern ihre Ängste und Sorgen beinahe alchi­mis­tisch in Mut und Hoffnung verwan­deln.

Estnische Filmtage München. 14.-17. März 2013, Gasteig, München. Alle Vorfüh­rungen im Vortrags­saal der Bibiothek.

Gefördert durch das Kultur­re­ferat der Landes­haupt­stadt München.